von Samuel Hamen
Der Wunsch ist klipp und klar: sich zu versichern, der „Käpt’n“ der eigenen Seele zu sein. In ihrem Romandebüt schickt Sophie Stein hierfür eine Studentin namens Aziza für ein Auslandsjahr nach Nivaria. Bereits hier wird klar, dass Amanecer ein Buch der Überschreitung sein möchte: Nivaria ist der historische Name für Teneriffa, der seit Jahrhunderten außer Gebrauch ist. Mit dem Flugzeug auf Nivaria zu landen ist also vor allem eins: ein Statement, dass sich Zeiten und Orte ineinanderschieben lassen.
Auf der Insel lernt Aziza über ihre WG einige junge Leute kennen. Während einer gemeinsamen Wanderung sprechen sie über Baumwesen und Geister. Bevor Aziza (und mit ihr der Leser) sich vorsehen kann, wird sie den Guanchamánes vorgestellt, einer Gesellschaft, die sich der „Pflanzenkunde“ und „Mythenlehre“ verschrieben hat. Ihr Ziel? „Eine Art universelle Suche nach Sinn und Spiritualität.“ Die Rede ist von der Natur der Dinge und den Dingen der Natur, unterfüttert von einer Entfremdungsdiagnose, wie auch Anti-Moderne sie gerne aufstellen: Wir leben im Hier und Jetzt das flache, das falsche Leben. Dabei liegt die wahre Erkenntnis doch, so die Guanchamánes, in der Natur und im Traum, bestenfalls also: im Traum einer Vereinigung mit der Natur.
Das Wissen der Sekte
Für Aziza, die ob ihres Alters und ihres unsicheren Gemüts anfällig ist für solche existenzerweiternden Angebote, ist es auch ein Versprechen: Wenn sie erst eine tiefere Bewusstseinsstufe erreicht hat, kann sie sich, so ihre Hoffnung, mit dem Verschwinden ihrer Schwester ebenso auseinandersetzen wie mit dem Aufwachsen bei einer psychisch kranken Mutter. Es sind die Guanchamánes, die ihr die Möglichkeit an die Hand geben, sich zu emanzipieren: „Vermutlich hat ein Teil von mir immer damit gerechnet, dass etwas in der Art passieren würde. Hat sogar darauf gewartet, dass es passiert. Dieser Teil von mir empfindet nun eine gewisse Erleichterung. Denn er hat dem Schein der Welt nie getraut.“
Amanecer ist in vielerlei Hinsicht zeitgenössisch. Stein spürt dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur nach. Ihre Figuren und ihre Sprache geben sich dabei dem Reiz der „Mythenlehre“ hin, die auf einer binären Weltanschauung fußt, wie sie typisch ist für abgeschottete Communities: hier das Intensive, dort das Laue, hier das Wissen, dort das Know-How, hier die Nähe, dort die Distanz, hier das Leben, dort der Tod.
Dass die Gegenwart angeblich herabgewirtschaftet und tot ist, ist im Augenblick ein beliebter und je nach Deklinationsweise ziemlich konservativer Topos der Literatur. Die Diagnose taucht im ultraromantischen Manifest ebenso auf wie in den Debüts von Simon Strauß und Pascal Richmann. Stein ist sich dieser problematischen Konstellation durchaus bewusst. Dass der Traum, in den die Sekte in einem Labor versetzt wird, sich für einige als Albtraum erweist, in dem sich Grenzen zwischen Wachheit und Sedierung auflösen, das ist für die Autorin womöglich eine Art Absicherung, um darauf hinzuweisen, was passiert, wenn man sich einer Lehre dogmatisch hingibt: Es gibt keinen Ausweg mehr aus dem eigenen Kopf. Der letzte Satz von Amanecer markiert in dem Sinne das Ende einer solch gefährlichen Versenkung: „Wach auf.“
Ein Roman ohne kohärente Linie
Aber so richtig nehme ich dem Roman diese Ideologiekritik nicht ab, die wohl dazu dienen soll, die Rückbesinnung auf traditionelle lokale Wissenskulturen, wie die Guanchamánes sie betreiben, ex negativo zu legitimieren. Dafür ist Steins Sprache zu grandios, zu affirmativ vis-à-vis den Wundern des echten Lebens, die Aziza auf knapp zweihundert Seiten endlich erfahren darf: „Der Wal ist so nah, dass wir die Furchen und Seepocken auf seiner steingrauen Haut erkennen können. Ich blicke in sein geöffnetes Maul, größer als ich selbst, und auf das Hornplattendickicht, das sich darin zu einem außerirdischen Grinsen verzieht. In diesem Augenblick ist alle Düsternis aus meinem Innern fortgespült. Mein Herz ist ein sonnengewärmter Stein, der sich knackend ausdehnt.“
Bei alledem nimmt sich Stein, die Romanistik, Philosophie und Indologie studiert hat, etliche Freiheiten abseits des gängigen belletristischen Realismus – das ist eigentlich eine begrüßenswerte Abweichung vom Standard, gerade für eine Debütantin. Der Mimetismus, das heißt: das Konzept, durch eine möglichst getreue lineare Beschreibung der Welt als Text deren Erfahrbarkeit zu wiederholen, ist im derzeitigen Mischmasch aus Fiktionen, Semi-Fakes und Pseudo-Wahrheiten, eh an sein Ende gelangt. Mit seinen gestalterischen Mitteln kann er jedenfalls dem, was gerade im Flow der Medien und Wirklichkeiten abgeht, nicht gerecht werden. „Chaotisch, fragmentarisch, an- und abschwellend, zugleich unzusammenhängend und untrennbar verbunden, weigert sich dieser Roman, die Illusion einer kohärenten Linie zu erschaffen und das Chaos zu glätten.“ So schreibt die 1995 geborene Stein auf literaturkritik.de über António Lobo Antunes’ Roman Ich gehe wie ein Haus in Flammen. Damit hat sie ihr eigenes Programm eigentlich ziemlich gut umrissen.
Statt dann auch selbst gelungen anti-linear zu erzählen, verausgabt der Text sich in Bildern und Assoziationen. Was als Wildwuchsprosa gedacht ist, die abseits der abgetretenen Pfade nach allen Seiten hin ausschlägt, ist bei näherem Hinsehen vor allem dauerbenebelt in Anbetracht all der Adjektive und Metaphern, die sich aneinanderreihen lassen, um Azizas psychedelischer Wahrnehmung zu entsprechen. Durch die träumerische Entgrenzung, ein an sich interessantes Prinzip, um einen Text zu enthemmen, lässt sich in Amanecer sprachliche Hudelei so recht einfach als subjektivistische Opulenz ausgeben: „Die zarten Kämme der Dünung streichen luftig über den flachen Strand und lösen sich wie Kiemen schillernder Fische in Abendlicht auf. Ich muss mich mit dem Meer versöhnen, bevor ich gehe.“
Ein Insider-Text
Angetrieben wird Amanecer durch eine Ladung Naturphilosophie, ein wenig New-Age-Flair und ein bisschen Simulationstheorie, wie sie die Poststrukturalisten vor einigen Jahrzehnten vortrugen. Das führt aber nicht wirklich irgendwo hin, so interessant die Kombi auch ein mag, ergeben sich aus ihr doch dringliche Fragen danach, wie sich „terrestrisch leben“ (Bruno Latour) lässt, wie sich das Verhältnis des Menschen zur Erde neu denken und darstellen lässt. Aber vielleicht muss ein Roman, der sich der Immersion ins Naturhafte verschreibt, Tools wie Analyse, Selbst- und Diskurskritik größtenteils ausblenden, um an sein Ziel zu gelangen. In Amanecer gibt es jedenfalls keine überzeugende Instanz, die Natur-Kultur-Fantasien als das bezeichnet, was sie eben auch sein können: „unser kindisches Verlangen nach Rückkehr und Regress, der Zwang Raum und Zeit einzustülpen.“ (Eva Hayward)
Bis zuletzt fragte ich mich, zu welchem Zwecke denn nun alles dekonstruiert, mythisiert, verphilosophiert und renaturiert wird. Ist das ein ökologisches Manifest, gepaart mit einer Kritik in der Nachfolge der deutschen Romantik, die sich an einem Realismus stört, der es uns nicht erlaubt, die „wahren“ Probleme zu ahnen? Ist es ein feministisches Projekt, die „Geschichte der Vernunft“ (Hélène Cixous) hinter sich zu lassen, indem die Sprache intensiviert wird? („Ich bin vor seiner trübseligen Rationalität davongerannt, denn ich spreche diese Sprache nicht, ich fürchte mich vor ihrem dunklen Sog, in dem kein einziges Wort mehr seine ursprüngliche Bedeutung trägt, in dem ich mich nicht zurechtfinde.“) Oder ist es eine Abfuhr an jegliche Funktionalität – nichts als wuchernde Ästhetik, die vorführt, dass sich eine unbändige Welt nicht bändigen lässt, schon gar nicht in und durch Literatur?
Als Insider-Text, der er leider bis zum Schluss bleibt, kann sich Amencer dieser und anderer Fragen leichthin entledigen, indem er sich zuraunt, nach tieferen Regeln zu operieren – genau wie die Guanchamánes, die mehr wissen als der uneingeweihte Rest. Sicherlich kann man sich während des Lesens auch bedenkenlos der „Mythenlehre“ hingeben und dem Roman darüber zusätzliche Einsichten bzw. Genüsse abgewinnen. Aber jenen, die auch als Lesende Distanz als Gewinn, nicht als Verlust erachten, verwehrt Amanecer das, was er der Hauptfigur schenkt – die Möglichkeit einer Teilhabe: „Zurückgeblieben ist ein Gewirr aus kryptischen Symbolen, die mir nichts mehr sagen. Die Regenbogenzeichen haben aufgehört zu mir zu sprechen.“