von Anne Fritsch
Fünf Jahre war Lilienthal Intendant der Münchner Kammerspiele. Fünf Jahre, die vor allem eines waren: turbulent. Fünf Jahre, in denen er es dieser Stadt nicht leicht gemacht hat – und die Stadt es ihm ziemlich schwer. In denen er auf seinen Pressekonferenzen Spezialitäten aus dem Libanon servierte und bei diversen Interviews grünen Tee einschenkte. Fünf Jahre, in denen er diese Stadt und ihr Theater verändert hat. In denen er sich politisch engagiert hat und dafür angefeindet wurde. Fünf Jahre, in denen er sich seinen Platz hier erkämpfte. Und nach denen er dieser Stadt fehlen wird.
Man hört, in seinen Münchner Anfangszeiten wurde Matthias Lilienthal mal für den neuen Hausmeister gehalten, nicht für den zukünftigen Intendanten der Kammerspiele. Sein Style war einfach so gar nicht Maximilianstraße, so gar nicht Theaterchef. Schlabbershirt, Jeans und Kapuzenjacke wurden zu seinen vieldiskutierten Markenzeichen. In einem Vorab-Portrait, das 2015 im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschien, wurde er beschrieben als „ein großer, schwerer Mann im schlabberigen sonnengelben T-Shirt, das nicht den Verdacht erweckt, je in Mode zu kommen“. Lilienthal war rein äußerlich ein Exot, ein Berliner in München. Einer, der konsequent alle duzt, denen er über den Weg läuft. Einer, der keinen Wert auf Statussymbole legt. Aber auch ein sehr angenehmer Gesprächspartner, der auch über schwierige Themen offen spricht (und von denen gab es einige in den letzten Jahren).
Seinen Abschied feierte er im Olympiastadion, seinem Lieblingsort in München, weil der so offen und demokratisch sei. Eigentlich hatte er zu seinem Finale nochmal ganz großes Kino geplant: „Olympia 2666“, eine 24-Stunden-Theater-Tour-de-Force durch die Stadt, frei nach Roberto Bolaños Roman „2666“. Doch dann kam Corona. Und Lilienthals Finale wurde abrupt ausgebremst. Nach dem Lockdown habe ich ihn im Olympiastadion getroffen, das eine der Stationen von „Olympia 2666“ gewesen wäre. Wie immer kam er mit dem Radl. Zum gelben T-Shirt trug er eine farblich passende Kurier-Tasche und einen ebenso abgestimmten Mund-Nasen-Schutz. Zufall? Oder doch ein Hauch von Style-Bewusstsein?
Er war nicht so niedergeschlagen wie erwartet. Auf die Corona-Krise reagierte er pragmatisch: „Wie kriege ich den Laden und mich über die nächsten 24 Stunden? Solange im Theater alle gesund bleiben, ist alles gut.“ Die noch geplanten Produktionen? „Luxusprobleme.“ Kurzerhand eröffnete er die „Kammer 4“, die virtuellen Kammerspiele. Sie streamten und spielten Live-Cam-Performances. Und auf einmal wurde deutlich, wie flexibel das Kammerspiel-Ensemble geworden war. Die Schauspielerin Gro Swantje Kohlhof improvisierte mal eben sämtliche Harry-Potter-Romane aus ihrem Jugendzimmer in Hamburg, in das sie sich während des Lockdowns zurückgezogen hatte. Jeden Mittwoch versammelte sich eine wachsende Fangemeinde vor dem Bildschirm zu diesem ganz speziellen und unglaublich charmanten Zoom-Meeting, das in einer Zeit größter Vereinzelung Routine und einen Live-Moment bedeutete. Von Folge zu Folge gesellten sich auch Kolleg*innen dazu, Kohlhof spielte sich durch ihr Elternhaus, durch ein Hotelzimmer und am Ende durch die verwaisten Kammerspiele. Eine tröstliche Begleitung zurück zu einer allmählich wieder erwachenden Normalität.
Irgendwie überrascht es nicht, dass Lilienthal souverän auf die Krise reagierte. Sie war nicht die erste seiner Intendanz. Als er 2015 nach München kam, mitten in der Flüchtlingskrise, war klar, dass er sich auch politisch engagierte: Er kämpfte für das Bellevue di Monaco, ein Wohn- und Kulturzentrum für Geflüchtete mitten in der Stadt. Mit dem Bayerischen Flüchtlingsrat veranstaltete er eine „Internationale Schlepper- und Schleusertagung“, die eine Debatte anregen sollte, zudem aber einen Shitstorm aus der rechten Szene auslöste. Vor dem Theater demonstrierte die AfD, Lilienthal wurde in einem Brief an seine Privatadresse bedroht. „Ich habe das zur Seite gelegt, ignoriert und nachts meine Wohnungstüre abgeschlossen“, erzählte er damals. „Ich will meinen Lebensstil dadurch nicht verändert sehen.“ Passiert ist zum Glück nichts.
Die nächste Krise allerdings traf Lilienthal empfindlicher. Es ging um das Theater, das er machte. Das sehr Berlin war und weniger München. Lilienthal hatte unterschätzt, wie viel Konflikt vermeintliche Kleinigkeiten in dieser Stadt auslösen können. Schon dass er die Spielstätten Schauspielhaus, Werkraum und Spielhalle umbenannte in „Kammer 1, 2 und 3“ (nach dem Vorbild HAU in Berlin, das er lange geleitet hatte) empfanden viele als Affront. Dass er zudem die Konstante „Schauspielhaus gleich große Dramen und Klassiker“ auflöste und stattdessen freie Gruppen wie Rimini Protokoll und She She Pop in die heiligen Hallen holte, war für viele schwer zu verkraften. Lilienthals Theater ist immer auch ein postdramatisches. Eher Reflexions- und Begegnungsort als Kunsttempel. Sein Verständnis von Theater ist das Gegenteil von elitär, bei ihm gibt es nicht das eine Projekt, mit dem das Theater in die Stadt geht. Er will vielmehr die ganze Stadt im Theater. Oder eben: die Zuschauer aus dem Theater in die Stadt bringen wie mit den Shabby Shabby Apartments, mit denen er seine Intendanz startete.
Überall in der Stadt bauten die Kammerspiele provisorische Behausungen auf, Baumhäuser, Matratzenburgen, Wolken- und Kuckucksheime. Mitten in der Stadt stand da plötzlich ein Streugutsilo mit Rapunzelzöpfen an der Corneliusbrücke, ein gestrandetes Schiff auf dem Gärtnerplatz, eine Behausung aus Altkleidern vis-a-vis des Hotels Vierjahreszeiten. Für eine Nacht (und wenig Geld) konnte man sich einmieten in eines der Häuschen. Ich fand mich in einem Provisorium aus Balken und transparenter Folie im Rosengarten an der Isar wieder, unter dicken Daunendecken wie in einem Hotel, nur eben mitten in einem Park. So eine Nacht draußen in der Stadt an einem Ort, wo man eigentlich nicht schlafen darf, ist schon ein Abenteuer. Eines, das das Bewusstsein für die Umgebung schärft. Am Morgen danach gab es Croissants und Kaffee mit Lilienthal in der Theaterkantine. Es war ein schöner Start, ein verbindlicher. Einer mit Bezug zu dieser Stadt, in der die Mieten so hoch sind wie nirgendwo im Land.
Im Theater inszenierte Nicolas Stemann zur Eröffnung einen postdramatischen „Kaufmann von Venedig“ nach Shakespeare, es folgte ein Premierenreigen von Rimini Protokoll, Rabih Mroué, Peaches, Giescheand, Simon Stone, Gob Squad, She She Pop, Stefan Pucher, Fux, David Marton und anderen. Eine teils spannende, teils weniger spannende Mischung aus Projekten, Musiktheater, Schauspiel, freien Gruppen, großen und kleinen Formaten. Eine Mischung, die viele in ihrer Fülle und Unübersichtlichkeit überforderte. Auch ein weiterer Unterschied zum HAU in Berlin wurde Lilienthal bewusst: „Das HAU bedeutete einfach, in der Schmuddelecke vor sich hinfummeln – wenn was super war, war gut, wenn nicht, war‘s auch wurscht. Hier in München habe ich manchmal das Gefühl, bei jeder Premiere an den Kammerspielen steht der Fortbestand des Abendlandes auf dem Spiel. Wenn nicht gar des Morgenlandes“, sagte er 2017 in einem Gespräch.
Seinem Ensemble traute er viel zu und verlangte er viel ab. Er machte Theater am Limit. Neben den regulären Premieren gab es ungezählte kleine Veranstaltungen, Lesungen, Konzerte, Partys, ein Welcome Café, internationale Gastspiele. Der Anspruch war immer, möglichst direkt auf die Welt da draußen zu reagieren. Als im Sommer 2016 ein Amokläufer im Münchner Norden neun Menschen und sich selbst tötete und die ganze Stadt in Panik versetzte, warf Yael Ronen spontan ein geplantes Projekt über den Haufen und setzte sich in „Point of no return“ mit den Reaktionen auf diese Tat auseinander. Manchmal kam bei so viel Betriebsamkeit die Ruhe und Konzentration für die einzelne Produktion zu kurz. Nicht jede*r Schauspieler*in wollte oder konnte mit dieser Art, Theater zu machen, umgehen.
Die beliebten Ensemblemitglieder Brigitte Hobmeier, Katja Bürkle und Anna Drexler kündigten. Damit war das Maß für viele voll. Die Süddeutsche Zeitung widmete dem Theater im November 2016 eine komplette Feuilleton-Titelseite – unter der Überschrift „Jammerspiele“. Obwohl Lilienthal damals erst am Beginn seiner zweiten Spielzeit stand; obwohl es auch bei seinen Vorgängern Frank Baumbauer und Johan Simons am Anfang dauerte, bis ihre Konzepte vom Publikum wertgeschätzt wurden; obwohl diese zweite Spielzeit gerade sehr vielversprechend begonnen hatte – trotz all dem feuerte die Zeitung mit einer Wucht auf Lilienthal, die ihn letztlich zu Fall brachte. „Hätte man hellhöriger, misstrauischer sein müssen, bevor man einem freien Radikalen wie ihm die Kammerspiele anvertraut?“, fragte Christine Dössel, als wäre bereits alles gelaufen. Lilienthals Ansatz nannte sie „Pipifax-Theater“ und „eine Art Gastspielbetrieb mit angeschlossener Partyzone“. Die auch zu diesem Zeitpunkt schon vorhandenen guten Produktionen tat die Kritikerin in einem Halbsatz ab: „Ja, es gab ein paar Erfolge – Nicolas Stemanns „Wut“-Inszenierung etwa oder zuletzt „Der Fall Meursault“ und Yael Ronens „Point Of No Return“ –, aber das meiste ist Mittelmaß, harmlos, oberflächlich, simpel.“
Aber: Gab es in Lilienthals Kammerspielen wirklich mehr Flops als unter seinen Vorgängern? Als an anderen Häusern? Hatte sich das Verhältnis von gelungenen und weniger gelungenen Arbeiten an den Kammerspielen wirklich verändert hin zum Schlechten? Diese Fragen stellte Dössel sich und ihren Leser*innen nicht. Natürlich: Es war nicht alles gut unter Lilienthal. Einiges war sogar unerträglich langweilig. Aber es gab immer wieder diese Abende, die verzaubert haben. Und es gab sie unter Lilienthal nicht seltener als zuvor.
Dennoch: Das Misstrauen war gesät. Lilienthal zeigte Größe in der Krise, ging auf die Kritik ein und lud zur öffentlichen Diskussion zur Frage „Welches Theater braucht München?“. Dabei: Christine Dössel (Süddeutsche Zeitung), Robert Braunmüller (Abendzeitung), Kammerspiel-Schauspielerin Annette Paulmann und Matthias Lilienthal selbst. Ist die Krise herbeigeschrieben? War sie schon vorher da? Oder gibt es sie gar nicht? Das waren die Fragen, um die dieser Abend kreiste. Eines wurde mehr als alles andere klar: Das Theater, das allen gefällt, gibt es nicht und wird es nie geben. Zu unterschiedlich sind die Positionen und Vorstellungen. Auf dem Podium wie auch im Zuschauerraum. Die einen fühlten sich unterfordert, die anderen wollten mehr Kontroverse. Die einen kämpften für das Theater, wie es war. Die anderen für ein Theater, wie es werden kann.
Natürlich: Lilienthal konfrontierte die Stadt und das Theater sehr schnell mit radikalen strukturellen Änderungen. Vor allem tat er das in einer Zeit, die ungeduldiger geworden war. Seinen Vorgängern wurde mehr Zeit gelassen, anzukommen: 2001 übernahm Frank Baumbauer das Theater von Dieter Dorn, der es mit großer Konstanz seit 1983 geleitet hatte. Baumbauer tauschte das Ensemble komplett aus, eröffnete das Jugendstilhaus mit einem „Othello“ von Luk Perceval. Der Kontrast zu Dorns Shakespeare-Inszenierungen hätte nicht größer sein können, der Skandal schwerlich: Das Publikum ergriff in Scharen und türenschlagend die Flucht. Baumbauer war der Unhold, als er kam. Und der Münchner Theaterheld, als er acht Jahre später ging. Auf ihn folgte der Niederländer Johan Simons. Auch er hatte es nicht leicht. Abos wurden gekündigt, weil auf einmal „nur noch fette Menschen“ auf der Bühne standen, die „kein Deutsch sprechen“. Auch Simons: gefeierter Intendant, als er ging. Lilienthal erreichte in seiner letzten Spielzeit eine Auslastung von 85%, beim Berliner Theatertreffen war er Stammgast, seine Kammerspiele wurden von der Zeitschrift Theater heute zum „Theater des Jahres 2019“ gewählt. Aber: Da war es bereits zu spät.
Denn schon 2018 verkündete die CSU im Stadtrat, sie werde einer Verlängerung von Lilienthals Vertrag nicht zustimmen. Natürlich war das letzte Wort längst nicht gesprochen. Aber Lilienthal wollte dieses nicht abwarten. Er beschloss, nach seinen fünf Jahren zu gehen, vorher aber nochmal richtig Theater zu machen. Und das tat er auch. Die kleineren Formate gab er nicht auf, platzierte sie aber geschickter. Der Japaner Toshiki Okada bescherte Lilienthals Kammerspielen einige schräge, komische, traurige und skurrile Abende wie „No Sex“ oder „The Vaccum Cleaner“. Das Kollektiv Rimini Protokoll brachte einen Thomas-Melle-Roboter auf die Bühne und erforschte die Grenzbereiche zwischen Mensch und Künstlicher Intelligenz („Unheimliches Tal/Uncanny Valley“). Und dann war da noch Christopher Rüping, den Lilienthal als Hausregisseur verpflichtete. Nach einer eher mauen Inszenierung von Dostojewskis „Der Spieler“ legte Rüping richtig los, nahm sich „Miranda Julys Der erste fiese Typ“ vor, Shakespeares „Hamlet“ und Brechts „Trommeln in der Nacht“. Und dann, als die Kritik an den Kammerspielen am lautesten war, machte er etwas, von dem Lilienthal sagte, dass man damit „richtig auf die Fresse fallen“ könne: ein zehnstündiges Antiken-Projekt.
Am Anfang gab es nur einen Titel: „Dionysos Stadt“. „Dionysos“: Gott des Weines, der Ekstase und des Theaters. Und „Stadt“ – für ein Theater mitten in der Stadt. Und genau das wurde es: ein kollektiver Rausch. Rüping entwickelte mit seinem Ensemble eine umfassende Menschheitsgeschichte ausgehend von Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte, über den Trojanischen Krieg bis zur Einführung einer Gerichtsbarkeit in der „Orestie“. Es war ein 10-Stunden-Spektakel, eine Theaterorgie. Ein einziges Mal zeigten die Kammerspiele diesen Marathon als Nachtvorstellung. (Das war das zweite Mal, dass ich bis zum Frühstück blieb.) So intensiv war Theater selten. Die einen schliefen während der Pausen im Foyer, die anderen tanzten im Club-Bereich. „Dionysos Stadt“ war eines dieser Theatererlebnisse, die bleiben. Die man noch erinnert, wenn alles andere längst verblasst ist.
Ein Projekt, das ein Theater an seine Grenzen bringt. Das nur am Wochenende gezeigt werden kann und alle vorhandene Energie aufsaugt. Lilienthal hat das System Stadttheater herausgefordert – und teilweise auch überfordert. Seine Kammerspiele waren bunt, divers und noch internationaler als zuvor. Es wurden englische Übertitel gefahren und wenn nötig auch mal deutsche. Denn auf der Bühne wurde nicht mehr nur deutsch gesprochen, sondern regelmäßig auch englisch oder arabisch. Es war die neue Normalität, dass Schauspieler*innen aus verschiedenen Ländern und Kulturen kamen, dass Inszenierungen mehrsprachig waren.
Nun verabschiedete Lilienthal sich von dieser Stadt, in der er fünf emotionale Jahre verlebt hat. Toshiki Okada inszenierte mit dem Ensemble eine Abschlusszeremonie im Olympiastadion: „Opening Ceremony“. In einer überwältigenden Kulisse mit unglaublich viel Platz, in der das Einhalten von Mindestabständen leicht fällt. Kein Weinen um das Verpasste, sondern ein Neuanfang, ein Ausblick. Keine Resignation, sondern ein Augenzwinkern. Kein Leugnen der Realität, sondern ein Das-Beste-daraus-Machen. Trotz aller Corona-Vereinzelung sind alle wieder zusammen. Und das fühlt sich hoffnungsvoll an. Lilienthal selbst hält sich im Hintergrund, lädt anschließend ein zu japanischem Streetfood. Einem herzlichen Applaus zwischen Udon Noodles und Summerrolls kann er trotzdem nicht entgehen. Er wird zurück nach Berlin gehen, die Kammerspiele seiner Nachfolgerin Barbara Mundel überlassen. Wie die mit seinem Erbe umgeht, wird sich zeigen. Lilienthal jedenfalls freut sich jetzt wieder auf Berlin. Seine dreijährige Tochter fängt schon an, bayrisch zu reden, ihr Lieblingsessen sind „Reiberdatschi“ – allein deswegen sei es Zeit, nach Berlin zurückzukehren, sagt er. Und grinst.
Photo by Manos Gkikas