Kritischer Schaden – Über Computerspiele und ihre Streitkultur

von Christian Huberts

 

Kritik kann so einfach sein. Eine Person oder Gruppe weist auf einen diskussionswürdigen Aspekt einer Aussage, einer Handlung oder eines Gegenstands hin und die Zieladresse der Kritik wählt – je nach Schwere  der Intervention – aus einem Strauß an Reaktionen: die kritische Position kann ignoriert, zur Kenntnis genommen, abgelehnt, diskutiert, angenommen oder sogar in eine konkrete Veränderung am Auslöser der Kritik übersetzt werden. Im Idealfall steht am Ende zumindest die triste aber einvernehmliche Einsicht, dass man es mit unüberbrückbaren Differenzen zu tun hat. Vielleicht aber eben auch eine bessere Version der Welt, in der die Beteiligten etwas dazugelernt haben, Fehler korrigiert wurden oder sich die Kritik bereits im respektvollen Austausch erübrigte. Jump cut in die zeitgenössische Spielkultur. Alles brennt, alles schreit. Morddrohungen, Friendly Fire, Irony Poisoning, Review-Bomben, Epilepsie-Trigger als Waffe, Cyberpunk 2077 für die PlayStation 4 vorerst gecancelt. Scheise was is pasiert?

Der Ruf von Computerspielen ist aus gutem Grund so gut wie noch nie. Sie sind kulturell, gesellschaftlich und technologisch schlicht zunehmend der state of the art. Gleichzeitig wird der Ruf ihrer Kritikkultur immer schlechter. Sicher, auch in anderen Kulturbereichen gibt es Streit, persönliche Angriffe, öffentliche Pranger und mal mehr mal weniger gerechtfertigte Empörung, aber eine lautstarke und gar nicht mal so kleine Minderheit der Gamer hat die Kritik innerhalb weniger Jahrzehnte in ein libertäres, digital beschleunigtes und Selbstwirksamkeits-besoffenes High-Score-Happening verwandelt; und das umso mehr, wenn es um die Verteidigung des jeweils eigenen, scheinbar fragilen Identitätsmittelpunkts geht. Der kulturelle Export in die Mitte der Gesellschaft läuft auch hier bereits auf Hochtouren und man muss sich die Frage stellen: Wie konnte es dazu kommen, dass unter Zerstörungs-Kampagnen und Bare-Knuckle-Verantwortungsabwehr kaum mehr ein kritischer Gaming-Diskurs möglich scheint?

Von Falschspielern und Spielverderbern

Im November 2020 befinde ich mich selbst im Ereignishorizont eines kritischen Backlash. Das YouTube-Format frontal_ hat ein Video über Nazi-Umtriebe in der Spielekultur veröffentlicht. Ich habe das Glück, als Expertenstimme der Differenzierung in einem Beitrag inszeniert zu werden, der ansonsten einigen Anlass für legitime Kritik bietet. Mit dem finalen Appell, die Rechtsextremen in den eigenen Räumen besser im Blick zu haben, verlangt die ZDF-Produktion jedoch auch nichts Unmögliches, schließlich geht selbst das My Little Pony-Fandom ihrem Problem mit Hakenkreuz-Pferdchen nach. Stand Mitte Januar 2021 geben rund 2.000 User dem Video einen Daumen hoch, mehr als 60.000 zeigen mit dem Daumen nach unten. Personal der Identitären Bewegung trommelte zum Downvote. In den Kommentaren und auf Troll-Twitter wird ein Ende der “Zwangsgebühren” gefordert. Die Redaktion hat zur eigenen Sicherheit ihre Namen unter dem Beitrag entfernt.

Communities, die sich vehement gegen die ernste Intervention von Außen wehren, sind für die Kulturanthropologie kein neues Phänomen. Johan Huizinga beschreibt schon 1938 den verschiedenen Umgang der Spielenden mit “Falschspielern” und “Spielverderbern”. Erstere – etwa Nazis, die Games für ihre Propaganda missbrauchen – spielen zumindest zum Schein mit und werden daher oft geduldet. Letztere – etwa Journalist:innen, die das Problem aufzeigen wollen – gefährden hingegen den konstituierenden Unernst des Spiels. Darum muss der Spielverderber “vernichtet werden, denn er bedroht die Spielgemeinschaft in ihrem Bestand”, wie Huizinga in seinem Buch “Homo Ludens” drastisch schreibt. Ein bekanntes Muster. Trolle sind Falschspieler, die Opfer von Trollen sind Spielverderber, Morddrohungen, Hass und Manipulation, all das kann im Eifer des Spiels als So-tun-als-ob relativiert werden – aber der Appell zum kritischen Reflektieren bringt das Spiel zum Stillstand.

Es ist eine zentrale und sympathische Eigenschaft des Spiels, dass es “Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft”, wie Huizinga formuliert. Und weil es “außerhalb des gewöhnlichen Lebens steht”, spielen körperliche, kulturelle oder weltanschauliche Unterschiede dabei kaum eine Rolle. Gerade bei der Abwehr von Kritik erlaubt diese Eigenschaft jedoch auch fragwürdigste Allianzen. Die antifeministische Bewegung GamerGate suchte ab 2014 offen den Schulterschluss mit rechtsextremen Akteuren. Im Kontext des Videos von frontal_ machten sich tausende Menschen mit den spitzfindigen Reaktionsvideos libertärer Troll-YouTuber gemein, die antimuslimischen Hass als Späßchen relativieren oder schon mehrfach wegen Volksverhetzung vor Gericht standen. Sind die Spielverderber erst markiert – Feminist:innen, Journalist:innen etc. –, formiert sich zuverlässig die Querfront mit den Falschspielern. Das Spiel als Gleichmacher wird zum Gleichgültigmacher.

“Die Killerspiel-Debatte ist vorbei, Rambo!”

Dieser ungebrochene Korpsgeist hatte einmal durchaus eine Berechtigung. Bis in die späten 2000er saßen Gamer dicht gedrängt im Schützengraben eines alarmistischen Kulturkampfes, während ringsum politische und journalistische Hot-Takes auf sie einprasselten. Wie Comics und andere Medien der Jugendkultur zuvor, wurde das digitale Spiel zur ultimativen Ursache für jugendliche Delinquenz erklärt. Während im Rahmen der Lesesucht-Debatte des 18. Jahrhunderts noch Romane wie Die Leiden des jungen Werthers für nicht gemachte Hausarbeit und Gewalt sorgten, war es nun der “Freudenstock mit eingebautem Tötungsknopf”, wie 1999 die Kulturzeit poetisch am Thema vorbeipolemisierte. Noch 2009 fordert Joachim Herrmann, der damalige Innenminister Bayerns, ein Verbot so genannter “Killerspiele” – angelehnt an das Verbot der Missbrauchsdarstellungen von Kindern. Für das vertrauensvolle Verhältnis von Spielkultur und kritischer Positionierung waren diese kenntnislosen Aktionen eher ungut. “Um den Krieg zu überleben, muss man selbst zum Krieg werden”, grummelt John Rambo unheilschwanger aus dem Off.

Aber jeder Krieg endet. Mit fauler Kulturpanik zu Computerspielen macht man sich heute in der Regel lächerlich. Doch während die Politik spätestens mit Sichtung der Merkel-Raute auf der gamescom im Jahr 2017 (und zunehmender Wirtschaftsförderung) weitgehende Absolution genießt, steht der Ruf des öffentlich-rechtlichen Journalismus in der Community weiterhin auf “Lügenpresse”-Niveau. Selbst wenn Redaktionen gewechselt haben und differenzierte Takes dominieren, löst bereits die bloße Nähe zum ZDF-Magazin Frontal21 kollektive Flashbacks an die “Killerspiel”-Debatte aus. Eine unglückliche Text-Bild-Schere (gamer_skimaske_stock-image.jpg) oder zu flapsige Formulierung (“Irgendwas muss ja dran sein…”) kann genügen, um die Angst vor einer Version 2.0 der Debatte zu triggern. Die vermeintliche Rückkehr in den Kriegszustand dient allerdings der Verantwortungsabwehr. Denn ob an der Kritik der Spielkultur vielleicht tatsächlich “irgendwas dran” sein könnte, interessiert jetzt nicht mehr.

Das heißt nicht, dass Kritik an Games generell sinnvoll und gut ist. Talkshow-Clowns wie Christian Pfeiffer beweisen – trotz sicher vorhandener Kompetenz in anderen Bereichen – regelmäßig das Gegenteil. “Wer scharfe Mädels kennenlernen will”, so der Kriminologe letztes Jahr in der sonst aus anderen Gründen fremdschämigen heute-show, sollte nicht beim eSport, sondern im Tanzclub eine flotte Sohle (“Rock’n’Roll”) aufs Parkett legen. Doch in einer der Spielkultur insgesamt wohlgesonnenen Atmosphäre auf jede kritische Anmerkung mit Underdog-Pose und “Killerspiel”-Trauma zu reagieren, ist nicht nur wenig souverän, sondern ausgesprochen schädlich für die Wahrnehmung als ernstzunehmende Kulturform. Das von Huizinga beschriebene, das einzelne Spiel überdauernde Gefühl, “sich gemeinsam in einer Ausnahmestellung zu befinden, zusammen sich von den anderen abzusondern und sich den allgemeinen Normen zu entziehen”, hat seine Grenze dort, wo eben doch Ernst ist. Spielkultur ist Kultur und damit Kritik ausgesetzt.

Emotion Engines

Nur eingeschränkt kann die Kulturanthropologie jedoch erklären, warum der kritische Beef innerhalb der Gemeinschaftsverbände des Spiels sogar noch ein bisschen beefiger erscheint als außerhalb. Schließlich sitzen hier ja alle – Spieler:innen, Produzent:innen, Publisher und Games-Journalismus – im selben “Zauberkreis”? Bei genauerem Hinsehen offenbaren sich allerdings vielfältige Hierarchien, Reibungsflächen und Katalysatoren. Games bieten Selbstwirksamkeit und Teilhabe für alle, aber im Zweifelsfall herrscht das Recht des Stärkeren – gemessen an den Skills oder dem Geldbeutel. PR-Abteilungen befeuern die Leidenschaft ihrer Fans, versprechen Unmögliches und forcieren neue In- und Out-Groups, Gläubige und Häretiker. Arbeiter:innen werden vom Crunch zerrieben, Journalist:innen betteln um verknappte Rezensionsexemplare und Spieler:innen kämpfen um exklusives Involvement. In diesem Spiel wird, wie Johan Huizinga es nennt, mit “heiligem Ernst” gespielt.

Die Lage ist kompliziert. Mit Cyberpunk 2077 wird sie zum perfekten Sturm. Seit dem ersten Teaser im Jahr 2013 wurde der Hype um das Rollenspiel allseits befeuert. Das Entwicklerstudio weckte Heilserwartungen, denen zunehmend nur mit massiven Überstunden (“Crunch”) beizukommen war. Journalist:innen wurden handverlesen und durften dafür exklusiv über potemkinsche Dörfer berichten. Die Spielenden waren “pot committed” wie beim Pokern. Sie hatten viel Geld in Vorbesteller-Boni, Zeit in Fandom und ein Stück ihrer Gamer-Identität versenkt. Die Investoren wollten das volatile Produkt noch im Weihnachtsgeschäft 2020 sehen. Zu früh. Die Enttäuschung entlädt sich. “Der Hype schadet allen”, wie Rainer Sigl schon 2016 schreibt. Er kehrt sich ins Gegenteil um, erzeugt nun Resonanz und Selbstwirksamkeit aus Destruktivität. Häme, massenhafte User-Reviews, lebensgefährliches Getrolle. Cyberpunk 2077 muss vernichtet werden. Und/oder die Kritik am Gegenstand. Dissonanzabwehr mit allen (digitalen) Mitteln.

Das Metagame

Wenn Spieler:innen außerhalb des Game neue Spielstrategien entwickeln, optimieren und austauschen, wird das als Metagame bezeichnet. Wer sich nicht mit dem Spiel zwischen den Spielen auseinandersetzt, sieht gerade in wettbewerbsorientierten Games keine Sonne mehr. Jedes Update, jeder Patch, jede Erweiterung kann das Metagame völlig durchschütteln und viel semi-wissenschaftliche Forschung am Spiel, auch “Theory Crafting” genannt, wertlos machen. Der Frust darüber entlädt sich beispielsweise 2013 in Form von massenhaften Morddrohungen an einen Entwickler von Call of Duty: Black Ops 2, nachdem ein Patch mehrere Gewehre in ihrer Effizienz reduziert hatte. Das Metagame wächst, bezieht dank Social Media zunehmend auch soziale Manipulation mit ein. Koordinierte Drohungen, User-Reviews und Social-Media-Kampagnen sollen hinreichend Druck aufbauen, um Entwickler:innen zum Einlenken oder Kritiker:innen zum Schweigen zu bringen. Wer das Metagame beherrscht, hat Deutungshoheit über das Game.

Es ist ein kurzer Weg, von den auf 4chan entwickelten Einschüchterungsstrategien für die GamerGate-Front, über gezielte Raids zur Manipulation der öffentlichen Meinung durch die “Vereinigung von Gamern und LARPern” Reconquista Germanica, über den “Shitstorm von Rechts” #OmaGate, bis hin zu alternativen Medien-Ökosystemen, die Teilhabe am Alternate Reality Game der Verschwörungsideologie anbieten. Im Jahr 2009 erklärt der Spielentwickler Eric Zimmermann in seinem Aufsatz “Gaming Literacy” das Verstehen und Gestalten von Spielsystemen zur zentralen Kompetenz für die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts. Wie andere digitale Utopien zuvor, hat auch diese einen dystopischen Twist. Denn auch Ulf aus der Feldenkrais-Gruppe kann seinen Telegram-Kanal nun mit ludischem Halbwissen zur interaktiven Schnitzeljagd hochjazzen. Nicht mehr Argumente und Tatsachen zählen, sondern erlebte Selbstwirksamkeit und crowd-gesourcte Meme mit kritischem Schaden. Gamifizierte Mitmach-Kritik ist OP – overpowered.

Games sind nicht verantwortlich für die neuen, gesellschaftlichen Spiele, aber ihre kulturellen Konflikte haben jene Blaupausen erprobt, die heute fast nahtlos in die Metapolitik extremistischer Akteure übergehen. Auch wenn vermeintlich unpolitische Jungaktionäre mit GameStop-Aktien gegen Hedgefunds kämpfen, schwingt die Gefahr der Anschlussfähigkeit für Falschspieler mit: ‘It’s really about ethics in the stock marked!’ Die Ziele der Kritik sind flexibel, die Backstories ändern sich, das digitale Metagame bleibt gleich. Spielerischer Wettbewerb um optimierten Schaden. Die Demokratie muss lernen mitzuspielen, um das Metagame zurück in die Spielregeln eines freiheitlich-demokratischen Diskurses zu integrieren. Unsere geteilten Spielregeln dürfen nicht länger Experimentierfeld libertärer 4chan-Thinktanks sein. “Wer den objektiven Wert des Rechts und der sittlichen Normen leugnet, wird nie die Grenze zwischen Spiel und Ernst finden”, weiß Huizinga. Im Zweifelsfall braucht es kritische Spielverderber.

 

Photo by Pawel Kadysz on Unsplash

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner