von Marcel Inhoff
Lyrik ist die literarische Gattung, die häufig ein Dasein im Schatten der erzählenden Prosa führt. Gerade im politischen Diskurs sind es die Reden, Romane und Fernsehserien, die die meiste Aufmerksamkeit bekommen. Am 20. Januar 2021 stand jedoch eine junge Schwarze Lyrikerin im Zentrum der Aufmerksamkeit – Amanda Gorman las auf Einladung von Dr. Jill Biden ein Gedicht bei der Amtseinführung von Joe Biden und Kamala Harris. Es war erst das sechste Gedicht überhaupt, das bei einer Amtseinführung gelesen wurde – und die Wirkung ihres Textes und Vortrags war so außerordentlich, dass sie, als erste Lyrikerin, eingeladen wurde, auch beim Super Bowl am 7. Februar ein Gedicht zu lesen (“Chorus of the Captains”).
Dass sie außerdem auf dem Cover des Time Magazine am 15. Februar sein wird – als erste reine Lyrikerin, der diese Ehre zuteil wird, seit Robert Lowell 1967 – ist ein weiterer Beweis dafür, dass Gorman eine besondere und wichtige Position in der amerikanischen Lyrik einnimmt. Ihr Auftritt – vom Vortrag bis zu ihrem Outfit – war so bemerkenswert und entsprechend diskutiert, dass die Qualität des Textes selbst und seine Bezüge oft aus dem Blick gerieten. Um diese Bezüge zu erkennen und einzuordnen, bedarf es eines geweiteten Blicks in die Geschichte der amerikanischen Lyrik.
“The Theft Outright” – so heißt ein Gedicht der Ojibwe-Lyrikerin Heid E. Erdrich, in dem die Autorin sich 2008 mit einem der bekannteren Gedichte der Amerikanischen Literatur auseinandersetzt, Robert Frosts „The Gift Outright.“ Frosts Gedicht ist ein poetischer Anruf der amerikanischen Landschaft und eine Identifizierung mit dem Land als solches. Es ist in Frosts Gedicht erst die Begegnung mit der Landschaft, die aus den britischen Siedler*innen überhaupt erst Amerikaner*innen macht; dabei erfindet Frost eine Verbindung zwischen dem Kontinent und seinen zugereisten Bewohner*innen, die noch vor deren Anreise besteht: „[t]he Land was ours before we were the land’s.“
Frost blendet in diesem Moment die eigentlichen Bewohner*innen des Landes nicht nur aus, er negiert ihre Existenz und ihre Kultur. In einem Nebensatz gegen Ende des Gedichts bezeichnet er das Land, bevor weiße Siedler*innen gen Westen zogen, als „still unstoried, artless, unenhanced,“ also ein Land ohne Geschichten und Geschichte. Dem stellt Erdrich gegenüber: „[w]e were the land before we were people.“ „Wir“ gehörten dem Land, bevor es uns gab, wir sind diesem Land entsprungen: Ein wir, das bei Frost ausgeblendet ist, ein wir, dessen Geschichte er explizit diskreditiert.
„The Theft Outright“ markiert damit das Nachwirken einer Irritation. Frosts Gedicht ist ein fester Teil des Kanons – und nicht nur des literarischen, sondern auch der des politischen Diskurses. Zugleich ist das Gedicht das erste, das je bei einer Inauguration-Zeremonie eines neuen Präsidenten gelesen wurde. John F. Kennedy lud den bereits betagten Dichter zu seiner Amtseinführung ein. Anstatt aber das Gedicht, das er für den Anlass eigens geschrieben hatte („Dedication“) zu lesen, deklamierte Frost sein Gedicht „The Gift Outright“. Frosts Gedicht schrieb seine Vision amerikanischer Geschichte – geboren aus dem gewalttätigen Kolonialismus und in die Zukunft gerichtet – in die moderne politische Geschichte ein. Kein Wunder, dass es bei denjenigen, die diesem Prozess in vielerlei Hinsicht zum Opfer gefallen waren, nachdrückliche Verletzungen hervorrief.
Die Entscheidung, bei der Amtseinführung von Joe Biden und Kamala Harris, nun die Dichterin Amanda Gorman lesen zu lassen, wirkt wie eine Antwort auf diesen politisch-literarischen Akt. Amanda Gorman ist keine Unbekannte – 2014 wurde die 1998 geborene Dichterin zur Youth Poet Laureate von Los Angeles, 2017 gar zur National Youth Poet Laureate ernannt – und „The Hill We Climb,“ ihr Gedicht, das sie am 6. Januar vortrug, passt sich in ihr bisheriges Werk ein.
Bereits ein früheres Gedicht von Gorman, „In This Place (An American Lyric),“ gelesen bei der Amtseinführung der National Poet Laureate Tracy K. Smith, lässt sich als eine Antwort auf Frost lesen, und eben auch als Erklärung für ihre Einladung. „There’s […] a poet in every American / who rewrites this nation” schreibt sie da. Ein Gedicht, in dem die Frage, wessen Land es ist, explizit anders beantwortet wird: „How could this not be her city / su nación / our country / our America.” Das Land gehört denen, die daran mitarbeiten, die an seiner Geschichte mitschreiben. Rewrite – umschreiben. Nicht, wie bei Frost, neuschreiben. Stattdessen: eine Kollaboration, ein Gespräch. Frosts Vision ist eine des gewalttätigen Konflikts, wobei auch Genozid, gewissermaßen, dazugehört, wie in dem früheren, brutalen Gedicht „The Vanishing Red.“ Da wird der Mord an einem Mann, der als „the last Red Man / in Acton“ bezeichnet wird, indirekt als notwendiger Auswuchs des Fortschrittes gelesen und auch gerechtfertigt, als unausweichlich. Gorman ist also ein Gegenentwurf zu Frost – und eine Autorin, die sich anspielungsreich zwischen Lyriktradition, politischer Klugheit und popkulturellen Bezügen bewegt. Das trifft in besonderem Maß auch auf “The Hill We Climb“ zu.
Gormans Text wirkt nur auf den ersten Blick einfach und leicht verständlich. Dass er so zwischen und im Gespräch mit unterschiedlichen Traditionen steht, macht es jedoch zu einer Herausforderung, die Anspielungen und Verweise zu verstehen und einzuordnen. Man wird dem Text und dem Vortrag Gormans zum Beispiel nicht gerecht, wenn man den Vers „Scripture tells us to envision that everyone shall sit under their own vine and fig tree and no one shall make them afraid“ lediglich als Bibelzitat versteht (was er natürlich auch ist – das ganze Gedicht nimmt immer wieder Bezug speziell auf das Buch Micha) – tatsächlich zitiert Gorman hier eine Zeile aus dem Musical Hamilton, in dem Lin-Manuel Mirandas George Washington zum Abschied in „One Last Time“ singt: „Like the scripture says: “Everyone shall sit under their own vine and fig tree / And no one shall make them afraid.“
Wenn deutsche Kritiker da nun von „Codes und Metaphern der Sklaven“ sprechen, dann übersehen sie, dass es Gorman mit ihrem Gedicht um ein Fortführen eines aktiven Gesprächs geht. Wie sie in „In this Place“ schreibt, arbeitet sie mit an „our American lyric to write – / a poem by the people.“ In der Phrase „American Lyric“ schwingt auch das Buch von Claudia Rankine („Citizen: An American Lyric“) mit, ein Langgedicht über Rassismus und was es bedeutet, als Schwarze*r Amerikaner*in Bürger*in und Mitbürger*in zu sein. Gorman nur auf eine Erzählung zu reduzieren verkennt, in welcher breiten Tradition ihr Text steht.
Auch in ihrem Super Bowl Gedicht “Chorus of the Captains” werden “the people” in den Mittelpunkt gerückt – ein Text, der auch dem Einfluss Carl Sandburgs viel verdankt – schon Richard Blancos Inauguration Gedicht “One Today” folgte nachdrücklich in Sandburgs Spuren. Dazu kommt, dass Kommentare oft den Pathos und die scheinbar einfache Rede von Gormans Gedicht dem politischen Zweck zuschreiben – aber gerade das Werk von Autoren wie Robert Frost ist geprägt von rhythmischer und lexikalischer Simplizität. Dazu kommt der Themenkomplex Religion. Aufgrund dessen, was man über Afroamerikanische Menschen zu glauben scheint, wird Gorman manchmal auf „Gospel“ reduziert – tatsächlich ist Gorman (wie John F. Kennedy und Joe Biden) katholisch, und in ihrer Gemeinde beeinflusst u.a. von Befreiungstheologie (was nicht bedeutet, dass Gospelmusik in ihrer Gemeinde kein Teil der Liturgie ist). Das Thema Christentum und Sklaverei ist ohnehin weitreichend.
Aber wenn man Gormans Text auf eine theologisch spezifische religiöse Erzählung reduzieren möchte, besteht nicht nur die Gefahr, dass man in der Zuordnung falsch liegt, sondern man unterschlägt auch, dass Religion in der amerikanischen Kultur mehrdeutig ist. Dass Gorman nach ihrem Auftritt bei der Amtseinführung am 7. Februar auch im Rahmen des Super Bowls auftrat, ist nur folgerichtig. Der passende Begriff hier ist Zivilreligion, ein von Robert Bellah geprägter Terminus, den Bellah bezeichnenderweise in einer Analyse von John F. Kennedys Antrittsrede entwickelte.
Für Bellah existiert ein religiöses Grundgefühl, das die amerikanische Gesellschaft durchzieht, eine grundlegende Erzählung, die das Land durch seine Krisen und Phasen begleitet. Diese religiös-literarischen Erzählungen sind politisch neutral – sie werden, wie Bellah nachdrücklich erklärt, auch für „petty interests and ugly passions“ verwendet – aber sie sind ubiquitär. Das verbindet die Zivilreligion auch und gerade mit dem Werk von Robert Frost. Frosts Gedichte werden häufig in politischen Debatten im amerikanischen Parlament zitiert, und zwar von Demokrat*innen und Republikaner*innen. Es sind nicht Frosts Gedichte über den identitätsstiftenden Genozid, sondern mehr die vieldeutigen Klassiker, oft missverstanden, wie „The Road Not Taken.“
Frosts Bildsprache und sein eigensinniges Verhältnis zu Religion und Nation sind in diverse politische Debatten eingeschrieben: das politische – aber nicht exakt zuzuordnende – Pathos ist ein entscheidendes literarisches Element einer politischen Kultur. Die Ubiquität der amerikanischen Zivilreligion zeigt sich nicht zuletzt auch im Sport – und da besonders im Football, dessen Höhepunkt das Spiel um die Meisterschaft ist. In der NFL, der Football-Liga, hatten sich in den letzten Jahren gesellschaftliche Konflikte um Polizeigewalt und Rassismus auf dem Rasen wiedergefunden, speziell in der Entscheidung einiger Spieler, darunter des Quarterbacks Colin Kaepernick, während der Nationalhymne zu knien, um einen Dissens auszudrücken – und zwar in der Sprache des Rituals selbst. Im vergangenen Jahr trug Jennifer Lopez, die auch bei Bidens Amtsantritt auftrat, während ihres Auftritts in der Halbzeit des Superbowl für einen kurzen Moment einen Umhang mit der Flagge Puerto Ricos.
Es passt also in mehrfacher Hinsicht, dass Gorman in diesem Jahr dort ein Gedicht vortrug. Robert Bellah erklärt, dass die amerikanische Zivilreligion kontinuierlich reformiert werden muss, erweitert, erneuert. Nichts mehr – und nichts weniger – ist dem literarischen Projekt Amanda Gormans eingeschrieben. Frosts Gedicht betont die Unterordnung der Siedler*innen unter den Willen und die Form des Landes. „We gave ourselves outright / […] To the land […] / […] such as she will become,” eine moralische Passivität, die bei Frost Gewalt zwar nicht entschuldigt, aber ermöglicht. Gorman bietet eine Korrektur an: eine Ethik des gemeinsamen Handelns, und ein unverstellter Blick auf die Zustände: „For there is always light, / if only we’re brave enough to see it. / if only we’re brave enough to be it.”
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