Teilhabe ist kein Kampfsport

von Selim Özdoğan

Wenn am Samstag in der ARD die Sportschau lief, wurde im zweiten Programm zeitgleich die Serie Kung Fu ausgestrahlt. Alle vierzehn Tage verzichtete mein Vater auf die Sportschau und wir schauten gemeinsam die Serie. David Carradine spielt einen Mann namens Caine, der Mitte des 19 Jahrhunderts als Waise in China einem Shaolin-Kloster aufwächst und dort in Kampfkunst unterrichtet wird. Als er einen Adeligen tötet, muss er fliehen. So kommt Caine nach Amerika, spricht meist wenig, erinnert sich an die Weisheiten seiner Ausbildung und strahlt Gleichmut aus. Gegen Ende der Folge gilt es dann meist, ein Leben zu verteidigen und Caine zeigt seine Kampfkunst. Ich mochte diesen scheinbar passiven, schweigsamen Helden, der während seiner Ausbildung etwas in sich gefunden hatte, das die wenigsten fanden. Viele Jahre vergingen, bevor ich verstand, was mein Vater da für mich und für uns getan hatte. Und es vergingen noch viel mehr Jahre, bis ich erkennen konnte, was die Serie sichtbar machte, ohne es zu wollen.

Es gibt unterschiedliche Ansichten darüber, ob Bruce Lee an der Entwicklung der Serie beteiligt war. Seine Frau Linda Lee Cadwell schreibt, dass er ein Konzept entworfen hatte, in dem ein Kung Fu Meister in einem amerikanischen Wild-West-Szenario Abenteuer erlebt.  Andere sehen Ed Spielmann als Urheber der Serie. Gesichert ist, das Bruce Lee im Gespräch für die Hauptrolle war. Darüber, warum die Rolle dann anders besetzt worden ist, gibt es wieder verschiedene Ansichten. Ob es an seinem Akzent lag, an seinem Aussehen oder seiner Körpergröße ist irrelevant. Nirgendwo werden seine schauspielerischen Fähigkeiten oder gar seine Kampfkunst in Frage gestellt.

Er selbst sagte dazu: „Sie denken, dass es geschäftlich ein Risiko darstellt. [Ihm die Hauptrolle zu geben] Ich mache ihnen keine Vorwürfe. Wenn die Situation umgekehrt wäre und ein amerikanischer Star nach Hongkong kommen würde und ich der Mann mit dem Geld wäre, hätte ich meine eigenen Bedenken, ob die Akzeptanz da wäre.“
Ich denke, Bruce Lee ließ sich hier blenden: Ausgrenzung sieht nicht besser aus, wenn sie sich den Mantel der Wirtschaftlichkeit überzieht, nur versteckter vielleicht. Egal, wie die exakte Motivation für die Nichtbesetzung ausgesehen haben mag, hat sie ohne Zweifel etwas mit Bruce Lees Herkunft und Aussehen zu tun. Ausgrenzung aufgrund ethnisch gelesener Merkmale nennen wir Rassismus.

Diese Ausgrenzung wird durch den Inhalt der Serie kontrastiert. Die Diskriminierung chinesischer Einwanderer im Wilden Westen, die Bedingungen, unter denen sie beim Bau der Eisenbahn arbeiteten, das Unrecht, das sie erleiden, das Verbot der Einwanderung ostasiatischer Frauen, das alles wird in der Serie thematisiert und angeprangert. Man kann sagen, dass ein Bewusstsein für den damaligen Rassismus geschaffen wird. Nebenbei bekommt der Zuschauer einen Einblick in eine chinesische Lebenswelt, deren Werte, Traditionen und Philosophie. Auf der Oberfläche, der Serie, sieht es deswegen so aus, als wäre man ganz klar gegen Ausgrenzung. (Dass die Indigenen stereotyp dargestellt werden und dass alle anderen gegen sie zusammenhalten, spare ich hier aus.)

Die Serie ist in dieser Form aber nur entstanden, weil man sich gegen einen Asiaten in der Hauptrolle entschieden hat. Mit einem Asiaten hätte es sie nicht gegeben. Die Struktur, die die Serie ermöglicht hat, ist ausgrenzend. Die Serie selbst bezieht Stellung gegen Ausgrenzung. Man kann versuchen diese beiden Ebenen voneinander zu trennen, indem man die Machtfrage stellt: Wer entscheidet, wie besetzt wird? Wer entscheidet, welche Inhalte nach der Besetzung transportiert werden? Und wie sie transportiert werden? Und wer streicht die Gewinne ein?

Jackie Chan, um grob im Genre zu bleiben, hat in vielen amerikanischen Produktionen die Hauptrolle gehabt. Hätte Bruce Lee länger gelebt, hätte er wahrscheinlich auch Hauptrollen in den USA bekommen. Doch auch wenn das ein Fortschritt ist, geht es genau darum nicht. Es geht darum, wer das entscheidet. Teilhabe bedeutet nicht, dass der Kuchen verteilt wird, sondern auch wer den Kuchen verteilen darf. Teilhabe heißt nicht, dass man Einzelne missbrauchen kann, um zu demonstrieren: Schau, wir grenzen gar nicht aus. Teilhabe heißt nicht, dass das primäre Interesse an Einzelnen finanziell ist. Teilhabe bedeutet an Entscheidungsprozessen beteiligt zu sein und eine Stimme zu haben, die nicht lauter oder leiser ist als die der vermeintlichen Mehrheit. Die nicht mehr oder weniger gehört wird, sondern eine Stimme, die gleich viel wiegt.

Ausgrenzungen primär bei Rechten zu suchen, lenkt davon ab, wie sehr sie institutionalisiert und normalisiert sind. Es waren keine Rechten, die Bruce Lee, die Hauptrolle verwehrt haben, denn dann hätte der Inhalt der Serie anders ausgesehen. Es sind keine Rechtsextremen, die in diesem Land ausgrenzende Politik betreiben.

 
Damals haben die Auslandsreisen, häufig Verwandtschaftsbesuche in der Türkei und auf dem Balkan, phasenweise rund 50 Prozent der Neuinfektionen bei uns ausgelöst. Das müssen wir in diesem Jahr verhindern.

Wir haben das Problem mit Männlichkeit, Ehre und Gewalt gerade in migrantischen muslimischen Familien.

Zuwanderer aus der Türkei und arabischen Ländern haben mit der Integration größere Schwierigkeiten als Zuwanderer aus anderen Ländern.“

Keines dieser Zitate stammt von einer Person, die als rechtsextrem oder gar als Nazi gelesen wird. Es sind alles Menschen in Machtpositionen. Es hat keine rechtsextreme Partei gebraucht für eine Rückkehrerhilfe unter Kohl, es hat keine Rechten gebraucht, als Volker Rühe maßgeblich zu einem Klima beigetragen hat, in dem es Brandanschläge gab. Nachdem die Süssmuth-Kommission festgestellt hat, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, war es Merz, der mit der Leitkulturdebatte verdeutlichen wollte, wer alles nicht dazu gehört. Es hat keine Rechten gebraucht, um Sarrazin durch all diese Talkshows zu hofieren. Es hat keine Rechten gebraucht um nach Sylvester 2022 nach den Vornamen der Verdächtigen zu fragen.

Auch wenn ich Namen nenne, geht es nicht darum Schuldige zu finden und zu benennen.  Sondern um Kontinuitäten und die Strukturen, die damit geschaffen werden. Es wird verankert, dass es legitim ist, Gruppen von Menschen aufgrund eines oder mehrerer Merkmale zu stigmatisieren und abzulehnen. Innerhalb einer solchen Struktur wird es zwangsläufig Personen geben, die entsprechend handeln.

Wenn nun Menschen auf den Straßen gegen Rechte demonstrieren, sieht das für mich so aus, als würde da etwas auf der Ebene des Serieninhaltes passieren. Die Ausgrenzung von rechts wird als problematisch erkannt. Das ist wichtig und richtig. Auf der Ebene der Besetzung der Serie existiert bereits eine ausgrenzende Struktur, die weniger in Frage gestellt wird. Kurz nach den Demonstrationen gegen den Rechtsruck wurde eine Bezahlkarte für Asylbewerber beschlossen, die nur stigmatisierend sein kann. Solche Entscheidungen finden auf der Ebene der Verantwortlichen hinter einer Serie statt, in deren Inhalt Menschen auf die Straße gehen und demonstrieren. 

Mein Kung Fu-Lehrer sagt regelmäßig: „Erspart es mir bitte an dieser Stelle Bruce Lee zu zitieren.“ Er findet das Zitat abgegriffen. Doch an dieser Stelle hilft es vielleicht, um sich der Sache noch einmal anders zu nähern. „Wenn man Wasser in eine Tasse füllt, nimmt es die Form der Tasse an. Füllt man es in eine Flasche, wird es zur Flasche, füllt man es in einen Teekessel, wird es zum Teekessel.“, sagt Bruce Lee.

Wenn wir gegen Ausgrenzung vorgehen wollen, dann ist die entscheidende Frage auf welcher Ebene das geschieht. Auf der Ebene des Wassers, wird es schwer dauerhaft Veränderung herbeizuführen. Wenn die Struktur, in die wir etwas hineingeben ausgrenzend ist, dann wird auch bei ehrlichem Bemühen, am Ende nur Ausgrenzung herauskommen können.

Wir brauchen Veränderung auf der Ebene der Tasse, nicht auf der Ebene des Wassers. Wir brauchen Veränderung in der Struktur, nicht in einzelnen Inhalten. Die Serie Kung Fu war gegen Ausgrenzung, hat aber an der Struktur dessen, wie Serien entstehen, wenig geändert.

Ein Mensch kann erkennen, dass ein Mangel an Bewegung ihm nicht gut tut. Er kann darüber reden. Er kann ein Bewusstsein dafür schaffen. Er kann darüber diskutieren. Kluge Argumente finden. Seine Ernährung umstellen. Er mag den Bewegungsmangel exakt benennen können. Inklusive der möglichen Gegenmaßnahmen. Er mag die Muskelgruppen kennen, die es zu stärken gilt, mit lateinischem Namen. Solange er an seinem Tagesablauf und seinen Ritualen nichts ändert, solange die Struktur seines Tages gleichbleibt, wird es keine Veränderung geben. Wenn die Struktur seines Tages Bewegung vorsieht, ist es irrelevant, ob und wie gut er die Funktion von Bewegung für seine Gesundheit versteht.

Man kann Mikroaggressionen bewusst machen und minimieren, man kann ausgrenzendes Vokabular aus Büchern streichen, man kann die Aussprache von Namen lernen und auf Plakatwänden eine existierende Vielfalt spiegeln, man kann den Rassismus Einzelner öffentlich anprangern, solange das alles in eine Form gegossen wird, die es legitimiert Gruppen von Menschen gegeneinander zu positionieren, wird sich nicht viel ändern, fürchte ich.

Es geht nicht darum, ein Spiel zu spielen, wo die einen sich ausgegrenzt fühlen und die anderen versuchen eine Sensibilität für die Ausgrenzung zu entwickeln, und wieder andere ausgrenzen, weil sie einen Vorteil darin sehen. Es geht nicht um individuelles Empfinden und Schuld. Es geht nicht darum, dass es die eine Seite gibt und die andere. „wir dürfen die wunden nicht nach herkunft, religion sortieren“, schreibt Dinçer Güçyeter. Wir dürfen aber auch das Ansehen nicht so sortieren, die Rechte, die Freuden, den Anspruch auf Teilhabe. Es geht darum, bereit zu sein, andere als gleichwertig zu betrachten. Das scheint mir die Idee von Demokratie zu sein. Es geht darum gemeinsam zu überlegen, wie eine Struktur geschaffen werden könnte, die eine Begegnung ermöglicht, bei der wir auf niemanden herabblicken. Ich finde es hilfreich sich jedes Mal zu fragen: Auf welcher Ebene findet hier eine Veränderung statt? Auf der Erzählebene der Serie oder in den Bedingungen, unter denen wir die Hauptrollen in unseren Leben spielen?

Foto von Wesley Tingey

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