Von Luca Mael Milsch
In Ihrem zweiten Roman „The Yield“ erzählt die Aborigine-Australische Autorin Tara June Winch von einer Familie der Wiradjuris im australischen New South Wales, ihrem kulturellen Erbe und dem Einfluss der Kolonialisierung auf die unterschiedlichen Generationen bis heute. Es ist eine Geschichte von Verlust und Wiederaneignung der eigenen Kultur und Sprache, und vom Kampf um die Wahrnehmbarkeit der Lebensrealitäten indigener Menschen in Australien. Ein Kampf, der bis heute anhält. Im September 2020 war die Autorin zu Gast beim 20. ilb in Berlin. Eine Begegnung.
Kein Baum der Welt sollte Asphalt weichen müssen. Das gilt für den Dannenröder Wald ebenso wie für das australische Victoria, wo Ende Oktober 2020 ein 350-Jahre-alter Baum, der Djab Wurrung Directions Tree, gefällt wurde, um für einen Highway Platz zu machen. Dass es sich dabei um einen für die Djab Wurrung heiligen Baum handelt, führte lediglich zu kurzzeitigen Verzögerungen im Betriebsgeschehen. Proteste der Schützer*innen dieses kulturellen Erbes wurden durch gewalttätige Übergriffe der Polizei auf die Protestierenden zerschlagen, der Baum zersägt und abtransportiert. Keine Überraschung bei einer Regierung, deren Wurzeln nicht in der Erde des Landes, sondern in der Kolonialisierung des Bodens liegen und der die Rechte und Werte der indigenen Bevölkerung noch nicht mal zweitrangig erscheinen.
Nördlich von Victoria, in New South Wales, liegt der fiktive Ort Massacre Plains aus Tara June Winchs zweitem Roman „The Yield“, in dem ebenfalls wirtschaftliche Interessen den Lebensraum indigener Menschen zu zerstören drohen. August, Mitte zwanzig, kehrt für die Beerdigung ihres Großvaters Poppy an den Ort ihrer Kindheit zurück und erfährt, dass dieser bald einer Zinn-Miene weichen soll. Anstatt gemeinsam mit den Naturschützer*innen vor der eigenen Haustür zu kämpfen, beginnt sie zunächst, sich auf die Suche nach dem Erbe ihres Großvaters zu machen, einem von ihm verfassten Wörterbuch der Sprache der Wiradjuris.
Dieses Wörterbuch ist das Herzstück von „The Yield“. Darin will der Großvater die eigene Kultur und Sprache erhalten und an die nachfolgenden Generationen weiterreichen. Die Worte, Geschichten und Erinnerungen, die den Roman durchziehen, sind Poppys zentraler Verbindungspunkt zur Weisheit seiner Vorfahren. Dieses Wörterbuch ist Vermächtnis und Ermächtigung gleichermaßen. Es konserviert die Sprache, hält sie fest. Im gleichen Zug setzt Poppy durch die Wiederaneignung seiner Sprache einen Prozess der Heilung in Gang.
Das Wörterbuch als Ort der Erhaltung, Sichtbarmachung und des Empowerments. Die Sprache der Wiradjuri, so wie Winch sie in ihrem Roman verwendet, geht auf Stan Grant Snr. und John Rudder zurück. Beide haben in den 1990er Jahren an der Aufbereitung und Verbreitung der durch die Kolonialisierung teils verloren gegangenen Sprache gearbeitet. Im Wörterbuch des Großvaters wird deutlich, das die Worte der Wiradjuris mehrdeutig, für die deutsche Sprache vielleicht sogar unübersetzbar sind. „Ngarran“ ist so ein Wort. Es beschreibt das Gefühl der Depressivität, Trauer und Leere: eine Mischung aus Weltschmerz, Depressionen und Lethargie, und dem unstillbaren Hunger nach dem ungewissen Etwas, das es füllen könnte. Der Großvater beschreibt damit seine Enkelin August, und es klingt auch in den Worten der Autorin mit, wenn sie über das Erbe spricht, das Australien trägt, über die generationenübergreifenden Traumata, die bis heute fortbestehen. Denn Tara June Winch ist selbst Aborigine-Australisch und verarbeitet in ihrem Roman, an dem sie zehn Jahre gearbeitet hat, auch die eigene Herkunftsgeschichte.
Ebendiese Wiederaneignung der Sprache war aber, und Tara June Winch gibt dieser Perspektive in „The Yield“ einen eigenen Erzählstrang, nur durch die Aufzeichnungen der Unterdrücker möglich. Ein preußischer Missionar berichtet von seinen Erfahrungen Ende des 19. Jahrhunderts in Australien. Er kann als „white gaze“ auf die Wiradjuri Kultur gelesen werden. Gleichzeitig steht er für all jene Menschen, die sich für die „guten Weißen“ halten, und dabei Kulturen zerstören, indem sie Sprachen auslöschen und christlichen Glauben aufoktroyieren. Aber Missionare wie er waren es auch, die Teile der indigenen Sprachen festhielten. Und diese Aufzeichnungen sind es, die vor Jahrzehnten die Sprache wieder rekonstruierbar werden ließen. So schließt sich einer der vielen Kreise des Romans.
„Die Familienstammbäume von Menschen wie uns sind bloß noch Sträucher“, lässt Tara June Winch den Großvater in seinem Wörterbuch sagen, und die Worte klingen mit Blick auf den Djab Wurrung Directions Tree noch einmal anders nach. Auch heute noch erleben Aborigine-Australier*innen soziale Ungerechtigkeit und strukturelle Unterdrückung, von gesellschaftlicher Teilhabe oder Reparationszahlungen kaum zu sprechen. Sie kämpfen für die Erhaltung der eigenen Kulturen und Sprachen, für die Wahrnehmbarkeit der gewaltvollen Geschichte und der aktuellen Lebensrealitäten im kollektiven Gedächtnis, und dem Einstehen für die eigenen Rechte.
So auch Lidia Thorpe. Sie wurde im Oktober 2020 als erste indigene Senatorin ins Parlament von Victoria gewählt und ist damit eine von insgesamt nur sieben Aborigines, die in Australien überhaupt im Parlament vertreten sind. Bei ihrer Vereidigung trug sie einen „Message stick“ bei sich, mit dem sie auf die 441 indigenen Personen aufmerksam machte, die seit 1991 in Polizeigewahrsam gestorben sind; belangt wurde dafür bislang niemand. Genauso wenig, wie in „The Yield“ der Tod von Augusts Schwester in der weißen Mehrheitsgesellschaft größere Beachtung findet: Das Leben einer Wiradjuri scheint – selbst im Falle eines Kinders – im gegenwärtigen Australien keine relevante Nachricht.
Auf die eigene indigene Kultur und Sprache stolz zu sein und die Wahrnehmbarkeit indigener Stimmen in der australischen Öffentlichkeit zu erhöhen, auch dafür arbeitet Tara June Winch, u.a. mit der aus dem US-amerikanischen Raum übernommenen Aktion „Share The Mic Now Australia“. Und nicht zuletzt mit ihren Büchern, für die sie u. a. mit dem Miles Franklin Award und dem Voss Literary Award ausgezeichnet wurde. An einigen Sätzen, so sagt sie, habe sie Monate gesessen. Eine Arbeit, die dem Roman anzumerken ist: Zeilen, die fließen, in denen jedes Wort klingt, vibriert und nachhallt. Sich der Lebenswelt indigener Kulturen durch ihre Sprache zu nähern, die vieldeutigen Wörter und Geschichten der Wiradjuri Kultur zu erhalten, ist eine Verbeugung vor der eigenen Herkunft, vor den Leben der Wiradjuris, zu denen auch Winchs Vater gehört. Möge auch das deutschsprachige Publikum bald die Möglichkeit bekommen, sich vor der kunstvollen Sprache des Romans und der Autorin verbeugen zu dürfen.
Beitragsbild von Manuel Meurisse