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Über Türen in Hörspielen – wie Geräusche Räume erzählen

von Andrea Geißler

EIN TÜRSPALT

Studio 7 ist das Hörspielstudio beim Hessischen Rundfunk. Es ist über dem Sendesaal in der Mitte des Rundbaus gelegen und an den Redaktionstagen umlaufe ich es ständig in viertel, halben oder ganzen Kreisen. Denn die Redaktionsbüros sind im äußeren Ring des Gebäudes untergebracht, die Türen vom umlaufenden Ringflur nach innen führen alle zum Studio. Ins Studio dringt nicht nur kein Ton von draußen, sondern auch kein Lichtstrahl. Dafür sind Tageslichtlampen in der Beleuchtung verbaut.

Wenn ich ins Innerste des Hörspiel-Studios will, dorthin, wo die großen Mischpulte und die Aufnahmetechnik sind, muss ich jeweils vier, fünf Türen passieren, denn es befindet sich im runden Kern des Gebäudes und ist gesichert wie ein Tresorraum: Es gibt Sicherungstüren mit Spezialschloss, Schallschutztüren, Flügeltüren zum Klavierraum und ganz normale Türen zwischen Küche und Aufnahmeräumen. Diese “Küchentüren” gehören bereits zu den Kulissen, wobei alle Kulissen dort akustisch gedacht sind. Darum hat eine Treppe auch zweigeteilte Stufen: die linke Trittseite aus Holz, die rechte aus Metall, akustisch sind es folglich zwei Treppen.

Die Türen jedenfalls tun ihr Bestes, um jegliche Eindringlinge abzuhalten. Das liegt daran, dass die Zeit durchgetaktet ist, wenn ein Hörspiel aufgenommen und produziert wird, sagen Regie und die Techniker*innen. Aber ich weiß, dass das nicht alles ist: es gibt eine bestimmte Intimität, die diese kleine Gemeinschaft im Inneren des Studios miteinander teilt und in die niemand eindringen soll.

LUFT

„Dass man einen ganzen Haufen Zeit zusammendrücken kann wie ‘n bisschen Luft in der hohlen Hand…“ – so heißt es in Marie-Luise Kaschnitz‘ Hörspiel „Was sind denn sieben Jahre“ (1955) und das trifft ziemlich genau, wie sich Hörspiele anfühlen: Sie sind viel „Luft in der hohlen Hand“ im Vergleich zu einem Buch, das greifbar aus Papier besteht. Sie sind auch „Luft“ im Vergleich zu einem Theaterstück, das in seiner Materialisierung auf einer Bühne – in Kulissen und Kostümen und überhaupt Körpern – so substanziell ist.
Dagegen ist ein Hörspiel erst in der Luft – im Ohr – wenn ein Play-Button gedrückt wird. Ist es darum in Wahrheit der Musik näher als der Literatur? Vielleicht.

„Dass man einen ganzen Haufen Luft zusammendrücken kann“, das sagt Tony über die sieben Jahre, die vergangen sind, seit sie ihren Mann zuletzt gesehen hat. Jetzt erst kehrt er zurück, Jahre nachdem der Krieg vorbei ist. Wie wird es sein, ihn nun wiederzusehen? Tony bezieht die Betten frisch, sie geht zum Friseur und fragt ihre Schwester, ob sie sich erinnere, wie sie vor sieben Jahren ihre Haare trug. Tony hat einen Tag Zeit, um sich nach der Nachricht über die Rückkehr auf eben diese vorzubereiten und ihre Erinnerungen zurückzurufen. Im Hörspiel sind die Zeit-Ebenen ineinander geblendet: die Reflexionen Tonys über ihre gegenwärtige Situation, ihre Erinnerungen und alltägliche Gespräche mit den Menschen, denen sie an einem solchen Tag gewöhnlich begegnet. Die Dialoge sind darum das Unmittelbarste, das im Hören besonders nahekommt; die Gedanken und Erinnerungen liegen ferner.

Die Germanistin Sieglinde Klettenhammer beschäftigte sich ausführlich mit Kaschnitz‘ Hörspielen und stieß auf eine Bemerkung, die Kaschnitz im Band „Engelsbrücke“ übers Hörspiel-Schreiben machte: Die Schriftstellerin schätze „die Möglichkeit, die Kategorien des Ortes, der Zeit und der Handlung” außer Acht lassen zu können, „mit diesen Kategorien nach eigenem Belieben umspringen, herumspringen“ zu können, „vor- und rückwärts, durch ein ganzes Leben, durch die Geschichte, durch die Welt“. Gleichzeitig sei es ein Leichtes, dabei eine „Formkraft“, zu wahren, „die das Auseinanderfallen verhütet und die einzelnen Glieder in einer ganz bestimmten, musikalischen Beziehung zueinander erhält.“ 

Ein anderer Schriftsteller dieser Zeit, Friedrich Dürrenmatt, hatte auf seine Art eine leichte, spielerische Herangehensweise an das Schreiben eines Hörspiels: „Man atmet anders im Hörspiel“, erklärte er 1964 gegenüber Dramaturg Heinz Hostnig. Er fände gewissermaßen „Entspannung“ im Hörspiel, er sei dabei nicht so besorgt um das Theater und die Bühne, um das „Auftreten von Menschen“ wie beim Schreiben eines abendfüllenden Theaterstücks.

SCHALL

Die Geschichte des Hörspiels umfasst nunmehr fast 100 Jahre: Am 24. Oktober 1924 wurde im Frankfurter Sender (damals „Südwestrundfunk AG“) das Hörspiel „Zauberei auf dem Sender“ live in den Äther gefunkt, gerade mal ein halbes Jahr, nachdem dort der Betrieb überhaupt erst aufgenommen worden war. Sendeleiter Hans Flesch schrieb die „Senderspielgroteske“ eigentlich als Störung des Sendebetriebs: Eine „Märchentante“ löst den abendlichen Spuk aus, denn sie möchte auch einmal um diese Zeit ein Märchen erzählen. Der Sendeleiter „Dr. Flesch“ versucht sie aufzuhalten, doch auf einmal geht es drunter und drüber: Das “Mütterchen” fängt an zu erzählen, Zahlen, Tanzmusik und sogar eine Trompete spielen durcheinander, bis es den Rundfunkleuten schließlich gelingt, den „akustischen Schabernack“ wieder in Ordnung zu bringen, wie es im Pressetext zur Neuproduktion des Hessischen Rundfunks von 1962 heißt. Denn Originalaufnahmen gibt es davon nicht, entsprechende Aufnahme- und Schnitttechniken wurden erst später entwickelt. Der experimentierfreudige Flesch allerdings hat das Hörspiel (und das Radio) in Deutschland nicht nur mit seiner „Zauberei“ geprägt, sondern auch mit seinem Verständnis, was dieses neue Medium sein könnte: Er holte die Literatur und die intellektuelle Szene ins Radio: Bert Brecht, Kurt Weill, Walter Benjamin, Paul Hindemith, später Theodor Adorno.

Aber die Geschichte des Hörspiels ist keine Geschichte von Männern. Im Gegenteil: unter den prägendsten Figuren waren Fränze Roloff und Cläre Schimmel. Die beiden Namen, die zusammen klingen wie ein Wortspiel, wurden oft in einem Atemzug genannt. Fränze Roloff, eigentlich Franziska, baute das Hörspiel im Hessischen Rundfunk auf. Cläre Schimmel, eigentlich Klara, tat dies beim Südwest Rundfunk.

Fränze Roloffs Hörspiele sind puristisch kammerspielartig inszeniert, zumeist ohne Musik, auffallend ist immer wieder die Bestimmtheit ihrer Inszenierungen, in ihren Dialogen bleiben Betonungen nicht vage. Es treten viele Männer in Hörspielen auf zu dieser Zeit, reden sehr vernünftig und überlegen. Frauen hingegen klingen eher wie Mädchen, mit einschmeichelnder Spielhaltung in hoher Stimmlage, allzeit bereit, ohnmächtig in männliche Arme zu fallen. Fränze Roloff ließ ihren Darstellerinnen diese klischeehafte Rolle nicht so leicht einnehmen – oder drängte sie nicht in diese Unterwürfigkeit, wie manche Regisseure das möglicherweise taten. In ihren Hörspielen klingen die Sprecherinnen jedenfalls wenig unterwürfig. Das ist sicher kein Zufall: Fränze Roloff wurde 1896 geboren, war zunächst Schauspielerin und um 1926 für einige Zeit Leiterin der Schauspielschule an der Berliner Volksbühne – und das, als sie selbst erst in ihren Zwanzigern war. Während der Nazi-Zeit tauchte sie unter, weil sie für den ihr unbekannten Vater keinen Arier-Nachweis erbringen konnte und nicht weiter an exponierter Stelle an der Berliner Volksbühne bleiben konnte. Nach dem Krieg holte man sie zu Radio Frankfurt, dem späteren Hessischen Rundfunk. Dort entwickelte sie den Kinder- und Jugendfunk und die Hörspielabteilung. Bis in die 70er Jahre hinein wirkte Fränze Roloff an rund 170 Produktionen mit – ob als Sprecherin oder in den meisten Fällen als Regisseurin. Damit ist sie eine der wichtigsten Pionierinnen für das Hörspiel im Hessischen Rundfunk. Die Erinnerung an sie wurde bisher vernachlässigt – sogar ihr genaues Todesjahr (1975) ist nicht öffentlich bekannt; einen Nachruf verbat sie sich zu Lebzeiten, all das ist nur auf Anfrage aus dem Unternehmensarchiv zu erfahren.

Zu Cläre Schimmel lässt sich immerhin ein Nachruf der Stuttgarter Zeitung finden, in dem sie als prägend für die „goldene Zeit des Hörspiels“ in den 50er Jahren beschrieben wird – damals lagen die Quoten der Zuhörenden regelmäßig in Millionenhöhe. Cläre Schimmel wurde in den 1930er Jahren erst als Opernsängerin berühmt, bevor sie sich der Schauspielerei zuwandte und eine Ausbildung zur Rundfunksprecherin machte. 1950 wurde sie beim Süddeutschen Rundfunk Leiterin der Hörspielabteilung. Ihr dramaturgisches Verständnis von Hörspielen erklärte sie einmal in einem Interview: sie wollte „nie mehr als die Sprache selbst sprechen lassen“.

Sieglinde Klettenhammer (wie auch Reinhard Döhl, Ulrike Schlieper u.a.) wies mit Blick auf die 50er und 60er Jahre auf die gängige Unterscheidung zwischen „wortzentriertem traditionellem“ und „schallorientiertem Neuem Hörspiel“ hin. Denn während die meisten Hörspiele aus dieser Zeit naturalistisch und mit wenigen (meist musikalischen) Akzenten inszeniert wurden, nutzte das „Neue Hörspiel“ die damals neuen technischen Möglichkeiten als dramaturgische Gestaltungsmittel: Schnitt, Überblendungstechniken und Montage. Dabei kam in den letzten 20 bis 30 Jahren noch eine weitere technische Neuerung hinzu, wie Leonhard Koppelmann und Silke Hildebrandt in „Archivschatz: Das Hörspiel vom Hörspiel“ beschreiben. Seit Tonspuren digital verfügbar sind und in unbegrenzter Zahl und Breite angelegt werden können, sind „invasive“ Schnitte, im Grunde irreversible „Zerstörungen“ der Tonbänder nicht mehr nötig. Damit ist der Spielraum etwa für experimentelle Montagen oder chorische Inszenierungen unendlich geworden.

SCHLÜSSELGERÄUSCHE

Die Geschichte des Hörspiels ist lang und respekteinflößend. Wie verorten wir uns darin, die selbst noch am Anfang stehen? Wie Hörspiele machen, Hörspiele schreiben nach 100 Jahren Hörspiel? Mir hilft das Öffnen von Türen. Ganz konkretes Beispiel: zwei Personen – vielleicht ein Paar – unterhalten sich und gehen in einen anderen Raum, dort setzt sich ihre Geschichte fort. Wäre dies ein Roman, so würde neben dem Dialog der beiden ihr Aussehen beschrieben werden, vermutlich der Raum, in dem sie sich bewegen, vielleicht welche Gedanken sie haben. Wäre es ein Theaterstück, so wäre die Präsenz ihrer Körper dominant für die Wahrnehmung des Publikums. Gestikulieren sie? Berühren sie einander? Wie füllen ihre Körper diesen Raum aus (oder nicht)?

Im Hörspiel hingegen könnte die Tür entscheidend für die ganze Szene sein: Sie ist Trenner, Öffner, Rahmengeräusch für die Verortung der beiden Figuren. Die Tür trennt die Unterhaltung in drinnen und draußen. Durch das Zufallen einer Tür wird möglicherweise erst klar, dass die beiden draußen waren, in der Öffentlichkeit und nun in einen privaten Raum eintreten, in dem ihre Aussagen ganz anders wahrgenommen werden.

Ich hatte einen solchen Tür-Schlüssel-Moment als ich für „Das Halbhalbe und das Ganzganze“ von Safiye Can Regie führte: Die beiden Hauptfiguren Sophia und Friedrich  kommen vom Einkaufen, öffnen die Haustür, scherzen weiter im Treppenhaus, öffnen die Wohnungstür mit einem Schlüssel, und als diese hinter ihnen zufällt, sind sie in einem Wohnzimmer unter sich. Für diese Szene wurden Sprachaufnahmen in zwei Räumen gemacht: „draußen“ im schalltoten Raum, (die Straßen-„Atmo“ wurde später daruntergelegt) „drinnen“ ist ein kleinerer Aufnahmeraum, der durch Stoffe, Holzmöbel und ein Bett behaglicher, intimer klingt. Das Fehlen der visuellen Wahrnehmung verlangt Spielenden eine paradoxe Schauspielleistung ab: Ob sie einander nahe sind, einander berühren, ist in einer Szene ja nicht zu sehen, nur zu hören. Also berühren sie sich bei den Aufnahmen gar nicht, sie nesteln an ihren eigenen Kleidern oder kneten ein Kissen, sie schmatzen auf ihre eigenen Handrücken, wenn ein Kuss zu hören sein soll. Ihre Stimmen verkörpern ihre Körper und mehr findet hinter den Kulissen nicht statt: In Wahrheit teilen sie sich nicht einmal ein Mikro. Zwei Liebende-Spielende im Hörspiel wahren so viel Distanz wie heimliche Liebespaare in ihren Briefen im 19. Jahrhundert.

Dagegen die Tür: an ihr ist alles echt. Ein paar Tage nach den Aufnahmen – Kristin Alia Hunold und Murat Dikenci („Sophia“ und „Friedrich“) waren längst abgereist – da saß ich mit der Cutterin und dem Tontechniker im Studio und wir bauten die Szene, wir bauten die Türen ein. Also hörten wir dutzende Tür-Aufnahmen an, die nicht in Frage kamen: „Die ist zu massiv, das ist ja ein Bunker!“ „Die geht nach draußen auf, nicht nach drinnen.“ „Jetzt sind sie ja in einer Kirche, nicht in einem Treppenhaus.“ „Die Tür schnappt zu wie eine Balkontür, das kann nicht sein.“ „Klingt nach Hörsaal, nicht nach Studenten-WG.“ – Es fanden sich die richtigen Türen, und die perfekten Schlüsselgeräusche – wie der Schlüssel nach dem Türschließen beiläufig in einer Schale abgelegt wird – nahmen wir selbst auf. Regie ist manchmal nur Geräusche machen.

SPRACHE

Dafür liegen auch Schreiben und Schneiden nah beisammen. Das Schreiben eines Hörspiels ist ein zweifacher Prozess des Kürzens und Verdichtens: Schon im Schreiben gilt der Versuch, alles Redundante zu streichen; sind die Texte aufgenommen, wird der Schnitt mit gleicher Strenge ausgeführt. Was übrig bleibt, muss dicht sein, schlüssig, mit klaren Bezügen in der Narration. Denn Hörende sind so viel ungeduldiger als Lesende. Wenn ein unverständlicher Satz sie aus dem Hörfluss wirft, sind sie verloren, sie werden abschalten. Wortzentriert heißt also: fokussiert, auf wenige Worte, die besser nachhallen als wiederholt werden.

Und doch ist Sprache auch eine besondere Möglichkeit des Hörspiels, vielmehr: Sprachen sind es. Ein Buch in Übersetzung löscht die Originalsprache im Normalfall vollständig, es ist keine Überschreibung, weil die Übersetzung das Original tilgt. Selten werden zweisprachige Ausgaben von Büchern angefertigt, in diesem Fall stehen die beiden Sprachen nebeneinander.
Das ist bei Audios anders: Simultan-Übersetzungen sind akustische Palimpseste. Die Originaltonspur liegt drunter, sie wird nur gedimmt, „geduckt“, wie man sagt. Anfang und Ende, die „Ränder“ bleiben dabei vollständig sichtbar.
Diese Sprach-Sichtbarkeit auf Tonspuren ist ein Potential, welches Hörspiel-Macher*innen inzwischen mehr und mehr zu nutzen wissen. Hier werden polyglotte Sprachflächen bewusst ineinander geblendet, sie unterlaufen sich gegenseitig, sie überschreiben einander. Sprachen wollen gehört werden und Inszenierungen lassen es zu.

Regisseurin und Komponistin Ulrike Haage gab bei meinem Hörspiel „Hyperbolische Körper“ den Sprachen viel Raum, oder vielmehr: Ebenen. In dieser Utopie unterhalten sich die russische Mathematikerin Sofia Kowalewskaja (geb. 1850) und die iranische Mathematikerin Maryam Mirzakhani (geb. 1977) über die Möglichkeit, statt realen Körpern „hyperbolische“ zu haben. Vielleicht könnte so wirkliche Gleichheit und Gleichberechtigung erreicht werden? Kowalewskaja und Mirzakhani streiten über diese Vision, erinnern sich an ihre Vergangenheiten, an Verluste von Kindheiten und sie vergegenwärtigen die Fragilität ihrer Körper. Ihr Dialog ist mehrsprachig und findet außerhalb der Zeit und außerhalb von Räumen statt. Hier sind Sprachen auch Flächen, Ebenen. Darum gibt es  weder Fragen nach den richtigen „Türen“ noch nach einem drinnen und draußen, Privatheit und Öffentlichkeit. Stattdessen ist die Frage der Räumlichkeit eine mathematische – und eine akustische. 

Das Hörspiel hat genug Spielraum für sprachliche und körperliche Utopien. Eine davon wird inzwischen häufiger in der Besetzung praktiziert: Rollen werden genderblind besetzt. Denn noch immer gibt es statistisch mehr Männerrollen, auch im Hörspiel gibt es besonders für Schauspielerinnen mittleren Alters wenige Rollen. Wo es möglich ist, versucht die Besetzung hier starre Geschlechtszuschreibungen zu umgehen: Männliche Jugendliche dürfen auch mal etwas androgyner klingen und mit einer jungen Schauspielerin besetzt werden – ein Beispiel ist etwa Lotte Schubert in Matthias Brandts „Blackbird“ (Regie: Leonhard Koppelmann). Ähnlich verhält es sich mit fabelhaften Wesen, sprechenden Tieren, Erzählstimmen: hier entscheidet die Stimmfarbe und weniger die Tonlage. Ohnehin gewinnen Verschiebungen an Bedeutung: Verschiebungen zwischen Text und Tonspur – wenn etwa Sprachen und Körper nicht notwendigerweise miteinander identifiziert werden. So entstehen Zwischenräume zwischen Text und Sprache ganz oft dadurch, dass Zeilen nicht mehr von denen gesprochen werden, denen sie im Text zugeordnet sind – wie in Das große Heft von Ágota Kristóf (Regie: Erik Altorfer).

Wohin geht es jetzt im Hörspiel? Die Entwicklung tendiert – wieder – zum seriellen Erzählen. Klassiker wie die „Herr der Ringe“-Großproduktion aus den 1990ern erleben eine Renaissance, ebenso wie Bastian Pastewkas lakonische Zwiegespräche mit den Schatten der Hörspielkrimi-Vergangenheit in seinem Kein Mucks!-Podcast und schließlich gehörte zu den erfolgreichsten Serien zuletzt die „10 Atemzüge“ vom Autorinnen-Team Simone Buchholz, Berit Glanz, Mareike Fallwickl und Karen Köhler. Worum es hier geht? Sagen wir: um alles das, was sich üblicherweise hinter verschlossenen Türen abspielt.

Beitragsbild runnyrem

Der Weg aus dem Labyrinth: die interaktiven Hörspiele der ARD

von Alexander Matzkeit

Diese Geschichte beginnt mit Smart Speakern. Die kleinen Geräte, die per Sprachbefehl nicht nur Musik abspielen und das Wetter durchgeben, sondern große Teile unserer Wohnungen und des dort vorhandenen “Internet of Things” steuern, beschäftigen Medienmacher*innen seit Jahren. Sollte man sie nur als Eingabegerät für herkömmliche Mediennutzung behandeln, wie eine Fernseh-Fernbedienung? Oder eröffnen sie auch ganz neue Möglichkeiten, Medien zu gestalten?

Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten haben für solche Fragen Innovationsabteilungen eingerichtet. Sie sollen sich neue Technologien anschauen und Pilotprojekte entwickeln, die ihre Möglichkeiten ausloten. 2019 griff der BR mit seinem Innovationsteam BR Next erstmals auf eine eigentlich recht alte Idee zurück, um die Möglichkeiten von Smart Speakern für die Audio-Unterhaltung der Zukunft auszutesten. BR Next produzierte ein interaktives Hörspiel namens Tag X, in dem die hörende Person alle vier Minuten eine Entscheidung über den Fortgang der Handlung treffen muss.

Das Prinzip ist seitdem bis heute mehrfach variiert worden, von mehreren öffentlich-rechtlichen Sendern der ARD. Entstanden ist ein kleiner Pool an interaktiven Hörspielen, die interessierten Beobachtenden viel über die Möglichkeiten und Grenzen der Gattung verraten, neue Optionen und vor allem alte Probleme offenbaren. Im Kern steht dabei die Frage: Wie sehr wollen wir wirklich mit unserer Fiktion interagieren?

An den interaktiven ARD-Hörspielen Tag X, Tatort: Höllenfeuer und Schloss Einsteins Mission to Mars lässt sich diese Frage gut erkunden und zugleich zeigen, dass es verschiedene Arten gibt, interaktive Fiktion zu gestalten, die bei demjenigen, der sie hört und nutzt, auch unterschiedliche Erlebnisse hervorrufen. Der Begriff “interaktive Fiktion” jedoch bedarf zunächst etwas historischer Einordnung.

Was ist interaktive Fiktion?

In der Literaturwissenschaft ist er eigentlich relativ streng besetzt. Er bezieht sich auf die seit den 1970er Jahren existierenden Computeranwendungen, die landläufig als “Textadventures” bezeichnet werden. Sie gehen zurück auf den Prototypen Adventure (1975) und wurden vor allem durch Zork (1977) und seine Nachfolger bekannt. In diesen Anwendungen interagiert die Nutzerin oder der Nutzer über einfache Befehle (“Gehe nach Westen”, “Nimm Schwert”) mit einer Geschichte, die sich – auch wenn spätere Varianten sich an deutlich komplexeren Erzählungen versucht haben – vor allem in einer Abfolge von Räumen und dort zu lösenden Rätseln entfaltet. Der Autor des Interactive-Fiction-Standardwerks Twisty Little Passages (2005), Nick Montfort, sieht daher auch das literarische Rätsel als Urahn des Textadventures.

Vielleicht ist es daher besser, wie Espen Aarseth, der norwegische Grandseigneur der Game Studies, von “ergodischer Literatur” zu sprechen. Der aus der Naturwissenschaft entlehnte Begriff der “Ergodizität” bezeichnet, stark vereinfacht, einen dynamischen Prozess, in dem verschiedene physikalische Zustände gleichzeitig existieren. Aarseth überträgt dieses Prinzip auf eine Literatur, die in ihrem Urzustand noch keine Erzählung besitzt, sondern diese erst entwickelt, wenn mit ihr interagiert wird.

Aarseth führt dieses Prinzip zurück bis auf das I Ching bzw. I Ging, ein aus der chinesischen Antike stammendes Zeichensystem, das seine Erzählungen orakelhaft entfaltet. Spätere Beispiele finden sich in ähnlich bruchstückhaften experimentellen Texten wie Raymond Queneaus Zehntausend Milliarden Gedichte (Cent mille milliard de poèmes, 1961), das die 14 Zeilen eines Sonnets frei kombinierbar macht, und Marc Saportas Composition no. 1 (1961), das aus 150 losen Seiten besteht, welche die Nutzer*innen erst mischen, dann lesen sollen. Montford bezeichnet diese Werke auch als “literarische Maschinen”.

Du kannst die Heldin sein!

Deutlich populärer, und auch viel stärker als Vorgänger der hier besprochenen Hörspiele zu begreifen, wurde ergodische Literatur durch “Spielbücher”, die sich ab 1979 an ein junges und jugendliches Publikum richteten. Hier ist das Buch in eine meist dreistellige Zahl kurzer Leseabschnitte unterteilt, an deren Ende jeweils eine Entscheidung steht. Möchtest du links abbiegen, dann blättere zu Abschnitt 132, möchtest du rechts abbiegen, dann blättere zu Abschnitt 212. 

In den USA wurde das Prinzip vor allem durch die Serie Choose Your Own Adventure berühmt, ein Markenname, der irgendwann so in aller Munde war, dass er zum Sammelbegriff für jede Art von interaktiver Erzählung wurde. Aus Großbritannien stammen hingegen die Fighting Fantasy-Bücher. Sie ergänzen das Abschnittsystem um Begegnungen mit Monstern, mit denen sich die Lesenden wie in Dungeons & Dragons und anderen Rollenspielsystemen per Würfelwurf duellieren müssen.

Beiden Systemen war gemein, dass sie in den 1980er Jahren einen gigantischen Boom erfuhren. Viele Jugendfranchises sprangen auf den Zug auf und veröffentlichten eigene Spielbücher, die immer das gleiche versprachen: “Du kannst der Held/die Heldin sein! Du entscheidest, was passiert.” Entsprechend etablierte sich auch die Konvention, Spielbücher grundsätzlich in der zweiten Person Singular zu schreiben, mit der die lesende Person direkt angesprochen wird.

Der Tod der Spielbücher war Ende der 90er schließlich die Entwicklung immer aufwändigerer Computerspiele, die im Grunde das gleiche versprachen und auch halten konnten. Gerade Adventures wie The Secret of Monkey Island (1990) boten den Spielenden ähnlich wie ihre Vorgänger einen durch Rätsel unterbrochenen Plot, der Entscheidung und Interaktion enthielt. Spätere, nach dem “Open World” Prinzip gestaltete Spiele erhöhten die Möglichkeit für die Nutzenden noch weiter, sich notfalls auch völlig außerhalb des vorgesehenen Plots zu bewegen. Die meiste Forschung rund um interaktive Fiktion dreht sich heute um Computerspiele.

Der zentrale Konflikt der ergodischen Literatur

Die interaktiven Hörspiele der ARD sind insofern ein Rückgriff auf eine etwas primitivere Form der ergodischen Literatur, damit aber gleichzeitig auch etwas literarischer als moderne Spiele. Sie besitzen keine grafische Komponente, sondern bestehen aus einer Abfolge aus Erzählungs- und Dialogszenen, deren Reihenfolge durch regelmäßige Entscheidungen der oder des Hörenden bestimmt wird. Die Häufigkeit der Entscheidungen – spätestens alle vier Minuten – ist durch die Entwickler der Smart Speaker vorgegeben.

Ähnlich wie bei Spielbüchern lässt sich die Gesamtheit eines interaktiven Hörspiels am ehesten als eine Art Flussdiagramm darstellen, in dem jede Szene eine Wabe bildet und jede Entscheidung am Ende der Szene mit einer Linie zu einer neuen Wabe führt. Würde man sich vorstellen, dass man sich am Ende jeder Szene zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden kann und jede Entscheidung zu einer völlig neuen Szene führt, wäre man mit exponentiellem Wachstum sehr schnell bei einer unübersichtlichen Menge an Szenen und Handlungssträngen. Da Produktionsbudgets aber begrenzt sind und nur für eine endliche Zahl an Szenen reichen, müssen viele Entscheidungen entweder in einem Ende münden oder auf eine Szene zurückführen, die die Nutzenden auch durch andere Entscheidungen hätten erreichen können.

Darin liegt der zentrale Konflikt ergodischer Literatur dieser Spielart. Sie muss den Nutzenden gerade genug Interaktion überlassen, damit diese das Gefühl haben, ihre Entscheidungen bedeuten etwas. Dabei darf die Erzählung jedoch nicht so ausfransen, dass sie das befriedigende Gefühl eines echten Plots verliert und ohne erheblichen Ressourcenaufwand auch nicht mehr umgesetzt werden kann.

Es ist daher kein Zufall, dass das zentrale Bild, das für diese Art von interaktiver Literatur immer wieder genutzt wird, das eines Labyrinths ist. Schon in Jorge Luis Borges’ Kurzgeschichte “Der Garten der Pfade, die sich verzweigen” von 1941 dient das Labyrinth als Sinnbild für ein Buch, das viele verschiedene Ausgänge einer Geschichte enthält. Ein großer Teil der “Fighting Fantasy”-Bücher spielt in labyrinthartigen Verliesen, in denen hinter jeder Wegbiegung entweder ein Gegner oder ein Schatz warten könnte. Für die Lesenden, Hörenden, Nutzenden hingegen bedeutet jede Entscheidung für etwas auch eine Entscheidung gegen etwas anderes. Wie Espen Aarseth in Cybertext (1997) schreibt: “Jede Entscheidung macht einige Teile des Textes mehr, andere weniger zugänglich. Die genauen Folgen deiner Entscheidungen, was du genau verpasst hast, wirst du vielleicht nie erfahren.” (Meine Übersetzung)

Tag X: Flucht aus der verseuchten Stadt

Tag X, das erste, 2019 entstandene interaktive Hörspiel von BR Next, geschrieben von Daniel Wild (mit dem ich für diesen Artikel ein Hintergrundgespräch geführt habe) und inszeniert von Martin Heindel, folgt am ehesten dieser labyrinthinen Struktur. Es spielt während des unmittelbaren Fallouts eines Anschlags auf Berlin, in Anlehnung an die realen, von der “taz” enthüllten Pläne einer rechtsextremen Gruppe in der Bundeswehr, die sich auf einen solchen Tag vorbereitete. Die Stadt ist eine verseuchte Zone. Die aus dem Zoo entflohenen Tiere laufen auf den Straßen herum. Das Militär patrouilliert.

Der in der zweiten Person angesprochene Protagonist bzw. die Protagonistin wacht auf und hat Gedächtnis und Augenlicht verloren. Das verstärkt einerseits den Hörspiel-Faktor mit Ohren als primärem Sinnesorgan und erlaubt andererseits, dass die Hauptfigur keine Vorgeschichte und keine Persönlichkeit über die Projektion der Nutzenden hinaus haben muss. Sie versucht im Laufe des Spiels aus der verseuchten Zone zu entkommen und kann dafür im Wesentlichen zwei verschiedenen Wegen folgen. Einer führt in die Altbauwohnung von Erna, die sich der Evakuierung entzogen hat. Bei geschickten Entscheidungen erfährt man von ihr, was zuvor geschehen ist, bevor man am Ufer des Kanals vom Militär aufgegriffen wird. Beim anderen nimmt man sich eines Kindes namens Toni an, kämpft sich mit ihm durch einen von einem Eisbär bewohnten Spätkauf und ein Parkhaus, wird dort ebenfalls von Soldaten in Gewahrsam genommen und schließlich einem Verhör unterzogen, in dessen Verlauf man dafür sorgen kann, dass Toni in gute Hände kommt.

Tag X besitzt 13 verschiedene Enden, doch nur zwei davon enden nicht mit dem Tod der Spielenden und nur eins – das, in dem man die Toni-Mission erfolgreich zu Ende bringt – hat wirklich das befriedigende Gefühl eines abgeschlossenen Plots. Die meisten Enden töten die Nutzenden, zermalmt von herumlaufenden Tieren oder von Soldaten erschossen. Sie sind Enden nur in dem Sinn, dass die Handlung danach nicht mehr weitergeht, aber nicht, indem sie einen Spannungsbogen abschließen. Daher fühlt sich Tag X oft an wie ein Labyrinth mit vielen Sackgassen, von denen manche zwar hübscher sind als andere, aber nur ein oder maximal zwei Wege durch “korrekte” Entscheidungen wirklich aus dem Irrgarten herausführen. Es ist damit von allen hier beschriebenen Hörspielen am stärksten so strukturiert wie die erwähnten Spielbücher. Das Problem mit den Sackgassen-Enden ist, dass sie sich nicht wie alternative Ausgänge einer Geschichte anfühlen, sondern nur wir ein Scheitern an der vom Autor vorgesehenen Handlung. Wie von Aarseth beschrieben also keine Entscheidung für etwas, sondern gegen alles andere.

Höllenfeuer: Welche Polizistin willst du sein?

Das Nachfolgeprojekt des gleichen Teams, Tatort: Höllenfeuer von 2021, wählte, vielleicht auch aus diesen Gründen, einen völlig anderen Ansatz. Es verabschiedet sich zunächst von der direkten Ansprache der Nutzenden und hat eine klar umrissene Hauptfigur, die Kommissarin Mavi “Mav” Fuchs, die als neue Figur in das bereits etablierte Story-Universum des Münchner Tatort rund um die Kommissare Batic und Leitmayr eingeführt wird. An Entscheidungspunkten ringt Mav in Selbstgesprächen mit den Handlungsmöglichkeiten der Situation und überlässt dann jeweils den Nutzenden die Auswahl. Diese können somit auch entscheiden, welche Handlungen ihrer Meinung nach gut zur Figur passen. Die Konsequenzen der Entscheidungen entfalten sich dann innerhalb der Figurenmotivation – ein großer Unterschied zum reinen Platzhalter-Protagonisten in Tag X oder in klassischen Spielbüchern.

Der zweite wichtige Unterschied ergibt sich aus der Dramaturgie eines Kriminalfalls. In Höllenfeuer dreht sich alles um einen drohenden Terroranschlag auf das Oktoberfest, mit dem auch die Leiche eines Obdachlosen verknüpft ist, der von Jugendlichen angezündet wurde. Anders als in Tag X, wo die Handlung des Hörspiels auf klassisch ergodische Art oft durch die Aktionen der Hauptfigur überhaupt erst entsteht und Untätigkeit oder Entscheidungen “gegen” den vorgesehenen Plot in der tödlichen Sackgasse enden, wird Mav von dem Fall, den sie gemeinsam mit Kriminalassistent Kalli Hammermann lösen muss, einfach mitgerissen. Einmal deswegen, weil die Anschlagsbedrohung eine tickende Uhr ist, die abläuft, ganz egal, was sie tut, aber auch, weil die Ermittlungen in einem Mordfall eine klare Abfolge von Ereignissen (Leichenfund, Obduktion, Befragung von Verdächtigen) besitzen, denen man sich als Kommissarin nur schwer entziehen kann.

Autor Daniel Wild setzt daher in Höllenfeuer auf eine andere Entscheidungsmatrix, die nur noch wenig von einem Labyrinth hat. Er macht sich dafür die Technologie zunutze, welche die interaktiven Hörspiele des digitalen Zeitalters von früheren Inkarnationen (in denen man etwa auf einer CD von Track zu Track springen musste) und von Spielbüchern unterscheidet. Jede Entscheidung erlaubt es nicht nur, die Nutzenden anschließend zu einer von mehreren Szenen weiterzuschicken, sondern auch begleitende Zähler (“Variablen”) im Hintergrund mitlaufen zu lassen. Das Programm, das die Szenen ausspielt, kann sich also vergangene Entscheidungen merken und so an späteren Punkten auf der Basis von Variablenwerten nur bestimmte Entscheidungen anbieten. Der klassische Weg, diese Technologie zu nutzen, der auch vereinzelt in Tag X genutzt wird, ist der eines Inventars. Die Spielenden müssen sich an bestimmten Punkten entscheiden, ob sie einen Gegenstand mitnehmen oder nicht. Später benötigen sie diesen Gegenstand, etwa um eine Tür zu öffnen. Haben sie ihn nicht, können sie nicht durch die Tür gehen und müssen einen anderen Weg wählen oder zurückgehen.

Höllenfeuer nutzt die Variablen auf andere, soziale Art. Es merkt sich, wie die Hauptfigur, gesteuert durch die Entscheidung der Nutzenden, mit ihren Kolleginnen und Kollegen umspringt. Entscheidet man sich zu oft dafür, diese vor den Kopf zu stoßen oder anzulügen, kann Mavi Fuchs noch vor Ende der Ermittlungen gefeuert werden. Doch anders als in einem klassischen Erzählungs-Labyrinth fühlt sich dies weniger an, als hätte man einfach den falschen Weg genommen, sondern wie eine psychologisch folgerichtige Konsequenz aus vorhandenen Handlungen. Höllenfeuer dreht sich über einen großen Teil seiner Laufzeit weniger darum, wie man den Plot der Geschichte beeinflusst, sondern eher, welche Rolle man darin spielen möchte, welche Art von Polizistin man sein möchte. Fair oder unfair? Geduldig oder ungeduldig? Erst Fragen stellen und dann zuschlagen oder umgekehrt?

Erst zum Schluss, am dritten der drei Handlungstage, als die Konfrontation mit den antikapitalistischen Terroristen unausweichlich wird, teilt sich der Entscheidungsbaum wirklich auf und eröffnet den Spielenden mehrere mögliche Enden. Da diese aber nun bereits einige Zeit mit der Protagonistin verbracht haben und sich wahrscheinlich entschieden haben, welche Persönlichkeitsmerkmale sie stärker durch Handlungen ausdrücken wollen, fühlen sich diese Enden tatsächlich wie Alternativen zueinander an. In einem der Enden gelingt es Mav nicht, einen Münchner Komplett-Blackout zu verhindern, doch das wirkt nicht wie ein Scheitern am Spiel, sondern schlicht wie das Ende, das man durch seine Entscheidungen herbeigeführt hat. Ein deutlich befriedigenderes Gefühl als ein Tod im Kugelhagel, weil man sich bei der Wahl zwischen Pest und Cholera falsch entschieden hat.

Mission to Mars: Tanz der Variablen

Schloss Einsteins Mission to Mars (2022), bei dem Daniel Wild als Ko-Autor noch beteiligt war, das aber nicht mehr für den BR, sondern für MDR Next entstand, erscheint wie eine unbewusste Synthese und Weiterentwicklung seiner beiden Vorgänger. (Der WDR hatte dazwischen mit Wild noch ein weiteres interaktives Tatort-Hörspiel namens Lücken produziert, das ich in dieser Analyse allerdings ausklammere.) Ähnlich wie in Höllenfeuer liegt auch in Mission to Mars der Plot nur bedingt in der Hand der Spielenden, die an Bord eines Raumschiffs auf dem Weg zum Mars aufwachen, auf dem roten Planeten bruchlanden und sich gemeinsam mit ihrer restlichen Crew, allesamt ehemalige Protagonist*innen der MDR-Kinderserie Schloss Einstein, zur Mars-Basis durchschlagen. Da die Zielgruppe des Hörspiels Kinder sind und das Hörspiel in mehrere Episoden aufgeteilt ist, die anschlussfähig sein müssen, kann man nicht sterben. Mit anderen Worten: Die wichtigen Plotpunkte passieren, egal wie man sich verhält. Man kann nicht durch “falsches” Verhalten scheitern, weil man nicht korrekt vorhersieht, was die Autor*innen von ihren Spielenden erwarten.

Anders als in Höllenfeuer ist Mission to Mars aber erneut in der Du-Perspektive geschrieben, das heißt die Hauptfigur – ein*e “Weltraumtourist*in”, welche*r die Reise zum Mars gewonnen hat – ist erneut eine Leerstelle, um die sich der Rest des Hörspiels fügen muss. Um den damit verbundenen Schwierigkeiten entgegenzuwirken, nutzt das Autor*innen-Team (neben Daniel Wild waren Dana Bechtle-Bechtinger und Jörg Benne beteiligt) aber verstärkt Variablen, um aus den getätigten Entscheidungen der Spielenden passende Handlungsmöglichkeiten abzuleiten.

Dies beginnt schon vor Beginn der Handlung, wenn die Spielenden in einer Art Charakter-Generierung entscheiden dürfen, ob sie eher sportlich oder intellektuell geprägt sein wollen. Auf der Basis dieser anfänglichen Auswahl bekommen sie später unterschiedliche Optionen angeboten. Andere Konsequenzen ergeben sich in Form von alternativen oder “Bonus”-Szenen am Ende von Handlungsabschnitten. Hat man sich dafür eingesetzt, dass sich das zerstrittene Pärchen, mit dem man unterwegs ist, wieder verträgt, darf man auch Zeuge ihrer Versöhnung werden. Hat man sich in den zwischendurch eingestreuten Wissenstests als besonders verlässlich erwiesen, zollen einem die anderen Charaktere dafür Respekt. Mission to Mars hat wenige alternative Enden. Seine Handlung kann sich aber je nach Entscheidungen dennoch völlig anders anfühlen.

Mitglieder des Redaktionsteams von Mission to Mars haben in Gesprächen mit mir formuliert, dass sie dies als “nutzerzentrierte” Handlungsgestaltung empfanden, ein Begriff, der sonst vor allem aus der Software- und Interface-Entwicklung bekannt ist. Sie geben ihrem Publikum, was es will und kennt (einige der redaktionellen Entscheidungen, etwa welche Figuren zurückkehren sollten, wurden mit Hilfe der Instagram-Community der Serie getroffen), so dass es instinktiv die “richtigen” Entscheidungen trifft und das Ergebnis in jeden Fall interessant und relevant bleibt. Mission to Mars ist, von wenigen Szenen abgesehen, weniger ein interaktiver Text in dem oft begriffenen Sinn eines Irrgartens voller sich verzweigender Pfade. Es begreift vielmehr Handlung selbst als eine Art konstruktivistisches Gebilde, in dem verschiedene Personen die gleichen Momente unterschiedlich wahrnehmen und – als Erweiterung des Ansatzes von Filmen wie Rashomon (1950) – ihren Ausgang auf subtile Weise beeinflussen.

Die Angebote der Interaktion

Wenn wir uns also, wie am Anfang postuliert, tatsächlich fragen, wie wir mit unseren Fiktionen interagieren wollen, machen die interaktiven Hörspiele der ARD verschiedene Angebote. Wir können die eigenschaftslosen Schatten im Zentrum einer Handlung sein, durch die wir uns tasten müssen, bis wir aus dem Labyrinth herausgefunden haben (das erfolgreiche Konzept, das auch Escape Games prägt). Oder wir können die Protagonist*innen durch unsere Entscheidungen überhaupt erst mit Eigenschaften ausstatten und sehen, wie sich die Handlung im Spiegel dieser Eigenschaften entfaltet. (Oder beides.)

Obwohl wir im ersten Fall deutlich stärker an den Kontrollen stehen sollten, schließlich sind es unsere Entscheidungen, die den Fortgang der Erzählung steuern, befinden wir uns aufgrund der begrenzten Handlungsmöglichkeiten eigentlich sehr in der Hand der Autor*innen und ihrer Absichten. Im zweiten Fall haben wir weniger Freiheit, das Ruder unseres Handlungsschiffes wild herumzureißen, doch unsere Entscheidungen fühlen sich wichtiger dafür an, wie wir das Erzählte wahrnehmen. Die Ergodizität ist geringer aber signifikanter. Der Plot, das Syuzhet, bleibt von Nutzer*in zu Nutzer*in ähnlich, die Story, die Fabula aber, ist formbar, ist interaktiv.

Wie auch immer man sich entscheidet, die Smart Speaker, obwohl Ursprung der Projekte und Treiber ihrer Entwicklung, sind nicht das beste Medium dafür. Nicht nur beschreibt etwa Projektleiter Christoph Rieth von MDR Next, dass die junge Zielgruppe von Schloss Einstein sich von Hörspielen am liebsten beim Legobauen berieseln lässt. Deswegen findet sie es eher störend, das Spielen alle paar Minuten zu unterbrechen, um eine Anweisung zu geben, die manchmal vielleicht auch nicht sofort verstanden wird. Wer sich hingegen durch die Browserversionen der Werke klickt, hat auch eine größere Klarheit über seine Entscheidungen, mehr Übersicht über die Szenen sowie mehr Autonomie im Vor- und Zurückspringen während einer Szene. Diese Art von Interaktion ist dann doch irgendwie ganz angenehm.

Beitragsbild von Markus Winkler