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Reparativ, relevant, riskant: Zur Zukunft der Literaturkritik

Lea Schneider und Sebastian Köthe im Gespräch mit Insa Wilke

Die jüngere Generation denkt, fühlt und lebt anders. Auch in der Literaturkritik. Der „Großkritiker“ ist kein role model mehr. Insa Wilke hat die Schriftstellerin und Übersetzerin Lea Schneider nach ihrem Blick auf gegenwärtige Literaturkritik gefragt. Sie wurde gerade mit einer Arbeit über Verletzbarkeit als literarische Kategorie promoviert. Außerdem dabei: Der Kulturwissenschaftler Sebastian Köthe, der zu Folter, Widerstand und Überleben und der Repräsentation dieser Komplexe in den Künsten forscht und Sandra Hetzls und Kerstin Wilschs deutsche Übersetzung von „Gedichte aus Guantánamo“ herausgegeben und durch ein umfassendes Nachwort ergänzt hat. Ein Buch, das 2007 in den USA Debatten auslöste. Auch hierzulande wählten die einen Kritiker*innen das Buch auf die SWR Bestenliste, während die anderen harsche Kritik übten und sich moralisch unter Druck gesetzt fühlten.

Insa Wilke: Sebastian Köthe, Sie sind Wissenschaftler. Standen für Sie Gefühle am Anfang Ihrer Arbeit?

SK: Am Anfang meiner Arbeit stand die Lektüre eines Folter-Protokolls, verfasst von US-Soldat*innen, die in Guantánamo einen Mann, Mohammed al-Qahtani, 54 Tage lang gefoltert haben. Teilweise werden sie sehr explizit, wenn sie darüber schreiben, was sie diesem Menschen antun. Am Anfang stand für mich der Schock über diesen Text, der Gewalt beschreibt, Gewalt legitimiert und selber Gewalt ausübt. Dieser Schock, dass dieses Protokoll auch Teil einer Kultur, nämlich einer Kultur der demokratischen Folter ist, war einer der Uraffekte meiner Forschungsarbeit.

IW: Wie ging es weiter?

SK: Ich habe zahlreiche Memoiren und Untersuchungsberichte gelesen und habe über Whatsapp und Zoom Überlebende, Anwält*innen und ihre Alliierten kennengelernt. Die vielen Gefühle, die diese Begegnungen in mir ausgelöst haben, habe ich zunächst für mein privates Erleben gehalten. Heute weiß ich, dass diese Gefühle gesellschaftlich relevant sind: Was macht man sozial und kulturell mit dem, was in Guantánamo geschehen ist – und bis heute weiter geschieht? Was muss man sagen, tun und imaginieren, damit die Entlassenen – und auch die Täter*innen, Zeug*innen, indirekt Betroffenen – ein Leben nach der Folter führen können? Bei diesen Fragen kann man Gefühle nicht ausklammern.

IW: Was für Gefühle sind das? Zum Beispiel für eine deutsche Leserschaft.

SK: Es gibt die Fälle von Khaled al-Masri und Murat Kunaz. Letzterer ist durch den Film von Andreas Dresen bekannter. Da gibt es ja eine Art von Mitverantwortung, oder? Da kann man sich involviert und schuldig fühlen, man kann sich peinlich berührt fühlen, man kann auch desinteressiert oder genervt, berührt oder traurig sein. Wenn man die „Gedichte aus Guantánamo“ liest, kann man auch überrascht sein, mit welchem Witz manche der Überlebenden über ihre Erfahrungen schreiben. Ein komplexer Mix aus Gefühlen also. Um den zu thematisieren und also zu verarbeiten, braucht man in meinen Augen literarisches Schreiben und Lesen. Und auch in einer auf Transparenz, Intersubjektivität und Reflexion angelegten Schreibform wie der wissenschaftlichen müssen Gefühle Platz finden, sonst kann man diese Arbeit gar nicht machen.

IW: Ich beziehe das mal auf die Literaturkritik und denke dafür an einen Satz von Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger, die in ihrem Buch „Gekränkte Freiheit“ dafür plädieren, Freiheit als Beziehung und nicht als etwas zu denken, das man besitzt. Übertragen auf das literaturkritische Lesen übersetze ich das so: sich in Beziehung zu einem Text setzen, anstatt ein Urteil aus der Position des abgeklärten Wissens zu fällen. Könnte dieser Gedanke eine Rolle spielen für die Reaktionen auf die „Gedichte aus Guantánamo“? Den Gedichten wurde die literarische Qualität abgesprochen, sie wurden sogar als mögliche Objekte einer literaturkritischen Betrachtung ausgeschlossen, wegen vermeintlich fehlender Literarizität bei gleichzeitigem Moralismus.

SK: Wenn man die Fähigkeit zu kritisieren als etwas versteht, das man „besitzt“ bzw. sich angeeignet hat, muss man sie vielleicht auch verteidigen und eine bestimmte Souveränität performen, um seinen Platz in der Arena zu rechtfertigen. Wenn man den Beziehungsaspekt hervorhebt, kann man sich verletzlicher machen, in seiner Schwäche, mit seinen Fragen zeigen. Das ist ja auch ein kritisches Verfahren, da legt man ja auch was vom Text frei.

IW: Wie ließe sich eine solche Form der Literaturkritik verstehen?

SK: Als eine Art Beispiellektüre vielleicht? Indem Kritiker*innen zeigen: So könnte man das Buch lesen, das ist eine Erfahrung, die man beim Lesen machen könnte. Man könnte diese Fragen, diese Gefühle, diese Thesen entwickeln, dieses Missfallen empfinden. Man kann ja vieles über ein Buch sagen, ohne dass man diese universelle Position des letztinstanzlichen Richters einnehmen muss.

IW: Lea Schneider, Sie übersetzen aus dem Chinesischen, schreiben Essays, Prosa und Gedichte und haben gerade Ihre Dissertation über Verletzbarkeit als literarische Kategorie verteidigt. Können Sie etwas mit diesem Gedanken anfangen, sich zu Texten in Beziehung zu setzen?

Lea Schneider: Ich finde die Idee, Freiheit wie auch kritisches Lesen als Beziehung zu denken, sehr schön. In dem Moment, in dem Freiheit kein Besitz mehr ist, sondern erst in Beziehung zu anderen verwirklicht werden kann, wird man allerdings auch viel verletzbarer. Das gilt vielleicht besonders für die Literaturkritik, von der traditionellerweise erwartet wird, aus einer Position von Objektivität, Souveränität und umfassender Expertise heraus zu sprechen. Aber es betrifft auf einer ganz basalen Ebene auch unsere Definition davon, was uns überhaupt zu Subjekten macht: Spätestens seit der Aufklärung leben wir mit der Vorstellung, dass das vor allem unsere Autonomie und unsere Rationalität sind. Wenn wir uns aber als soziale und körperliche Wesen verstehen, die darauf angewiesen sind, dass andere mit ihnen in Beziehung treten, dann sind wir eben alles andere als autonom. Das ist eine Abhängigkeit, die man erst einmal ertragen können muss. Insofern kann ich die Abneigung, die manche Kritiker*innen einer offeneren, weniger souveränen Haltung – und vielleicht auch einem offeneren Literaturbegriff – gegenüber haben, durchaus verstehen.

Wenn Kunst schlecht ist, gilt sie automatisch als unfrei.

IW: Mit was für einem Literaturbegriff fühlen Sie sich denn in der Regel konfrontiert?

SK: Mit einem Literaturbegriff, der um Autonomie und Qualität kreist. Autonomie verstanden als Möglichkeit, in einer konkreten Situation ein von dieser Situation unabhängiges Kunstwerk zu schaffen. Mit diesem Verständnis der Kunstproduktion geht dann ein Autonomietransfer auf die Kritiker*innen einher. Dieses Gefühl der Unabhängigkeit und Freiheit ist, denke ich, sehr wichtig für manche Menschen. Und man möchte das ja auch wirklich nicht einfach so wegwerfen. Diese Freiheit ist ein wichtiges Moment von Literatur, besonders für Menschen in Gefangenschaft. Kombiniert mit einem Qualitätsbegriff wurde mir bzw. den „Gedichten aus Guantánamo“ das dann aber von der Kritik um die Ohren gehauen: Eine autonome, freie, in sich geschlossene Literatur soll irgendwie auch „gut“ sein. Das heißt, sie soll formal verdichtet sein, traditionell aber auch transgressiv, kohärent aber auch selbstreflexiv, konsistent aber auch spannungsreich. Eigentlich paradox: Die Kunst ist frei, aber sie ist nur frei, solange sie auch gut ist. Und wenn sie schlecht ist, gilt sie automatisch als unfrei. Autonomie und Qualität sind auch für mich wichtige Kriterien, aber keine absoluten Werte. Eine Literatur, die sich quer zu diesen Kriterien bewegt oder sogar fern von ihnen, kann genauso wichtig sein.

IW: Und „frei“ meint dann frei vom Markt und von bestimmten politischen Machtstrukturen?

SK: Frei vom Markt, frei von Machtstrukturen, frei von ihrer konkreten Herstellungssituation. Auch frei von einer konkreten politischen Agenda. Im Kontext der Guantánamo-Gedichte fiel dieses Wort der „Moralkeule“, bezogen auf mein Nachwort. Eigentlich wurde gesagt: Ich möchte mich nicht moralisch-ethisch positionieren oder vielleicht sogar verhalten müssen, wenn ich diese Literatur lese. Und das finde ich problematisch.

LS: Es gibt von Seiten der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft auf jeden Fall die Sehnsucht nach einer Literatur, die frei ist von jeder lebensweltlichen Nutzbarkeit. Gebrauchsgedichte oder Anlassgedichte werden abgewertet. Das ist, glaube ich, auch ein deutsches Phänomen.

IW: Inwiefern deutsch?

LS: Im Chinesischen beispielsweise gibt es diese Abwertung gar nicht. Lyrik ist in der chinesischen Literaturtradition DIE politische Gattung schlechthin. Ein Gedicht kann dort die Form sein, mit der man auf ein aktuelles Ereignis reagiert, das heißt, es kann sehr positiv konnotiert sein, wenn ein Gedicht partikular, zeit- und situationsgebunden ist. Die Vorstellung einer Autonomieästhetik, für die Universalität und Überzeitlichkeit harte Qualitätskriterien sind, gibt es in der chinesischen Literaturgeschichte so nicht. Und auch in Deutschland ist diese Autonomieästhetik, die mir heute bei vielen Kritiker*innen tonangebend erscheint, ja keine Naturgegebenheit. Sie entstand im 18. Jahrhundert, im Zuge der Aufklärung, und war in diesem Kontext auch eine Abwehrbewegung gegen die Demokratisierung des Lesens, die damals stattfand. Aufgrund zunehmender Alphabetisierung, günstigerer Buchpreise und der Entstehung von Leihbibliotheken bekamen vor allem Frauen und Angehörige der unteren Schichten Zugang zu Büchern. Die Gelehrten dieser Zeit fürchteten um ihr Bildungsmonopol und versuchten, die „Lesewut“ der neuen Leser*innen zu regulieren. So entstand im deutschsprachigen Raum die Unterteilung in E- und U-Literatur. Unterhaltungsliteratur ist dabei oft ganz klar gegendert: Sie ist Literatur für Frauen, weniger wertvoll, nicht wirklich literarisch. E-Literatur hingegen, also Hochliteratur, ist definiert durch ihre Autonomie, durch die Freiheit von ökonomischen und politischen Zwängen, aber auch von jeder lebensweltlichen Nutzbarmachung. Also im Prinzip, wenn man es radikalisieren will: reine Formarbeit.

IW: Das heißt, welche Qualitätskriterien würden Sie vor diesem Hintergrund selbst kritisch sehen?

LS: Ein bestimmtes Verständnis von Literarizität, in dem Texte rein fiktional und möglichst polyvalent, also vielschichtig sein müssen, um als literarisch oder qualitativ zu gelten. Im besten Fall braucht man eine literaturwissenschaftliche Ausbildung, um sie verstehen zu können. Das ist ja auch eine Strategie, mit der sich eine Expert*innenschicht ihre eigene Relevanz sichert und versucht, ihre Privilegien zu verteidigen: zu sagen, man muss professionell ausgebildet sein, um diese Texte lesen und ausdeuten zu können. Dafür steht für mich dieser Literaturbegriff, der gekoppelt ist an die Qualitätskriterien Universalität, Literarizität und Professionalität. Ich würde gar nicht sagen, dass der per se schlecht ist, ich würde nur sagen, es ist einer unter vielen.

IW: Was stört Sie dann?

LS: Dass dieser Literaturbegriff eben nicht als eine von vielen möglichen Definitionen anerkannt wird. Dass es einen Unwillen in der Kritik gibt, zu sehen, dass Komplexität sehr verschiedene Formen annehmen kann, dass es andere Qualitätskriterien für Literatur geben kann als Polyvalenz, also zum Beispiel so etwas wie Wahrhaftigkeit, Authentizität oder die Dringlichkeit eines Anliegens. Diese Kriterien können sich auch mit den klassischeren Literarizitätskriterien mischen, das muss sich gar nicht gegenseitig ausschließen. Aber es braucht eben auch für ihre Wahrnehmung die entsprechenden Rezeptionsfähigkeiten, zum Beispiel einen Zugang zu den Affekten, die ein Text in einem auslöst, und ein Wissen um andere literarische Traditionen. Die darf man nicht einfach ausblenden und so tun, als wäre dieser eine, in einer spezifischen historischen Situation in Deutschland entstandene Literaturbegriff universal.

IW: Vorhin war die Rede von politischen und ethisch-moralischen Dimensionen von Literatur. Wo sehen Sie die Grenzen?

SK: Mit einer im engeren Sinne politischen Literatur sind für mich bestimmte Positionen verbunden. Also im Falle der Guantánamo-Gedichte: Welche Ideen von Gruppenzugehörigkeiten, Heimat oder Demokratie lassen sich in den Gedichten ablesen? Welche Kritik an den USA findet sich in ihnen? Wie werden Gewalterfahrungen, das Weiterleben oder Vergebung in den Gedichten konzipiert? Das heißt, es geht um Haltungen, um Weltanschauungen, um Großvorstellungen, wie man miteinander leben sollte. Die ethische Dimension wäre für mich, dass ich als lesende Person von diesem Text angesprochen werde, der von einer Person stammt, die in einer Notsituation gefangen ist. Das heißt, ich bin in eine Beziehung geworfen, die durch das Medium Text entsteht. Ich muss mich, ohne Regeln an der Hand zu haben, dazu verhalten. Was mache ich mit diesem Kontakt, dem erworbenen Wissen und auch mit meinem Unwissen, das mir durch den Text aufscheint? Die Konsequenzen können ganz klein sein: Ich kann das Gedicht noch einmal lesen oder das Buch weggeben, ich kann Geld spenden oder jemandem davon erzählen und sagen: Ich habe dieses Buch gelesen und habe diese Erfahrung gemacht, und ich weiß gar nicht, was ich jetzt damit machen soll. Das Ethische wäre für mich eine Umgangsweise, die wenig mit Position und mit Inhalten zu tun hat, die im Bereich des Antwortens liegt. Aus dieser Warte ist einen Text zu lesen und ihm Aufmerksamkeit zu schenken schon etwas sehr Bedeutsames, weil es eine Kontaktaufnahme und Beziehungsstiftung bedeutet.

IW: Spielt für Sie die Unterscheidung von ethisch und politisch eine Rolle in der Betrachtung von Texten, aber auch im Schreiben und im Übersetzen von Texten?

LS: Ich würde meinen ethischen Anspruch als Übersetzerin, aber auch als Kritikerin vor allem als ein Verantwortungsgefühl dem fremden Text gegenüber beschreiben. Damit meine ich einen offenen, wertschätzenden, auch selbstreflexiven Umgang mit der literarischen Arbeit Anderer. Dazu gehört auch, das eigene Unwissen oder die eigene Unsicherheit nicht zu verstecken. Ich finde kaum etwas interessanter als Textformen, die das Suchen, vielleicht auch das Scheitern von Autor*innen, von Übersetzer*innen, von Kritiker*innen aufzeigen. Ich lese das sehr gern, wenn Menschen ihre Suchbewegungen beim Lesen offenlegen.

Wo stört mich etwas, wie reagiert mein Körper auf den Text?

IW: Wie im Journalismus, wird ja auch von der Literaturkritikerin „Objektivität“ und „Rationalität“ gefordert. Noch mal zum Gefühl: Lässt sich das in Ihren Begriff von Kritik integrieren?

LS: Wenn man einen Literaturbegriff hat, für den Affizierung, die unmittelbare körperliche Reaktion auf einen Text, auch ein Unwohlsein, ein Schwitzen, ein Stöhnen, ein Lachen, Teil der Komplexität eines Textes ist, dann muss das natürlich Teil der Analyse sein. Und dann wäre eine Literaturkritik, die Gefühl und körperliche Zustände beim Lesen ausblendet, eine, die dem Text gar nicht gerecht werden kann. Es gibt historische Gründe, die dazu geführt haben, dass der Körper so wenig vorkommt in unserem Rezeptionswerkzeugkoffer, und sie sind eng verbunden mit rassistischen, sexistischen und klassistischen Diskriminierungsgeschichten. Ich würde darum immer für eine Literaturkritik plädieren, die auch fragt: Wie ist meine eigene, vielleicht auch vorsprachliche Reaktion auf diesen Text? Wo stört mich etwas, wie reagiert mein Körper auf den Text? Macht der Text überhaupt etwas mit meinem Körper? Berührt mich das? Das kann ja auf ganz unterschiedliche Arten funktionieren, sowohl inhaltlich, als auch klanglich, durch Rhythmus zum Beispiel.

IW: Ich erinnere mich, dass ich vor Jahren von einem Literaturredakteur gebeten wurde, das „Ich“ aus einem Artikel zu streichen, in dem es um meine Erfahrung als Deutsche in der Belgrader Theaterszene ging. Das „Ich“ sei eitel und lenke vom Gegenstand ab.

LS: Das kann nur jemand sagen, der nicht „Ich“ sagen muss, weil die Gesellschaft permanent für ihn „Ich“ sagt. Also jemand, der so positioniert ist, dass sowieso die ganze Zeit von seiner Position aus gesprochen wird. Da ist es dann auch naheliegend, dass man Ich-Sagen für eitel hält. Aber sobald man abweichend davon positioniert ist, kann es absolut notwendig werden, „Ich“ zu sagen. Und nicht „Ich“ zu sagen kann ja im übrigen auch eine Strategie sein, um davon abzulenken, dass man die eigene, partikulare Position gerade als universell behauptet.

SK: Wenn ich als Herausgeber „Ich“ sage, möchte ich mich nicht in den Vordergrund schreiben. Ich versuche ein „Ich“ zu entwickeln, das nicht um meine Partikularität, meinen Narzissmus oder meinem Wunsch nach sozialem Aufstieg kreist, sondern das konstellative Aspekte in eine Situation einträgt. Zum Beispiel meinen fachlichen Hintergrund, meine Perspektive, meine Privilegien, die Fördergelder, Interessen und Fragen mit denen diese Gedichte hier versammelt wurden. Das „Ich“ wird hier auch zum sekundären Zeugen: Ich bezeuge, dass ich diese Gedichte so und so gelesen habe. Das Ich zeigt, wie die Darstellung kontextualisiert, situiert, in einem gewissen Sinne konstruiert ist. Das Ich steht auch für eine Leseanleitung für einen Text: Von hier aus gesehen, erscheint er in diesem Licht.

LS: Ich möchte gern noch etwas zu dieser Vorstellung von Universalität oder Objektivität in der Literatur ergänzen. Die von Kant stammende Idee, Ästhetik beschreibe einen Bereich des „reinen, uninteressierten Wohlgefallens“ – die ist ja eigentlich spätestens seit Pierre Bourdieus Arbeiten zu ästhetischem Klassismus widerlegt. Wir wissen, dass ein Bereich der „reinen“ Ästhetik nicht existiert, sondern dass er geprägt ist von Klassenzugehörigkeit, von Geschlecht, von Rassifizierung oder von anderen Formen der Erfahrung und der Zuordnung, die wir machen. Umso faszinierender finde ich, dass im literaturkritischen Diskurs bis heute daran festgehalten wird, dass es auf der einen Seite die Ästhetik und auf der anderen Seite die Politik oder die Propaganda oder Agitprop oder das woke Schreiben gibt. Manchmal ist das eine gut, manchmal das andere, aber in jedem Fall ist beides klar voneinander getrennt. Als ob nicht jede Ästhetik auch gefärbt wäre von der gesellschaftlichen Positionierung, die Autor*in und Kritiker*in innehaben. Jedes ästhetische Verfahren macht eine politische Aussage. In einer von Zensur geprägten maoistischen Gesellschaft wie dem China der 70er Jahre etwa war ein rein formales Gedicht zu schreiben der politischste Akt, den man überhaupt vollziehen konnte – er hat einen sofort ins Arbeitslager gebracht.

IW: Es gab ja im Umfeld der Verleihung des Peter-Huchel-Preises an Judith Zander solche Debatten. Ich muss sagen, dass ich eine Schreibweise wie die von Judith Zander als heute marginalisiert empfinde, weil sie auch eine Gegensprache darstellt zu journalistischem und politischem Sprechen, einem Sprechen, dass immer die erkennbare klare Aussage formuliere. Das Verstellen solcher Aussagen und das scheinbar erstmal Hermetische ist für mich eine emanzipatorische Praxis. Und ich würde gar nicht sagen, das verstehen nur Leute, die eine germanistische Ausbildung haben, sondern ich würde sagen, man kann sich drauf einlassen, man kann googeln und auf Spuren kommen. Es ist für mich auch gesellschaftlich wünschenswert, einem Text, der erst einmal verschlossen zu sein scheint, geduldig zu begegnen und darauf zu vertrauen, dass man einen Zugang finden kann, weil das für mich auch die Übersetzung ist für eine Reaktion auch auf gesellschaftliche Situationen. Trotzdem bringt mich, was Sie sagen, ins Nachdenken. Neulich wurde ich wieder einmal nach der auffällig häufigen Nominierung von mehrsprachigen Autor*innen mit migrantischer Familiengeschichte bei Literaturpreisen gefragt. Sehr defensiv habe ich geantwortet, dass Jurys nach rein ästhetischen Kriterien bei der Auswahl von Texten vorgehen. Was wäre eine Rektion gewesen, die diesen Rückzug aufs Ästhetische unterläuft, andererseits deutlich macht: Es sind Autor*innen, denen das Schreiben wichtig ist.

LS: Was man natürlich machen kann, ist, diese Frage, die ja von einer Norm der Einsprachigkeit und des Nicht-Migrantischen ausgeht, umzudrehen. Einsprachigkeit stellt in Deutschland historisch gesehen eine ziemlich kurze Ausnahme dar. Bis ins 19. Jahrhundert hinein sind unterschiedliche Sprachen und Dialekte gesprochen worden im sogenannten deutschsprachigen Raum. Es war vollkommen normal, dass Menschen mehrsprachig waren, Sprachen gemischt und für verschiedene Kontexte unterschiedliche Sprachen verwendet haben. Die Linguistin Yasemin Yildiz belegt in ihrem Buch „Beyond the Mother Tongue“ sehr eindrücklich, dass Einsprachigkeit mit viel politischer Mühe durchgesetzt werden musste und an ein explizit nationalistisches Projekt gebunden war: das Projekt der Staatsbildung Deutschlands. Man könnte also umgekehrt auch fragen: Warum waren denn in den Jahren zuvor eigentlich alle Autor*innen bei den Literaturpreisen einsprachig, ist das nicht sehr seltsam in einem Land, dessen Geschichte und Gegenwart so sehr von Mehrsprachigkeit geprägt sind?

Was den Begriff des Ästhetischen angeht, so fürchte ich, dass der möglicherweise verloren ist, zumindest für den Moment. Der Diskurs ist so verfahren gerade, in der Gegenüberstellung von diesen vermeintlich dichotomen Gegensätzen „Ästhetik“ und „Politik“. Vielleicht muss man einfach aufhören, von Ästhetik zu sprechen. Vielleicht wäre auch eine Antwort, zu sagen: Wir wählen Texte aus, die uns interessieren, die uns überraschen, die uns angehen.

SK: Für mich ist das Ästhetische wichtig als Kategorie in seiner Prekarität. Weil man da nochmal eine Sphäre hat, auch wenn es vielleicht nicht ganz stimmt, von der man sagen kann: Hier gelten andere Regeln, hier ist ein anderer Schauplatz, hier ist eine andere Verteilung von Macht. Hier ist nicht zuerst Politik, hier ist nicht zuerst Erkenntnis, sondern hier ist dieser Raum, der irgendwie anders funktioniert. Es gibt Streit darum, wo seine Grenzen sind, aber hier haben wir die Möglichkeit, andere Erfahrungen zu machen, uns anders zu begegnen, anders zu lesen, anders miteinander zu spielen, ohne dass die Regeln letztlich geklärt wären. Für mich pluralisiert dieses Ästhetische den Machtraum und die Handlungsmöglichkeiten.

LS: Ich würde das dann vielleicht eher als das Literarische bezeichnen – und in dem Zusammenhang finde ich es sehr eindrücklich, dass die „Gedichte aus Guantánamo“ oft gar nicht als Gedichte ernst genommen wurden in der Rezeption. Dabei war es offensichtlich notwendig, genau diese künstlerische Form zu wählen, um von den dort gemachten Erfahrungen schreiben zu können. Die Gefangenen hätten auch Essays schreiben können oder Erfahrungsberichte, aber sie haben sich entschieden, Gedichte zu schreiben. Das gilt es doch, ernst zu nehmen. Literatur bzw. Lyrik ermöglicht es offenbar, Dinge mitzuteilen, an denen andere Formen von Sprache scheitern. Das ist dann vielleicht auch wieder ein guter Literaturbegriff: ein Raum, der ein anderes Sprechen, andere Zugänge zu Erfahrung und Erfahrungsverarbeitung, ermöglicht.

IW: Wie haben Sie selbst diese Gedichte denn gelesen? Es ist ja auch widersprüchlich, dass sie als „schlecht“ wahrgenommen werden und gleichzeitig offenbar große Wirkung haben.

SK: Ich habe erstmal gestaunt, dass es diese Gedichte gibt. Und das obwohl wir aus der Geschichte wissen, dass Menschen in existenziellen Notsituationen in der Lage sind und den Drang haben Gedichte zu schreiben. Das heißt, ich habe die Gedichte einerseits mit einem großen Interesse daran gelesen, zu verstehen, was es heißt, ein bedrohtes Leben zu führen. Das ist meine kulturwissenschaftliche, aber auch meine lebenspraktische Frage an die Texte. Diese Autoren haben eine Erfahrung gemacht, die wissen etwas darüber, was es heißt, ein Mensch zu sein und eine Erfahrung von Sterblichkeit und Leiden zu machen. Sie wissen auch, was es heißt, das dann in eine so kulturalisierte Form zu bringen. In dem Sinne ist die Lektüre auch gar nicht ein menschrechtsaktivistischer Gestus, in der Hinsicht, dass ich aus meiner privilegierten Position großzügig etwas für die Autoren tue. Nein, da ist ein Wissensvorsprung, den ich nicht habe, und der für mich aber relevant ist und der für uns als Gesellschaft relevant ist. Wir können etwas von diesen Gedichten lernen. Und andererseits entscheidet man sowas auch nicht, man ist getroffen und kann das in guten Moment zulassen, ohne es verdrängen zu müssen.

IW: Ich verstehe dabei schon die Frage, inwieweit Menschen, die keine Erfahrung mit dem Schreiben haben, in der Lage sind, Folter, seelisches und physisches Leid in Sprache zu übersetzen. Ich verstehe auch, dass bemerkt wird, dass die Mittel überwiegend recht einfach sind. Allerdings kann man ja, so wie einige Kolleg*innen es auch getan haben, diese Mittel beschreiben und zurückführen auf Formen wie das Gebet. Sofort wird eine andere Einordnung der Texte möglich. Damit kann man ja als Literaturkritikerin was anfangen, ohne sagen zu müssen, das sind schlechte Texte, weil sie schlichte Mittel benutzen.

Lyrik geht an einer Stelle ins Radikale, an der Prosa das nicht tut und nicht tun kann.

LS: Ich muss dabei an einen Satz aus Mark Yakich’s tollem Buch „Poetry: A Suvivor‘s Guide“ denken. Er schreibt da sinngemäß: Wenn Du wirklich gar nichts mehr hast – wenn Du so krank oder so alt oder so pflegebedürftig oder in deinem körperlichen Zustand so prekarisiert bist wie die Gefangenen in Guantánamo – die Gedichte, die du auswendig weißt, werden auch in dieser extremen Situation bei dir bleiben. Als ich von Sebastians Projekt gehört habe, fand ich es darum sofort absolut einleuchtend, dass es gerade Gedichte sind, die in Guantánamo geschrieben wurden. Weil Gedichte auch einen oralen Ursprung haben, einen Lied-Ursprung, weil sie mit Wiederholungen, mit Refrain, mit Reim arbeiten, also sehr nah am Körper gebaut sind, können sie etwas sein, was du hast, wenn du sonst gar nichts mehr hast. Das ist auch einer der Gründe, warum Lyrik mich interessiert, als Form. Ich finde, sie geht an einer Stelle ins Radikale, an der Prosa das nicht tut und nicht tun kann.

IW: Sie haben sich in Ihrer Dissertation mit einer chinesischen Lyrikerin beschäftigt, der auch fehlende Literarizität vorgeworfen wurde. Wie ordnen Sie diesen Fall ein?

LS: Das ist Yu Xiuhua, deren Texte häufig ausschließlich als Zeugnisliteratur einer Landarbeiterin mit körperlicher Behinderung gelesen werden und denen von der Literaturkritik immer wieder vorgeworfen wird, sie seien eigentlich gar keine Gedichte, weil sie „zu einfach“ seien. Wenn man sich aber mal dran setzt an die Texte, dann findet man darin einerseits eine Dringlichkeit und Intensität, die aus einer verkörperlichten Erkenntnis entstehen. Audre Lorde bezeichnet diese Art von tiefer, aus lebenspraktischer Erfahrung stammender Erkenntnis in ihrem berühmten Essay „Poetry is not a Luxury“ als „insight“, als „Einsicht“ – und diese wiederum als Qualitätskriterium für ein gutes Gedicht. In Sebastians Terminologie wäre sie vielleicht eher ein „Erfahrungsvorsprung“, der zur Sprache kommen will, ein spezifisches Wissen darüber, was es heißt, Mensch zu sein, verwundbar zu sein, sich durch die Welt zu bewegen. Andererseits verwendet Yu Xiuhua aber auch viele klassische literarische Formen: Metaphern, Wiederholungen, Klanglichkeit. Ich glaube, es gibt eine Tendenz, diese formale Arbeit zu übersehen, sobald in einem Text Autobiographie oder Inhalt sehr stark werden. Man tendiert dann sehr schnell dazu, zu sagen: Ahja, hier gibt es ein klares Anliegen, dann passiert da formal sicher nicht so viel. Aber es gibt auch viele Formtraditionen, die durchaus mit klaren Anliegen einhergehen und an die solche Texte anschließen. Also, zum Beispiel wie bei den Guantánamo Poems das Gebet, oder das Lied, oder auch Hip Hop und Spoken Word Poetry.

IW: Ich würde gern mal nach Ihrer Kategorie der Verletzbarkeit fragen. Wie gehen Sie mit dem Unterschied um, zwischen einer performten und einer nicht-performten Verletzbarkeit im Gedicht? Ich meine den Unterschied zwischen einer ästhetischen Strategie und einer Erfahrung, einem Zeugnis wie es mit den Guantánamo-Gedichten vorliegt.

LS: In der politischen Philosophie gibt es eine ganze Forschungsrichtung, die Vulnerability Studies, die sich der Verletzbarkeit widmen und sie als einen grundlegend menschlichen Zustand beschreiben. Theoretiker*innen wie Judith Butler würden sagen: Menschliche Subjekte sind gerade nicht durch Rationalität und Souveränität definiert, sondern durch die grundlegende Verletzbarkeit, die daraus entsteht, dass alle Menschen soziale und körperliche Wesen und also solche immer auf die Sorge und Aufmerksamkeit Anderer angewiesen sind. In gewaltvollen Ausnahmesituationen, wie Guantánamo eine ist, wird diese Verletzbarkeit besonders akut sichtbar, aber eigentlich ist sie ein Merkmal, das alle Menschen betrifft und definiert.

Das besonders intensive Wissen darum, das in den Guantánamo-Gedichten steckt, ist literarisch sicher etwas anderes, eine andere Form, auch ein anderes Thema als die queerfeministischen Ansätze, die ich mir angeschaut habe. Die arbeiten mit einer ganz speziell situierten Verletzbarkeit, nämlich einer, die an der Zuordnung als „weiblich“ hängt, und an der Abwertung, die mit dieser Zuordnung einhergeht. Die Texte, die ich in meiner Dissertation untersucht habe, nehmen sich genau diese Zuordnung vor und performen ihre negativen Attribute selbstbestimmt, in überzogener Form, geradezu aggressiv. Ihre Autorinnen gehen voll in die Klischees von Weiblichkeit hinein, nach dem Motto: Wenn ich als Autorin sowieso immer nur als Frau gelesen werde, mit allen negativen Zuschreibungen, die daran hängen, dann kann ich auch aufhören, zu beweisen, ich könne genauso oder genauso gut schreiben wie ein „Mann“. Stattdessen performen sie absichtlich all das, was ihren Texten später sowieso vorgeworfen werden wird: Kitsch, Naivität, Überemotionalität, Anhänglichkeit, und so weiter.

Beide Formen der Literatur arbeiten mit Verletzbarkeit, aber es sind verschiedene Arten von Literatur und verschiedene Strategien.

IW: Wobei ich Ihre Argumentation in der Dissertation so verstanden habe, dass es schon eine authentische Erfahrung gibt, dass sie aber in der Umsetzung im Gedicht für die Rezipient*innen in eine Unsicherheit gebracht wird.

LS: Genau, durch ihre krasse Überzeichnung. Der Ausgangspunkt dieser Autor*innen ist, dass ihre Texte sowieso immer autobiographisch gelesen werden, während die von weißen, männlichen cis Autoren als universale Aussagen betrachtet werden, und deswegen arbeiten sie mit dieser Zuschreibung. Das Spiel ist kein freies Spiel, weil sie auf etwas reagieren, was ihnen schon von außen zugetragen wird.

SK: Strategie ist für die Autoren der Guantánamo-Gedichte sogar sehr wichtig, in einem ganz praktischen Sinn. Sie mussten sich immer die Frage stellen, wie sie die Texte schützen oder in Gefahr auch vernichten können. Sie haben Gedichte in Becher gekratzt und einander geschenkt, die Becher aber auch selbst die Toilette heruntergespült, wenn Wärter*innen kamen. Es gibt ein essentielles Moment von Strategie bei der Herstellung von Öffentlichkeit, weil die Autoren und ihre Texte entrechtet und straflos verletzbar waren. Zu dieser Strategie gehört letztlich auch die Hoffnung auf Leser*innen, die sich Zeit nehmen für sorgfältige, rekontextualisierende Lektüren und die im Wortsinne schwachen Spuren wieder entziffern. Und da wäre man eben auch wieder bei der Aufgabe von Kritik, ein besonders sensibles Pendel zu sein, das besonders schnell ausschlägt oder besonders feinsinnig auf Spuren achtet, die sonst übersehen werden könnten.

Darf man als Kritikerin nicht in Beziehung zu einem Text treten?

IW: Sie sprechen ja sogar von Zeugenschaftsbeziehung zwischen Autor*innen, Text, Leser*innnen. Als Leser*in kann ich es mir leisten, in eine Zeugenschaftsbeziehung zu einem Text zu treten. Ich finde die Frage berechtigt, ob die analysierende Kritikerin auch in eine Zeugenschaftsbeziehung eintreten darf.

LS: Man tut es ja sowieso. In dem Moment, in dem man den Text liest, ist diese Beziehung ja da. Diese Fiktion von Objektivität aufrecht zu halten, finde ich problematisch. Die Frage müsste genau umgekehrt lauten: Darf man als Kritikerin nicht in Beziehung zu einem Text treten?

IW: Wobei Zeugenschaftsbeziehung ja noch einmal etwas Spezifisches ist, weil ich ja als Zeugin verpflichtet bin zu berichten, was ich gesehen habe. Ich muss eigene Bewertungen raushalten, und das sehe ich schon als Konflikt eines Teils der Aufgabe einer Kritikerin. Die Frage ist nur, ob es rauszuhalten ist aus der Kritik oder ob es ein Element ist, mit dem man dann auch arbeiten kann, ohne dass einem vorgeworfen wird, Partei geworden zu sein.

LS: Das war ja auch genau das Unwohlsein, das einige Kritiker dem Buch gegenüber geäußert haben – das Gefühl: Ja, da kann ich jetzt gar nichts zu sagen, denn das ist ja eh schon moralisch gut.

SK: In der Wissenschaft habe ich ja ein ähnliches Problem. Ich bin zur Objektivität verpflichtet, und ich muss meine Verfahren transparent machen. Gerade wenn ich ein zeitgeschichtliches Projekt habe, dann muss ich meine Quellen transparent angeben, sauber analysieren und so weiter. Ich würde sagen, es bleiben heterogene Schreibformen und Situierungsformen, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kritik. Und ich glaube, dass unterschiedliche, inkompatible Ansprüche an einen gestellt werden, macht die Schwierigkeit aus, aber auch die Produktivität dieser Gattungen. Ich habe für mich diese Antwort gefunden: Die Gefangenen können und müssen Zeugnis ablegen. Das ist nichts, was sie sich ausgesucht haben, sondern etwas, das Machteffekt ihrer Entrechtung ist. Weil die Gefangenen keine Dritten als Zeugen aufrufen können, weil sie keine Beweismittel versammeln können, weil sie keinen fairen Prozess gehabt haben, weil sie von US-Militärs und Geheimdiensten weggesperrt und zensiert werden und so weiter, sind sie auf diese Form des Zeugnisses zurückgeworfen, der ich erstmal nur Glauben schenken kann. Und weil sie kein anderes Mittel haben, ist diese Glaubens- und Vertrauensbeziehung gerechtfertigt und es muss eine Art Vertrauensvorschuss geben. Danach kann ich mich natürlich in einem zweiten Schritt in ein kritisches Verhältnis setzen. Also, ich kann fragen, wie ist es formal gemacht, was sind die literarischen Mittel, woher weiß ich überhaupt, was ich weiß, wenn ich diese Texte gelesen habe? Wie verhält sich der Text zu anderen historischen Dokumenten? Einen ähnlich vielgliedrigen Prozess würde ich mir auch von der Kritik wünschen. Und ich muss ehrlich sagen: Im Angesicht des universellen Folterverbots ist mir Unparteilichkeit suspekt, ich nehme da Partei. Trotzdem darf man die eigenen Interessen an die Texte herantragen: In der Frage nach bestimmten Traditionen, Gestaltungsmerkmalen, anregenden oder irritierenden Formelemente. Man kann doch auch die Heterogenität des eigenen Zugangs zulassen.

IW: Ich habe mehrfach erlebt, dass Kolleg*innen angesichts von scheinbar autobiographischen Texten sagen, sie haben Respekt vor der Erfahrung, die der Text bezeugt, aber literaturkritisch betrachten können sie ihn nicht. Das ist interessant, weil es ja den Autor*innen die Souveränität abspricht, zu sagen, ich gestalte einen Text und stellen ihn der Öffentlichkeit zur Verfügung. Wie sehen Sie das? Ist die Literaturkritik angesichts von Dokumentarischem, Zeugnissen, Autobiographischem, Authentischem, zum Schweigen verpflichtet? Sind Hemmungen berechtigt?

LS: Der Begriff des Memoir, den es im englischsprachigen Raum gibt, hat sich in Deutschland leider bisher noch nicht wirklich durchgesetzt. Auch das Genre der Literary Nonfiction, der nicht-fiktionalen Literatur, scheint im deutschen Literarturbetrieb nach wie vor kaum vorstellbar zu sein: Auf einem Buch muss immer entweder Roman oder Sachbuch stehen. Viele spannende Autor*innen, deren Essaybände beispielsweise in den USA als Belletristik verkauft werden, landen als deutsche Übersetzung im Sachbuchregal, weil Literatur bei uns immer noch gleichbedeutend ist mit Fiktionalität. Was ja auch einen Schutzschild bildet, sowohl für die Kritikerin als auch für die Autorin: das kann jetzt hier nicht zu persönlich werden, denn das ist ausgedacht. Dabei zeigt die Literaturkritik in anderen Sprachen und Ländern, beispielsweise eben im Englischen, dass man sehr gut über nicht-fiktionale Texte sprechen kann, in denen das Autobiographische stark ist. Man beurteilt ja dabei nicht die Erfahrung der Autorin, sondern nähert sich dem Text, der aus dieser Erfahrung entstanden ist – und der eigenen Berührung durch diese Text gewordene Erfahrung.

Ich verstehe nicht, woher diese Fetischisierung des Verreißens herkommt.

SK: Ich habe mich nie gefragt, ob die Gedichte gut oder schlecht sind. Ich habe mich auch nie gefragt, ob die Mittel einfach oder komplex sind. Bei den Cahiers de Cinema gab es die Regel, die Person rezensiert den Film, die den Film am besten fand. Das hat mir immer als ein Verfahren eingeleuchtet, und andererseits würde ich sagen, wenn man denkt, ein Text der von einer extremen biographischen Leiderfahrung erzählt, ist wirklich schlecht und hätte nicht so geschrieben werden sollen, dann kann man auch dazu stehen. Aber dann muss man eben auch damit leben, dass man sich selber ebenfalls angreifbar macht. Ich würde wirklich nochmal die Frage stellen, woher kommt das Begehren zu urteilen und warum sind andere Interessen an den Texten nicht stärker als das? Die Texte sind doch so reich an Erfahrungen, Appellen und ästhetischen Formspielen, man kann sich doch immer auf die Momente konzentrieren, die besonders produktiv für einen sind und so ein bisschen großzügig sein. Ich verstehe nicht, woher diese Fetischisierung des Verreißens herkommt. Vielleicht könnte man da einen Shift zu einem mehr reparativen Moment suchen.

LS: Reparative Literaturkritik finde ich einen tollen Begriff. Ich würde mir überhaupt einen Ansatz wünschen, der, wenn er in einem Text etwas nicht versteht oder generell nichts entdecken kann, erstmal davon ausgeht, dass es einem selber an Wissen, Kontext oder Interpretationsfähigkeiten fehlt. Ich würde mich jedem Text erstmal mit Demut nähern. Egal, ob ich „nur“ Leserin oder Kritikerin bin. Die Grundannahme muss sein: Dieser Text könnte etwas enthalten, das ich nicht kenne und für das mir vielleicht sogar (noch) die Fähigkeit fehlt, zu sehen, was es ist.

IW: Wobei es ja sehr produktiv ist, wenn man am Text argumentierend auch seinen Mangel formuliert. Den muss man aber eben durch die Beschreibung des Textes zuspitzen und nicht, indem man die Fähigkeiten der Person, die ihn geschrieben hat, in die Mangel nimmt. Ich glaube, das ist immer der Trick, dass man viel schreiben kann und auch viel Negatives schreiben kann, wenn man es begründet am Text, weil damit ja auch offen liegt, was man gelesen und was man nicht gelesen hat.

LS: Das stimmt; ich würde diese Demut auch nur als eine erste, wenn auch grundlegende Haltung beim Aufeinandertreffen mit einem Text sehen. Nur aus der Demut eine Rezension zu schreiben, das würde nicht reichen, auch nicht spannend sein. Aber sich erstmal selber zu verdächtigen und nicht den Text, das ist, glaube ich, eine gute Ausgangsposition. Immerhin gibt es wesentlich mehr formale und ästhetische Mittel, literarische Traditionen und Definitionen von Literatur, als eine einzelne Kritikerin kennen kann – und wenn man diesen Anspruch des Großkritikers aufgibt, muss man das ja auch gar nicht, sondern darf andere um Hilfe fragen, suchen, die eigenen Unsicherheiten als produktiv und aussagekräftig verstehen.

IW: Also am Ende eine Art Punkteprogramm für Literaturkritik? Erstens: Reflektiere dich selbst in deiner Perspektive und Position. Zweitens: Bedenke, dass der literarische Raum ein pluraler ist. Drittens: Habe keine Angst davor, einige dieser Richtungen nicht zu kennen und dich zu irren. Vor allem: Habe keine Angst.

Foto von freestocks auf Unsplash

Türen öffnen – Interview mit Sharon Dodua Otoo über das Schwarze Literaturfestival „Resonanzen“

Das Gespräch führte Isabella Caldart

Über Diversität in der Buchbranche wird seit einigen Jahren viel diskutiert, um ihren Mangel zu kritisieren und um für eine größere Vielfalt einzustehen. Sharon Dodua Otoo, Bachmann-Preisträgerin und Autorin des Romans „Adas Raum“ (Fischer 2021) gehört in diesem Diskurs zu den wichtigsten Stimmen- Jetzt hat sie gemeinsam mit den Ruhrfestspielen das Schwarze Literaturfestival „Resonanzen“ (19. bis 21. Mai) ins Leben gerufen, um anderen deutschsprachigen Schwarzen Autor*innen den Weg in den Literaturbetrieb zu ermöglichen. Wie genau das aussehen soll, verrät sie uns im Interview.

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Ein paradoxes Problem – Interview mit Elisa Diallo über fehlende Diversität in der Buchbranche

Ein Gespräch mit Elisa Diallo, geführt von Isabella Caldart

Die deutsche Buchbranche ist vor allem hinter den Kulissen vorrangig weiß (und bürgerlich). Auch wenn mehr und mehr Bücher erscheinen, die den Literaturbetrieb diverser machen, bilden die Bücher und Autor*innen, die von Verlagen eingekauft und veröffentlicht werden, diese Struktur mehr als deutlich ab. Damit Verlagsprogramme dauerhaft diverser werden, muss sich zunächst aber hinter den Kulissen einiges ändern. Elisa Diallo (Paris, *1976), zuständig für Rechte und Lizenzen im Schöffling Verlag und Autorin des Memoirs „Französisch verlernen. Mein Weg nach Deutschland“, hat einige Vorschläge, wie man das Problem fehlender Repräsentation in der hiesigen Verlagsbranche anpacken könnte. Das Wort „Diversität“ kann sie langsam nicht mehr hören. In Ermangelung einer Alternative verwenden wir es im Interview trotzdem.

Elisa, in deinem Buch Französisch verlernen thematisierst du unter anderem Rassismus in Deutschland und Frankreich. Um deinen Job in der Buchbranche geht es dabei nur am Rande. Du erzählst aber eine Anekdote: „Eine meiner Freundinnen ist Lektorin in den Niederlanden und auch schwarz. Wir witzeln oft, dass wir wohl die beiden einzigen Nicht-Weißen in der internationalen Verlagswelt sind. Auf den Buchmessen passiert es manchmal, dass uns die Kollegen verwechseln, die uns oder eine von uns beiden kennen.“ Zunächst ganz allgemein gefragt: Wie divers ist die hiesige Buchbranche?

Elisa Diallo, Mitarbeiterin im Schöffling-Verlag und Autorin, Fotografie: Herby Sachs

Die deutsche Buchbranche ist meiner Erfahrung nach extrem weiß. Fast noch störender als die fehlende Diversität wegen Hautfarbe und ethnischer Herkunft ist für mich aber die bezüglich sozialer Herkunft. Es wird eine bestimmte Ausbildung erwartet, um mit Texten zu arbeiten. Aber die Frage ist: Stimmt das wirklich? Braucht es dafür einen akademischen Titel? Auch der Vertrieb von Büchern, sprich die Buchhandlungen, könnte diverser werden. Dieser Bereich ist im Umbruch, aber noch überwiegend weiß und bürgerlich, und die meisten Buchhändler*innen sprechen nur eine bestimmte Zielgruppe an. In den letzten Jahren, so mein Gefühl, haben sich alle im schnellsten Tempo zum Thema „Diversität“ weitergebildet, alle reden von „BPoC“, aber bei mir weckt das Unbehagen. Schaut man die Herbstvorschauen durch, ist dieser „Trend“ auch schon wieder vorbei.

In den USA gibt es die Debatte schon länger, in Deutschland ist sie noch neu…

Solange „Diversität“ nur ein Werbeslogan bleibt, bin ich skeptisch. Wir brauchen auf jeden Fall Studien, handfeste Daten zu diesem Thema, sonst ist es immer nur gefühlt. „Gefühlt“ sind wir auf einem guten Weg, aber vielleicht auch nicht. Wir brauchen Daten über das Personal in der ganzen Branche, Verlage, Agenturen, Buchhandlungen … Und es geht auch um die Inhalte der Bücher. Wir hatten ein tolles Frühjahr mit Sharon Dodua Otoo, Mithu Sanyal oder Asal Dardan – viele verschiedene Stimmen. Aber alle haben über das Thema Rassismus geschrieben. Ich weiß nicht, ob es jemanden interessiert, sobald Schwarze Autor*innen über etwas anderes schreiben, während weiße Männer über alles schreiben können. Außerdem gelten Schwarze Erzählungen als Nische. Deutschland sieht sich immer noch als homogene weiße Gesellschaft, was extrem kontraproduktiv ist. Man geht von einer weißen, bürgerlichen Leserschaft aus, die man bedienen muss und glaubt, diese Leserschaft könne sich nicht mit Schwarzen Geschichten identifizieren. Es ist nur Platz für Geschichten mit aufklärerischer Funktion, man soll was lernen über Rassismus. Darüber hinaus besteht kein Interesse.

Du hast es eben schon angesprochen: In den USA gibt es Umfragen wie die Diversity Baseline Survey, in denen Mitarbeiter*innen von Verlagen und Redaktionen unter anderem ihre Race angeben können. Ist eine vergleichbare Umfrage auch für Deutschland wünschenswert, um zahlenbasiert weiterarbeiten zu können?

Ja, dann hätte man eine Bestandsaufnahme. Ähnlich wie bei #frauenzählen: Für mich waren diese Grafiken überraschend, fast kontra-intuitiv, weil ich gedacht hätte, dass Frauen sichtbarer sind in der Literaturwelt. Genau deswegen brauchen wir Zahlen. Sonst ist das am Ende nur ein Trend und geht nicht weiter. Die Frage der Repräsentation ist keine theoretische „Luxusfrage“, sondern ein Stück des Puzzles, wie wir friedlich und respektvoll in einer vielfältigen Gesellschaft zusammenleben wollen. Ich sehe das als ein Kontinuum – von der Abwesenheit sogenannter Minderheiten in der Literatur und generell in Medien zur Gewalt von Polizei und der Gleichgültigkeit der Gesellschaft. Das bewirkt etwas. Durch ZDF-Krimis bekommt man starke Empathie für Polizist*innen und deren Probleme.

Du hast im Vorfeld dieses Interviews gesagt, du möchtest dich zu dem Streit um die Übersetzung von Amanda Gormans Gedichtband The Hill We Climb äußern. Wie ist deine Haltung dazu?

Ich fand diese reflexartigen Reaktionen unglaublich. Alle Schwarzen Autor*innen aus Amerika, die in Europa übersetzt werden, werden von weißen Übersetzer*innen übersetzt. Es ging darum, sich einmal etwas anderes zu überlegen, weil die Autorin Aktivistin ist und in einer bestimmten Tradition schreibt. Seit drei Jahren redet man sich den Mund fusselig über Diversität. Das hat Janice Deul in ihrem Text [der Auslöser der Diskussion] über die Gorman-Übersetzung thematisiert – aber was daraus gemacht wurde, war eine emotionale, irrationale Empörung von wegen, „als weiße Person darf man gar nichts mehr“ und „dann darf man auch keine griechischen Klassiker übersetzen“.

Sharon Dodua Otoo schrieb über die Kontroverse um die niederländische und katalanische Übersetzung: „Bemerkenswert erscheint es mir an dieser Stelle, dass die Gefühle und Ansichten von Obiols und Rijneveld so viel Platz bekommen haben – dass ich allerdings auf Anhieb nichts über die Reaktionen Schwarzer Übersetzer*innen in Spanien oder den Niederlanden gefunden habe.“

Der niederländische Artikel war ein Kommentar über die Entscheidung, dass Marieke Lucas Rijneveld The Hill We Climb übersetzen sollte. Rijneveld hat sich dann von sich aus zurückgezogen, es gab kein Verbot durch eine Institution oder so. In Holland hat man viel Geld hingelegt, da war klar, dass man sich eine*n Superstar als Übersetzer*in ins Boot holt, und Rijneveld war durch den Gewinn des International Booker Prizes in den USA bereits bekannt. Worum es bei Amanda Gorman geht, wofür sie steht, hat niemanden interessiert oder niemand erkannt – weil Verlage das in der Regel nicht können, weil Verlage diese Sensibilität, die Expertise meistens nicht im Haus haben. Da musste erst eine Person von außen kommen, eine Schwarze Aktivistin, die fragte, ob erneut alles nach Schema F gemacht oder ob nicht die Chance genutzt werden sollte, um ein Zeichen zu setzen. Daran sieht man, wie fake die Diskussionen um Diversität sind.

Auf Deutsch wurde der Gedichtband am Ende von Uda Strätling, Hadija Haruna-Oelker und Kübra Gümüşay übersetzt, einer weißen Übersetzerin, einer Schwarzen Journalistin und einer bekannten Autorin mit türkischem Background. Was sagst du zu dieser Wahl?

Ich dachte zuerst, das ist interessant, warum nicht ein Experiment wagen? Aber ich frage mich auch, wie das zustande kam. Warum braucht man so ein Team? Konnte man bei Hoffmann und Campe keine Schwarze Übersetzerin finden? Die Branche funktioniert über persönliche Kontakte. Sobald wir konkrete Zahlen und Daten haben und feststellen, dass es ein Problem mit Repräsentation gibt, müssten wir dies Funktionsweise der Branche durchbrechen. Ich denke vielleicht ein bisschen radikal, aber so wäre man gezwungen, neue Wege für eine Zusammenarbeit zu finden, damit auch andere Leute mal zum Zug kommen.

Die Nominierungen für den Preis der Leipziger Buchmesse haben für einigen Unmut gesorgt, und auch bei anderen Preisen wird immer häufiger die Zusammensetzung der Jury kritisiert. Es gab einen offenen Brief mehrerer Autor*innen, Journalist*innen und Menschen aus dem universitären Bereich, der nicht nur die Beachtung von Schwarzen und Autor*innen of Color fordert, sondern auch die Strukturen des Literaturbetriebs kritisiert. Was waren dein erster Gedanke, als du von dem Brief erfahren hast?

Grundsätzlich finde ich es immer gut, wenn dieses Thema angesprochen wird. Ich hatte aber gemischte Gefühle dabei. Meine erste Reaktion zur Shortlist war auch Überraschung darüber, dass Adas Raum nicht nominiert wurde, weil ich das für eines der wichtigsten Bücher des Frühjahrs halte – auch ästhetisch! Wir wissen natürlich nicht, wie die Jury arbeitet. Ich habe übrigens gehört, dass in der Sitzung debattiert wurde über die rein weiße Shortlist, aber dass man diese Bücher am Ende halt am besten fand und die Liste durchaus als divers ansah, weil alte Schriftstellerinnen nominiert waren. Bei dem offenen Brief war meiner Meinung nach schade, dass die Leute, die unterschrieben haben, hauptsächlich amerikanische und britische Universitätsmitarbeiter*innen waren. Daher meine Skepsis. Man weiß, was das für Kritik aufruft – dass es sich um Identitätspolitik handelt, die aus der angelsächsischen Welt importiert wurde. Und die Reaktionen, die ich wahrgenommen habe, gingen auch alle in diese Richtung. Insgesamt freue ich mich über jeden Aufschrei, weil wir uns dringend in der Branche damit auseinandersetzen müssen, aber ich habe das Gefühl, das ist komplett ins Nichts gelaufen.

Sollte man denn auf den natürlichen Wandel, auf nachwachsende Generationen hoffen, oder bist du für proaktive Maßnahmen?

Ich bin generell für Quoten und proaktive Maßnahmen, sonst warten wir noch drei Generationen, und dafür habe ich keine Geduld. Wir brauchen in den Verlagen dringend Leute, die sich mit diesem Thema auskennen, damit das nicht nur ein punktueller Hype ist, sondern auf der Agenda bleibt. Ich traue den Verlagen zu, dass sie etwas erreichen, wenn sie es wirklich ernst meinen. Da, wo man feststellt, dass man ein Wissen nicht hat, muss man sich dieses Wissen reinholen, zum Beispiel durch Diversity Manager. Für eine Branche, die davon lebt, sich in andere hineinzuversetzen und neue Welten zu erträumen, sind wir alle unglaublich fantasielos. Auch inhaltlich sehe ich in Deutschland viel Luft nach oben: Wenn man durch die Vorschauen zur Unterhaltungsliteratur blättert, geht es bei den Krimis immer nach Skandinavien, die Frauenliteratur ist durch und durch weiß, und auch in der Fantasy hat man es als nicht-weiße*r Autor*in unglaublich schwer. Es wird immer erwartet, dass du nur über Rassismus schreibst. Ich muss leider wieder Amerika als Beispiel nehmen. Dort gibt es die literarische Gattung Afrofuturism, die Science-Fiction, alternative Welten und Vorstellungen von Afrika verbindet, mit Schwarzen als Protagonist*innen. Das hat dafür gesorgt, dass viele Schwarze Leute das Schreiben als Möglichkeit für sich sehen. Es ist in den USA ein anerkanntes literarisches Genre, das in Mainstream-Verlagen publiziert wird.

Die Forderung, gezielt (mehr) nicht-weiße Autor*innen zu nominieren, könnte aber darüber hinwegtäuschen, wie homogen die Buchbranche ist. Die New York Times etwa stellt in einer groß angelegten Recherche aus dem vergangenen Jahr fest: „Literary prizes may also make publishing appear more diverse than it actually is. Over the past decade, more than half of the 10 most recent books that were awarded the National Book Award for fiction were written by people of color […] Look at the books that appeared on The New York Times’s best-seller list for fiction, though, and a different picture emerges: Only 22 of the 220 books on the list this year were written by people of color.” Hältst du eine Quote für sinnvoll, weil sich dadurch rückwärts auch hinter den Kulissen etwas verändern kann, oder verschleiert das eher die Problematik?

Wahrscheinlich beides. Das ist das Problem: Es ist paradox. Durch Maßnahmen erreicht man was, aber man muss immer wieder messen um kontrollieren, was langfristig die Effekte sind. Das ist eine fortlaufende Arbeit. Das Problem ist wahrscheinlich, inwiefern Preise generell repräsentativ sind für den Markt und inwiefern sie den Markt auch steuern.

Es gab in den vergangenen Monaten zwei Verlagsgründungen, die für unser Thema interessant sind: Stolze Augen ist ein Verlag von BPoC für BPoC, der Akono Verlag konzentriert sich auf zeitgenössische afrikanische Literatur. Reicht das aus, um nachhaltig nicht-weiße Autor*innen zu publizieren?

Das ist auf jeden Fall gut. Den Vorteil haben wir in Deutschland dank der Preisbindung: Wir haben sehr viele kleine Verlage und unabhängige Buchhandlungen und können viel mehr Vielfalt am Leben halten. Eigentlich sollte man meinen, wir könnten im Vergleich zu Amerika oder England, wo es das nicht gibt, super mutig sein. Generell habe ich keine Angst vor Identitätspolitik, auch nicht im Kulturleben. Ich freue mich über jede mutige Gründung. Aber nachhaltig ist das nicht, denn den Markt in seiner Gesamtheit bestimmen immer mehr die Konzernverlage.

Der Akono Verlag wurde von einer weißen Person gegründet. Findest du es gut, wenn Weiße ihre Privilegien einsetzen, oder siehst du es als Problem, wenn ein auf afrikanische Stimmen ausgerichteter Verlag von einer Weißen geleitet wird?

Ich fürchte, ich finde das problematisch, auch wenn es schwierig ist, das zu begründen, weil ich dann sofort den Vorwurf des „umgekehrten Rassismus“ höre. Ich will nicht behaupten, dass Weiße zwangsweise keine Expertise haben, aber ich frage mich: Wo sind die Schwarzen Leute, die die Autorität haben, andere Schwarze zu verlegen? Aber klar, die Struktur ist, wie sie ist, die Macht liegt noch immer fast ausschließlich bei Weißen, und im Moment kann man nicht mehr verlangen, als dass sie ihre privilegierte Position nutzen und anderen Sichtbarkeit verschaffen.

In den USA wurden nach den Debatten und dem Black Lives Matter-Sommer gezielt Schwarze Lektor*innen und Verleger*innen eingestellt beziehungsweise befördert und neue Imprints gegründet, um nachhaltig nicht-weiße Stimmen zu fördern, während sich hier in Deutschland bisher so gut wie nichts getan hat. Was wünschst du dir für die Zukunft?

Um das Thema ernsthaft anzugehen, müssen, wie gesagt, als erstes Daten erhoben werden. Mit Rassismus sollten sich nicht nur die paar Schwarzen Menschen der Branche beschäftigten, sondern alle, das geht nämlich Weiße ebenso an. In Amerika wurden im vergangenen Jahr in oberen Etagen auch nicht-weißen Menschen wichtige Positionen zugetraut. Das kann man sich auch in Deutschland wünschen. Vielleicht passiert es auch schneller, als man denkt, wer weiß. Ich bin insgesamt skeptisch, was dieses Thema angeht, aber ich bin gleichzeitig überzeugt, dass es gar nicht so viel braucht, um etwas zu bewegen. Und eigentlich traue ich es der Branche zu, dass ich das noch erlebe, bevor ich in Rente gehe. Das Problem ist, dass es zwar nicht den Willen gibt, nichts zu verändern, aber auch nicht den Willen, etwas zu verändern. Und die Abwesenheit von Willen reicht schon aus, damit alles so bleibt, wie es ist.

Vielen Dank für das Gespräch!

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