von Marie Isabel Matthews-Schlinzig
Das Kind krabbelt. Ich kehre.
Wie Don Quijote: Der Haare lassende Hund ist meine Windmühle.
Das Kind will wieder einmal die mannshohe Avocadopflanze verrücken. Bevor der Topf kippelt, hebe ich meine Tochter auf.
Wir drehen uns im Kreis und lachen beide. Ich setze sie wieder auf den Boden. Sie stürzt sich ins nächste Abenteuer. Derweil überlege ich, wie lange wir heute morgen Spiel und Spaß miteinander haben werden. Wie oft ich meine Tochter von B nach A tragen werde, damit sie wieder zu B robben kann, bevor sie sich davon überzeugen lässt, ein Nickerchen zu machen. Damit sich ein kleines Arbeitsfenster für mich öffnet.
Es zieht mich zurück ins London des ersten Weltkriegs. Genauer: in die fantastische Welt des Romans, den ich gerade übersetze: Zauberhafte Aussichten [im Original Living Alone; erschienen 1919] von Stella Benson (1892–1933). Zu einer Hexe ohne jedes Taktgefühl; zu Damen, die sich als Sozialarbeiterinnen versuchen; zu Toten, die aus Versehen zu früh auferstehen; zu einem Drachen, der einer Feenfarm vorsteht.
Als die Anfrage kam, ob ich Bensons Text übersetzen würde, war ich noch in der Elternzeit und das Kind keine acht Monate alt. Damals hatte ich bloß Zeit, den Anfang des Buchs sehr grob zu übertragen, um zu sehen, ob es mit uns beiden passen würde. Den Rest überflog ich. Schnell war klar, es ist ein ungewöhnlicher Text: eine wilde, unterhaltsame Mischung aus realistischem Zeitkolorit, Fantastik und beißender Sozialkritik. Selbst beim raschen Durchblättern fiel auf, dass mindestens eine der Figuren Bensons mit Dialekt spricht, und ich dachte noch: „Das könnte schwierig werden…“ Gleichzeitig hatte ich Zweifel: Die Nächte waren nach wie vor unruhig und zu kurz, die Tage voller Babyfürsorge. Ich steckte in der frühen Phase meiner Mutterschaft, die körperlich wie geistig aufwühlender war, als ich je geahnt hatte. Würde ich die Zeit und die Ruhe finden, an der Übersetzung so zu arbeiten, wie es mein innerer Qualitätsmaßstab erfordert? Würde ich die Abgabefristen einhalten können, die auch in der Verlagswelt schnell einmal kurzfristig ausfallen? Doch da war ich Stella Bensons herrlichem Humor bereits hoffnungslos verfallen. Die ebenso komische wie berührende Geschichte, die der Roman erzählt – von Sarah Brown, deren Begegnung mit einer Hexe ihr Leben so ziemlich auf den Kopf stellt – hatte ich noch nicht erfasst. Ganz zu schweigen davon, wie viele übersetzerische Herausforderungen der Roman tatsächlich bereithalten würde.
Als der Text dann zur Bearbeitung vor mir lag, war meine Tochter nur unwesentlich älter und die Elternzeit vorbei. Von jetzt an tickten die inneren wie äußeren Uhren lauter als zuvor, als es ‚nur‘ ums Kind ging. Arbeiten mit Baby ohne Kinderbetreuung bedeutete: Ich muss meine Übersetzungstätigkeit um das Kind und alles, was noch so an einer Familie dranhängt, herum gestalten. Im Gegensatz zu vorelterlichen Zeiten heißt das: Übersetzen in kleinen und kleinsten Zeitfenstern, zwischen denen teils Minuten oder Stunden liegen, manchmal auch ein ganzer Tag. Arbeiten, wenn das Baby (manchmal auf mir) schläft. Oder wenn die Kleine für kurze Augenblicke in meiner Nähe spielt. Arbeiten, wenn mein nachtschichtenschiebender Mann unsere Tochter betreut. Arbeiten spät abends oder früh morgens, wenn ich eigentlich schlafen sollte, um den Mutterschaftsmarathon am nächsten Tag weiter zu laufen.
Sandra Gugić schildert diese Situation, die viele kreativ tätige Eltern kennen, so: „Ich schreibe diesen Text, wie ich nun all meine Texte schreibe, in Zeitfenstern, Zeitlöchern, in einem Paralleluniversum, ungekämmt, indifferent gelaunt, laut lachend über dieses neue Leben, das alle Selbstverständlichkeiten implodieren lässt.” Die ständigen Unterbrechungen sind nicht nur anstrengend, sondern doppelt zeitraubend. Denn manchmal dauert es eine Weile, bis man in den Flow kommt, also sich das Gehirn auf die Eigenheiten des Texts sowie der Tätigkeit einstellt. Um so sehr wie möglich im Fluss zu bleiben, ziehe ich im Geiste mit Sarah Brown ins Haus Alleinleben ein. Anders gesagt: Ich grübele während der ‚Nichtarbeitszeiten‘ über kniffligen Textstellen: beim Spazierengehen, beim Abwaschen, beim Wickeln, beim In-den-Schlaf-Wiegen.
Das Wissen um die stark eingeschränkte Arbeitszeit macht mich effizienter als früher. Es diszipliniert. Prokrastination hat wenig Chancen. Das Herumdaddeln in den Sozialen Medien bleibt tendenziell ebenso auf der Strecke wie mein treuer Begleiter, das Hochstapler-Syndrom. Auch das ist eine Erfahrung, die schreibende Mütter kennen, wie Elisabeth R. Hager mitteilt: „Mir persönlich hat die Verknappung der eigenen Zeit […] den Sinn für das Wesentliche geschärft.” Dazu gehört zudem, die persönliche Arbeitszeit stärker zu verteidigen als zuvor – selbst vor dem eigenen schlechten Gewissen. Der schmutzige Küchenboden muss warten. Der Wäscheberg kann langsam schrumpfen. Das entlohnte Arbeiten ist mir wichtig, und zwar nicht nur, weil es eine entscheidende Rolle für meine Identität spielt. Meine Tochter soll es ganz selbstverständlich finden, dass ihre Mama sich nicht nur liebevoll um sie kümmert, sondern darüber hinaus ein eigenes Einkommen hat und ein (möglichst erfülltes) Arbeitsleben. Abgesehen davon brauchen wir das Geld.
Dass ich mich ohne großes Vorwissen über das Buch an die Übersetzung mache, hat übrigens nicht nur mit Blick auf meinen fragmentierten Arbeitsrhythmus Vorteile: Denn so hilft die Spannung mit. Was passiert als Nächstes? Die Rohfassung des übersetzen Texts fängt meine unmittelbare Reaktion auf das Original ein, die Magie des ersten Lesens. Im Fall von Zauberhafte Aussichten bedeutet das: Ich lache viel und lange, bis der Text plötzlich Schläge in die Magengrube verteilt, weil einem zwischen all den wunderbaren Begebenheiten die tiefen Wunden, die der Erste Weltkrieg schlägt, unvermittelt entgegenstarren.
Das Kind knabbert an meinen Hausschuhen.
Davon abgehalten veranstaltet es in seinem Spielebogen mit einer Einkaufstasche Gewitter und erzählt mir blubbernd davon. Ich sitze mit meinem Laptop daneben und bin dankbar, dass wenigstens der Hund gerade keine Aufmerksamkeit will. Kinderbetreuung und Übersetzer*innentätigkeit zu vereinbaren heißt ganz praktisch: Ständig schnell von einer Situation und deren Anforderungen zur nächsten umschalten und dabei dennoch Konsistenz- und Kohärenzfehler – im Text wie im Leben – vermeiden. Organisation in alle Richtungen wird wichtiger, damit ich mich in der fragmentierten Zeit wieder schnell zurechtfinde. Zum Beispiel in Form von Regeln und von Listen:
- Alle echten Ortsnamen bleiben unverändert. Erfundene werden, so sinnvoll, übersetzt.
- Währungs- und Maßeinheiten (z.B. Schilling; Pints) werden nicht umgerechnet (z.B. in Mark/Pfund; Liter).
- Hervorhebende Großschreibungen werden möglichst übertragen; unter Umständen müssen Begleitwörter großgeschrieben werden (z.B. ‚the Stranger‘ = ‚Die Fremde‘).
Weiteres gesellt sich dazu, etwa: sperrige Sätze gar nicht oder nur vorsichtig glätten. Alliterationen entweder an gleicher Stelle oder anderswo übertragen. Benson war auch Lyrikerin; sie schreibt lebendig und poetisch; der Roman beginnt nicht grundlos mit einem Gedicht. Eher einen altmodischeren Begriff wählen, wo er passt, denn die Verankerung des Texts in seiner Gegenwart ist tief und Teil seines Charmes wie seiner Komik.
Letztere Regel hat eine Ausnahme: Formulierungen, die heute als diskriminierend gegen spezifische Personengruppen gelesen werden können. Zauberhafte Aussichten enthält nur sehr wenige solcher Wörter und verwendet sie zudem tendenziell in übertragener Bedeutung. So wird etwa eine ältere Version des US-amerikanischen Minstrel-Lieds Old Uncle Ned zitiert mit der Zeile „dahin, wohin die guten N* * * * kommen” [gone where the good n****** go]. Mancher hätte unter Verweis auf die historische Natur des Texts das N-Wort vielleicht ausgeschrieben. Für mich besteht dazu keine Notwendigkeit, denn auch die Sternchenvariante evoziert jenes Denken in Stereotypen, das der Roman selbst kritisiert.
Soweit zu den Regeln. Und die Listen? Notizen zum fürs Kind und im Haushalt zu Erledigendem sind prinzipiell endlos, helfen aber der übermüdeten Denkmaschinerie, den Faden nicht zu verlieren. Bei der Arbeit an Bensons Text sind Listen unter anderem nützlich, während ich die anfangs erwähnten nicht hochsprachlichen Figurenreden übertrage. Benson lässt mehrere Personen auf eigenwillige Weise sprechen – mit teils sehr witzigem Effekt. Besonders komplex und umfangreich gestalten sich die mündlichen Äußerungen Peonys, der Mitbewohnerin Sarah Browns im Haus Alleinleben. Im Englischen lässt sie etwa ‚g‘, ‚h‘, ‚d‘ oder ‚t‘ weg, spricht Wörter ungewöhnlich aus, macht Grammatikfehler und so weiter. Auf diese Weise entwickelt Benson für Peony ein ganz eigenen Klang, den man beim Lesen förmlich hören kann. Die Figur wird nicht nur darüber charakterisiert, was sie sagt, sondern wie sie es sagt. Um dies zu spiegeln, denke ich mir in der Übersetzung für jede betroffene Figur eine individuelle Kunstsprache aus. Diese enthält unter anderem Elemente mündlichen Sprechens (z.B. Zusammenziehungen wie ‚willste‘), grammatische Fehler (z.B. fehlende Fallendungen), doppelte Negationen (z.B. ‚nie nich‘), Auslassungen (z.B. geh’n) aber auch dialektale Elemente (z.B. ‚de‘ statt ‚die‘).
Um den Überblick zu behalten, lege ich für alle Figuren, die öfter im Text auftauchen, eine Liste mit Wortbeispielen und/oder Regeln an. Andere Listen gesellen sich dazu: ein Glossar mit den Übersetzungen zentraler Begriffe, die mehrfach vorkommen, etwa das schon erwähnte Haus Alleinleben (House of Living Alone) und eine Liste dazu, ab wann welche Figur einer anderen gegenüber vom ‚Sie‘ zum ‚du‘ übergeht. Schließlich schreibe ich mir selbst Botschaften in Listenform, um von Arbeitsphase zu Arbeitsphase zu vermitteln.
Während ich an der Übersetzung sitze und danach, in den verschiedenen Überarbeitungsphasen mit anderen, dem Lektorat, dem Korrektorat, der Fahnenkorrektur und auch jetzt, während ich an diesem Text hier feile, wird mir zunehmend klarer, wie wichtig es ist, gerade in dieser besonderen Lebensphase an einem so gleichermaßen herausfordernden wie wunderbaren Projekt zu arbeiten. Es ruft alle Schichten meines Ichs auf – sowohl die vor als auch seit der Mutterschaft angelegten – und hilft, diese zu verknüpfen. Die Suche nach dem richtigen Ton für Stella Bensons Roman fordert mein Wissen und Können heraus, fügt aber auch Neues hinzu. Die ungeheure Wucht, mit der ein Baby das Leben durcheinanderwürfelt, lässt mich manchmal fürchten, mein altes Selbst sei unwiderruflich verloren. In der Übertragung des Romans begegne ich mir als Spiegel einer anderen schreibenden Frauenstimme wieder.
Das schiere Sprach-Vergnügen, das Bensons Text nicht zuletzt der Lyrikerin in mir bereitet, motiviert die Übersetzerin und wirkt wie nebenbei therapeutisch auf die erschöpfte Mutter. Ich liebe es, wenn mich der Roman Wörter er-/finden lässt wie „Schaufensterspäher“, „Feenflitter“ oder „Mäusefindgerät“ und Formulierungen wie „Mr. Wichtigtu-im-Weiher“ , „krankhaft körperlos“ oder „Drei Fingerbreit Glückseligkeit“. Übersetzen wird dabei zu einer Form der kreativen Selbstversicherung. Die Einfühlung in die Zeit der Autorin, ihre Sprache sowie Figuren wirkt nicht schlicht eskapistisch: So erinnert mich die Isoliertheit von Bensons autobiographisch gezeichneter Protagonistin Sarah Brown – sie ist chronisch krank, hat schriftstellerische Ambitionen, liebt ihren Hund David über alles – eigentümlich an das Gefühl des Alleinseins, das sich bei mir als ‚junger Mutter‘ und Krebs-Überlebender manchmal einstellt, vor allem in den ersten Monaten nach der Geburt unserer Tochter.
Die Perspektive der magischen Menschen des Buchs ist eine fragend-kindliche. Ähnlich jener, die unweigerlich einnimmt, wer reflektiert ein Neugeborenes auf der Entdeckungsreise in die Welt begleitet. Während ich in meinem Wortschatz nach der passenden deutschen Form für Bensons Text suche, er-/findet mein Kind ihre ersten eigenen Wort-Schätze. Interpretation und Empathie sind jeweils zentral.
Ein weiteres Stichwort ist Transformation: Auf der inhaltlichen Ebene ist es die Figur der Sarah Brown, deren Erkenntnisprozesse und Entwicklung der Roman skizziert. Genauso bedeutet Mutterschaft Wandlung und Wachstum. Und nicht zuletzt beinhaltet jede Übersetzung eine wechselseitige Umgestaltung: Man geht nicht exakt als derselbe Mensch aus dem zu übertragenden Roman hervor, als der man in ihn eingetreten ist. Der Text ist durch einen hindurchgeflossen, von einer Sprache in eine andere, und dadurch zu etwas Neuem, Eigenem geworden. Der Mutter-Teil von mir steckt nun mit allen anderen Ich-Bestandteilen in der deutschen Fassung des Romans. Wie jede Übersetzung ist diese eine Folge zahlloser individueller Entscheidungen, die eine andere Person mit anderer Vorgeschichte, anderem Hintergrund, anderem Sprachgefühl, anderer Lebenssituation etc. vielleicht anders getroffen hätte. Einschließlich der Frau, die ich war, bevor ich ein Kind hatte.
Neben den fachlich-kreativen und praktischen Herausforderungen sowie den durchaus positiven Synergieeffekten des Übersetzens mit Baby sollte das Negative dieser Kombination nicht verschwiegen werden: Da ist vor allem die manchmal bodenlose Erschöpfung. Auf Bluesky, wo ich seit dem Benson-Projekt verstärkt über meine Arbeit als Übersetzerin berichte, schreibe ich, als sich der Abgabetermin nähert: „Trying to combine baby care, freelance work, housework etc.: the tiredness is unreal.“
Es sind nicht nur die körperlichen Grenzen, die ausgetestet werden, sondern auch die geistigen. Die Fehlerquote erhöht sich. Ich ahne es schon, sehe es aber erst wirklich, als ich Rückmeldung vom Lektorat bekomme, mit dem Korrektorat diskutiere, nochmals die Fahnen durchgehe. Die sowieso nicht zufrieden zu stellende Perfektionistin in mir windet sich, wenn sie Probleme bemerkt, die sie in Vorbabyzeiten nicht gehabt bzw. mithilfe eines weiteren Durchgangs selbst herausgefischt hätte. Die Pedantin in mir muss sich nun noch mehr auf die Professionalität aller Mitglieder des Teams verlassen, ohne die das Buch sowieso nicht in die Welt käme: der Lektorin, der Korrektorin, und den Verlagsmitarbeiter*innen, die Bensons Roman betreuen.
Ebenfalls negativ ins Gewicht fällt das schlechte Gewissen, das, was Sandra Gugić „die Zerrissenheit zwischen Arbeit und Kind” genannt hat. Selbst wenn ich mich immer wieder daran erinnere, dass das Baby bei meinem Mann bestens aufgehoben ist, zerrt, während ich arbeite, jedes Weinen, das durchs Haus schallt, an meiner Seelenwaage. Abgesehen von allen kulturellen Indoktrinationen zum Thema Mutterschaft erfahre ich das Rufen meines Kindes physisch als bezwingend. Doch je robuster sie wird, umso weniger schmerzt der Haken, den anfangs jeder Schrei in mir versenkte. Zum Ende des ersten Jahrs meiner Mutterschaft hin beginne ich langsam, mich verstärkt auch wieder um anderes zu kümmern als nur die Bedürfnisse des Babys. Dieser Prozess setzt ein, als die Arbeit mit Bensons Roman fast beendet ist.
Als Übersetzerin verschwinde ich für die Lesenden hinter dem Text der Zauberhaften Aussichten. Doch hat ein entscheidender Teil meines Lebens die deutsche Fassung dieses fabelhaften Romans geprägt. Ich hoffe, dass den Leser*innen nicht zuletzt jene Momente Freude bereiten werden, die mir rückblickend besonders teuer sind: Wenn mir die schöpferische Schreibfreude der Autorin dazu Gelegenheit gab, mit Sprache das zu tun, was mein Kind auch am liebsten macht: Spielen.
Stella Bensons Zauberhafte Aussichten erscheint, mit einem Nachwort von Magda Birkmann, am 15. Mai 2024.
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