von Lukas Doil
Piratin auf Zeit, Aushilfs-Vorstandsvorsitzende eines Großkonzerns, Hausgeist auf Abruf – Die namenlose Protagonistin von Hilary Leichters Debütroman ist eine Zeitarbeiterin. Als Angestellte einer Temporary Work Agency wird sie von Job zu Job verliehen. Die Agentur wird zum Ausgangspunkt einer fieberhaften Reise durch die Gig Economy, in der Arbeiter*innen wie Tagelöhner mal hier und mal da arbeiten. Die für die Protagonistin zuständige Personaldisponentin Farren hält eine schier endlose Reihe an offenen Stellen bereit, die eines ganz bestimmten Typus von Arbeit bedürfen: „filling in“. Dafür schlüpft die Protagonistin in Rollen, nimmt neue Identitäten an und führt penibel und wörtlich Arbeitsanweisungen durch – bis das „placement“ beendet ist und ein neuer Job wartet. Für einige „lucky temps“, so teilt sie zu Beginn mit, kündigen sich irgendwann Vorboten der „steadiness“ an, ein Schauer, eine schwitzige Erregung. Der Übergang in die ständige Beschäftigung ist die „hopeful lane“, die die temps an die Agentur bindet. Doch für manche temps erfüllt sich der Traum von Beständigkeit nicht: „they die, before digging in the footholds of life.”
Zur Gig Economy ist im letzten Jahrzehnt viel geschrieben worden. Lange bevor sich sogenannte Platform Jobs – Uber, Lieferando oder AirBnb – etablierten, haben Soziolog:innen und Ökonom:innen unter dem Stichwort “Flexibilisierung” den Arbeitswandel der letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts in den Blick genommen. Zur als “Normalarbeit” deklarierten “sicheren” Beschäftigung traten ab den 1970er Jahren im “Westen” zunehmend rechtlich de-regulierte, materiell schlechter gestellte und auf Mobilität und zeitliche Verfügbarkeit setzende “atypische” Arbeitsformen. Solche Anstellungen füllen selten eine gesamte Erwerbsbiografie, dauern oft nur wenige Jahre oder Monate. Kündigungsschutz oder gewerkschaftliche Bindungen werden zum Hindernis in globalen Konkurrenzlagen. Betriebliche Risiken und Zwänge – die anderen Seiten der Flexibilität – werden auf die Beschäftigten übertragen. Plattformökonomien, die für jede Art von Arbeitssuchenden einen Tagelohn per App versprechen, haben dieses Prinzip fast perfektioniert. Der digitale Kapitalismus der Gegenwart ist aber nur eine Wegmarke statt Ursache der tiefgreifenden Transformation von Arbeit. Dieser Erkenntnis trägt Hilary Leichter Rechnung, indem sie mit der Zeitarbeit eine kontroverse, aber weit verbreitete Arbeitsform in den Mittelpunkt rückt, während das Internet als Medium merklich absent bleibt.
Obwohl in der Erzählung weitestgehend eine diskrete Ort- und Zeitlosigkeit vorherrscht, sind so schnell Bezüge zum Spätkapitalismus amerikanischer Provenienz auszumachen. Die Agentur, die den Leser:innen als Domäne von gepuderten und manikürten Damen vorgestellt wird, persifliert Personalunternehmen wie Manpower Inc. oder Kelly Services. Jene hatten Zeitarbeit als Geschäftsmodell seit 1945 populär gemacht und dabei geschickt Regulierungen gegen private Arbeitsvermittlung aus der New Deal Ära umgangen. Leiharbeitnehmer:innen werden eben nicht vermittelt, sondern nur zeitlich begrenzt verliehen. Sie schließen keinen Arbeitsvertrag mit dem Entleiher und werden auch nicht von ihm bezahlt, müssen aber seinen Arbeitsanweisungen folgen. In den USA wie auch in Europa, wo die Zeitarbeitsbranche in den 1960er Jahren stark expandierte, lag der Schwerpunkt der von Kritikern als „moderner Menschenhandel“ geschmähten Arbeitsform zwar zahlenmäßig immer deutlich im Industriesektor. In Häfen und Stahlwerken verrichteten – und verrichten bis heute – Leihkolonnen prekäre und gesundheitsschädliche Schwerstarbeit. Dennoch gelang es der Branche die verpönte Leiharbeit als einen Beitrag zur Frauenemanzipation zu medialisierten. Die in den 1950er und 1960er Jahren stark präsente Werbeikone des Kelly Girl, eine Sekretärin auf Abruf, symbolisierte Professionalität, eine bürgerliche Geschlechterordnung und das Versprechen von Flexibilität – sowohl für die arbeitenden Subjekte als auch für den boomende Dienstleistungssektor. Wem diese Flexibilität in erster Linie zugutekam, daraus machte Kelly Services‘ entwaffnend ehrliche Werbung der 50er-Jahre im Übrigen keinen Hehl: When the workload drops, you drop her!
Als Chairman of the Board, Schaufensterpuppe oder Schuh-Sortiererin versucht die Namenlose ihr Glück, doch das Gefühl der Beständigkeit will sich nicht einstellen. Farren empfiehlt ihr einen Ortswechsel, schließlich warten Job-Gelegenheiten – und damit die potentielle Stetigkeit – in allen Gefilden. Auf einem Piratenschiff springt sie für eine Matrosin auf Landurlaub ein. Sie soll nicht nur vertreten. Sie nimmt den Namen „Darla“ an und wird von Pearl, Darlas bester Piratenfreundin, in das Piratenleben und ihr neues Ich initiiert und von ihr romantisch umgarnt. Nach einer Plünderfahrt kommt es zu einem Dilemma. Eine Gefangene behauptet, „the orginal Pearl“ zu sein, die „other Pearl“ habe sie nur vor Jahren vertreten und imitiert. Die Crew entscheidet sich gegen die Gefangene und Pearl triumphiert: „It’s the woman who finishes the job who gets the job done!“ „Darla“ täuscht die Hinrichtung der „alleged-original Pearl“ vor und gewinnt endlich die Akzeptanz der Crew. Doch gerade als sie davon träumt, die Beständigkeit auf dem Schiff zu finden, kehrt die richtige Darla zurück. Der Protagonistin wird klar, wie wenig sie und die eigentliche Darla gemein haben, und auch Pearl will von der Zeitarbeiterin nichts mehr wissen. Wie es die Piratentradition verlangt, wird sie über Bord geworfen.
Subjekt zwischen Verfügbarkeit und Charaktermaske
Die Protagonistin muss mit dem Versprechen der Flexibilität leben lernen. In Rückblenden erzählt sie von ihrer Kindheit und von der ersten Arbeit. Ihre Mutter bereitet sie, als sei es ihre Bestimmung, auf ein Leben als temp vor, denn sie kann auf eine lange Familientradition zurückblicken. Alle ihre weiblichen Vorfahren waren Zeitarbeiterinnen – ein „family tree of temporary lives“ –, doch die Beständigkeit blieb ihnen verwehrt. Väter gibt es in dieser flexiblen Dynastie nicht, es gibt nur „boyfriends“, und zwar mehr als ein Dutzend gleichzeitig. Wie ihre Mutter und Großmütter vor ihr lebt die Protagonistin in Polyandrie. Während der Odyssee durch die offenen Stellen bleibt sie emotional ungebunden und unverfügbar. Ihre vielen Partner, die sie anhand eines hervorstechenden Merkmals auseinanderhält („tall boyfriend“, „pacifist boyfriend“, „mall rat boyfriend“), warten brav auf ihre Rückkehr, ziehen im Verlauf der Handlung zusammen in ihr Appartement, werden beste Freunde und heiraten schließlich. Fast gewinnt man den Eindruck, hier sei die Gig Economy dystopisch zu Gig Relationships erweitert worden. Der Protagonistin bleibt nur Unbehagen, das sich einstellt, als sie am Telefon von dem neugefundenen Glück der boyfriends erfährt. Hilary Leichter gelingt es, die Geschlechtlichkeit von Arbeit und deren Funktion für die Identitätskonstruktionen der Arbeitenden offenzulegen. Denn auch ein Job als buchstäbliche Leihmutter endet für die Protagonistin nicht in beruflicher oder emotionaler Beständigkeit. Sie wird spontan von einem kleinen Jungen eingestellt, dessen Mutter von Piraten entführt wurde. Sie simuliert eine tradierte, wenn auch alleinerziehende Mutterrolle, liest Gutenachtgeschichten vor, schmiert Pausenbrote und schimpft. Doch gerade als sie beginnt, den neuen Arbeitsort als Zuhause und den Kunden als Sohn zu begreifen, entlässt er sie. Er sei nun groß und brauche keine Mutter mehr. Die feministisch anmutende Ungebundenheit, die zu Beginn ohne weiteres auch als Freiheit zu begrüßen gewesen wäre, wird für die Protagonistin zunehmend zur Zumutung.
Hilary Leichter evoziert in diesen Episoden oft das Bild der Maske, um den Wechsel zwischen Identitäten und Rollen zu unterstreichen. Auch das Cover der Paperback-Ausgabe zeigt eine Frau mit Maske und stoischer Mimik. Mit den Begriffen der Charaktermaske und der Personifikation beschrieb Karl Marx in seinem Spätwerk die soziale Form, in der Menschen einander in kapitalistischen Gesellschaften begegnen. Der „Charakter“ ist dabei nicht psychologisch auf das Individuum bezogen, sondern nur auf dessen Funktion in einer widersprüchlichen sozialen Welt. Als Personifikationen von Sachverhältnissen (als Verkäufer, Angestellte, Aktionärin, Kunde) individuieren sich Menschen entlang und gegenüber ökonomischen, sozialen und kulturellen Zwängen. Sie lernen aber auch, ihre Masken im sozialen Gefüge zu bejahen, strategisch einzusetzen oder zu problematisieren. Anders als etwa in feudalen Kontexten trennt sich das private vom ökonomischen Individuum, erst durch das öffentliche Leben und die durch den Arbeitsprozess vermittelte Vergesellschaftung kommt es zu Individualisierung. Die Maske verweist bei Marx also nicht auf eine eigentliche Persönlichkeit dahinter, die verborgen oder unterdrückt wird, sondern auf die soziale und historische Bedingtheit von Individualität. Bürgerliche Individuen stehen in diesem Sinne vor einem Dilemma, denn ihre Selbsterhaltung wird ihnen selbst überlassen, während die Bedingungen dafür weitestgehend außerhalb der persönlichen Kontrolle stehen. Das hat auch ethische Implikationen, denn die soziale Welt ist eben kein Produkt gemeinsamer und vernünftiger Entscheidungsfindung. Sind die Menschen hinter den Charaktermasken für die durch sie verdinglichten Interessen haftbar?
Beständigkeit statt Flexibilität?
Hilary Leichter fragt in Temporary nach den Folgen der Beschleunigung, Entgrenzung und schließlich Auflösung der Arbeit für das Individuum und die Gesellschaft. Mit den wechselnden Jobs zieht die Protagonistin auch immer neue Masken auf und wirft vorherige ab. Bald wird deutlich, dass die erhoffte Beständigkeit kein Weg zu ihr selbst, sondern überhaupt nur die Affirmation einer auf Dauer gestellten Normalarbeit ist.
Die Sozialisation in der Familie aus temps legt nahe: ein Dahinter ist für das zeitarbeitende Subjekt des Romans gar nicht mehr auszumachen. Wie unter solchen Bedingungen ein gutes Leben und eine ethische Gesellschaft vorstellbar sein soll, stellt Leichter sardonisch in Frage. Sie lässt die Protagonistin als Gehilfin eines Auftragsmörders jobben, doch der Auftrag scheitert, als sich das Opfer als alte Bekannte entpuppt. Die Namenlose weigert sich, die Tat zu verüben. Der Job ist damit gescheitert. Personalchefin Farren teilt am Telefon mit, dass die Protagonistin nun als „fugitive temp“ zu betrachten ist und deshalb über eine Agentur für besonders schwere Fälle in den Niederungen des Arbeitsmarktes reintegriert werden muss. Ihr folgendes placement entpuppt sich als Job in einem Luftschiff, das über einer nicht näher beschriebenen Gegend kreist und Bomben abwirft. Auch der Auftraggeber ist nicht bekannt, die Protagonistin mutmaßt, es könne sich wohl um ein Konglomerat verbündeter Staaten, einen bösen Milliardär oder einen Superschurken handeln. Da die auf dem Luftschiff beschäftigten temps per Knopfdruck die Bomben abwerfen, seien die Hintermänner und -frauen aber gar nicht völkerrechtlich verantwortlich:
„And since fugitive temps are hidden and without recourse, we technically don’t exist, at least not in the eyes of the law. […] no one can be held accountable and it’s maybe as if the bombs were released by none other than the wide and wondrous sky itself.”
Der Protagonistin wird klar, dass Befehlsgehorsam auch kein Weg zu sich selbst ist. Wieder entzieht sie sich einer unmoralischen Handlung und springt von Bord. Dank Fallschirm entkommt sie glimpflich, doch es regnet weiterhin Bomben. Verantwortung bleibt den Einzelnen überlassen, an den Strukturen ändert sich nichts.
Beim Lesen drängen sich bald die Inspirationen aus dem Werk des US-Soziologen Richard Sennett auf. Als dieser 1998 sein zeitdiagnostisches Buch „Der flexible Mensch“ (Original-Ausgabe.: „The Corrosion of Character“) veröffentlichte, hatte sich Flexibilität längst als Metapher und politökonomisches Projekt durchgesetzt. Seine Warnungen vor dem „flexiblen Kapitalismus“ zeichneten eine Arbeitswelt im Umbruch, die durch die fortschreitende Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, also der typischen Beschäftigung mit sozialer Sicherung, gewerkschaftlicher Vertretung und rechtlichem Schutz, bedroht ist. Dieses Modell von Arbeit hatte sich erst in den Boom-Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt und normativ etabliert, war also selbst in hohem Maße abhängig von historischen Kontexten wie der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges und dem Nachkriegswachstum und galt ohnehin nur für die wohlhabenden, nachkolonialen Industrienationen. Langfristigkeit steht für Richard Sennett stattdessen als Grundbedingung für die gelingende Ausbildung von moralischen Werten wie Solidarität und Verantwortung fest. Flexibilisierung gefährdet also die Persönlichkeit und den sozialen Zusammenhalt. Die Frage aber bleibt: Gibt es überhaupt einen Weg zurück – oder nach vorne – in gesicherte Beschäftigung für alle unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus?
Hilary Leichter setzt dieser Frage ein rätselhaftes und humorvolles Ende entgegen. Das Motiv der Beständigkeit wandelt sich und entpuppt sich schließlich gar nicht als Gegenwert zur Flexibilität, sondern als Chimäre. Statt einem guten Leben wartet eine Ewigkeit in Lohnarbeit, bis schließlich die Menschheit ausstirbt. Man taucht bei der Lektüre in eine surreale Welt ein, doch es kommt nicht zum Moment des Bewusstwerdens und der Verständigung. Spätestens als die Pointe der Geschichte erkennbar wird und klar ist, dass keine Vernunft herrscht, um an den Verhältnissen zu rütteln, befindet man sich wieder an der Oberfläche der Klassengesellschaft.
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