Der Unschuldige-Augen-Test

von Marc Degens

 

16. August, New York

Um halb zwölf treffe ich Nina und Markus vor dem Metropolitan Museum of Art. Rundgang mit klugen Erläuterungen von Nina, die promovierte Kunsthistorikerin ist. Zum Schluss der Höhepunkt. Ich stehe vor einem meiner Lieblingsbilder, das eine Kuh zeigt, vor der Kunstexperten und Wissenschaftler das Gemälde Der junge Stier von Paulus Potter enthüllen. Um halb drei trennen ich mich von Nina und Markus und spaziere durch den Central Park zum Dakota Building, in dem Polanskis Horrorfilmklassiker Rosemary’s Baby spielt und vor dem John Lennon erschossen wurde. Abends nach Brooklyn zur Lesung in der Mellow Pages Library, einem Leseraum für alternative Literatur plus Leihbibliothek in einem alten Fabrikgebäude. Die Wände des Raums sind mit hohen Regalen zugestellt, davor stehen mit Decken behangene Sofas und Sessel. Vor der Fensterfront hängen Lampions und ein Weihnachtsstiefel, an dem Tresen lehnt eine Akustikgitarre, daneben gibt es einen kleinen Tisch mit einer Thermoskanne und großen Kaffeetassen. I LOVE DAD. Sehr stimmungsvolle und kurzweilige Lesungen von John Thomas Menesini, Karen Lillis, Jason Price Everett und Moon Temple, die mit wilden Haaren und in schwarzen Schuhen, schwarzen Strümpfen und im schwarzen Kleid ihre Erzählung vom Smartphone abliest. Hinterher schöner Abendspaziergang durch Brooklyn. Zum ersten Mal bin ich in New York und habe Manhattan verlassen.

17. August, New York/Toronto

Ausschlafen, Frühstück bei Demarco und Kofferkauf. Danach packen und auschecken. Mit der U-Bahn zum Union Square und Bummel durch die tollen Buch- und Comicläden. Auf dem Broadway werde ich Zeuge eines bizarren Streits. Eine Frau in Jogginghosen flippt an einer Straßenkreuzung total aus, wirft Mülleimer auf die Straße und beschimpft Passanten, während ihr Begleiter seelenruhig neben dem Mülleimer sitzen bleibt. Drei Polizei- und ein Krankenwagen halten mitten auf der Straße. Ratlos stehen mehrere Polizisten um die Frau herum und versuchen sie zu beruhigen, aber niemand hebt die Mülleimer auf der Fahrbahn auf, um die sich die Autos mühsam vorbeischlängeln. Lange beobachte ich die Szene, dann betrete ich ein Geschäft. Als ich nach einer Dreiviertelstunde wieder auf die Straße trete, sind die Polizisten und Sanitäter verschwunden, die Frau steht aber immer noch mit ihrem Bekannten an der Kreuzung, wirft weiter Mülleimer um, hält Busse an und lässt die Hose runter. Mit der U-Bahn zurück zum Hotel. Ich hole meinen Koffer ab und fahre mit dem Bus zum Newark Flughafen. Am Abend Rückflug nach Toronto. Bei der Einreise am Billy Bishop Airport erhalte ich meine Arbeitserlaubnis für Kanada mit einer einzigen Einschränkung: Ich darf nicht im Sex-Business tätig werden und mein Geld nicht in Massage-Salons, im Escort-Service oder als Stripper verdienen.

18. Februar, Toronto/New York

Offizieller Erscheinungstag meines Romans Fuckin Sushi, der in Bonn beginnt und in New York endet. Mit dem Bus, der U-Bahn und der Straßenbahn zum Flughafen Billy Bishop. Um siebzehn Uhr fliege ich nach New York und kommen mit einstündiger Verspätung in Newark an. Mit dem Expressbus zum Grand Central Bahnhof und direkt daneben ins Grand Hyatt in ein schönes, großes Zimmer im vierunddreißigsten Stock.

19. Februar, New York

Um elf Uhr treffe ich Kevin Vennemann im Grey Dog’s Coffee. Es ist ein anregendes, leider viel zu kurzes Treffen. Anschließend Bummel über den Broadway und Stöbern im Strand Book Store und im Forbidden Planet. Abends zur Eröffnungsveranstaltung des New Literature from Europe-Festivals. Die Feier ist klein und exklusiv. Auch Christian Kracht und Eric Jarosinski alias NeinQuarterly sind anwesend – leider ergibt sich keine Gelegenheit, mit ihnen zu reden.

30. September, Toronto/Washington

Schöne Nachricht von Joseph Given, der mir schreibt, dass der von ihm übersetzte Auszug aus Fuckin Sushi für die zehnte Ausgabe von No man’s land ausgewählt wurde. Fußball, dabei Wohnung aufräumen und packen. Mit dem Taxi fahre ich zur UP-Express-Station und von dort mit dem Zug zum Flughafen. Das Einchecken geht überraschend schnell, so dass ich schon zwei Stunden vor Abflug am Gate bin. Vorratskauf bei Tim Hortons und danach gemütliches Abhängen in der Flughafenlounge. Nach neunundsechzigminütigem Flug lande ich in Washington am Ronald Reagan Airport. Mit der Metro ins Apartmenthotel.

1. Oktober, Washington

Bis kurz nach sechs Uhr geschlafen. Gemütlicher Vormittag. Skype mit Frank und danach mit Torsten. Frühstück und Einkauf in der unterirdischen Mall nebenan. Danach Schreibtisch, Tagebuch und SUKULTUR-Arbeiten. Lesen und Schlaf, anschließend baden. In der Mall hole ich mir ein Mittagessen und esse es im Apartment. Hinterher schaue ich Fußball-Champions-League, Athen gegen Dortmund, und schreibe eine Mail an Tao Lin. Um 17 Uhr 30 gehe ich in das benachbarte Marriott Hotel zum DAAD-Empfang anlässlich der Konferenz der German Studies Association. Dort unterhalte ich mich lange mit Kathrin Röggla. Wir reden über Armenien und die Akademie der Künste, deren Vizepräsidentin sie ist.

2. Oktober, Washington

Am Abend treffe ich Bianca an der Court House Metrostation in Arlington. Es ist ein wunderschöner Abend mit tollem libanesischen Essen und vielen Erinnerungen an die Jahre, die wir gemeinsam in Eriwan verbracht haben. Danach mit der Metro zurück ins Hotel, vorbei an den Obdachlosen, die auf den irre lauten Schächten der U-Bahnen liegen und versuchen zu schlafen.

3. Oktober, Washington

Bei Nieselregen Besichtigung der National Mall, des Washington Monuments und des Weißen Hauses. Die Wege sind weit, die Sichtachsen verbaut, die Gebäude viel zu pompös und seltsam zusammengewürfelt. Kurz ins National Museum of American History. Dann wieder raus ins Schmuddelwetter.

21. Dezember, New York

Um kurz nach elf verlasse ich die Wohnung und fahren mit der Subway zur Fähre nach Staten Island. Schöne im Subway-Ticket enthaltene Schiffsfahrt auf der Fähre nah an der Freiheitsstatue vorbei und nach knapp einer halben Stunde Ankunft auf der Insel. Nach Manhattan, Brooklyn, Queens ist Staten Island der vierte von fünf Stadtbezirken New Yorks, den ich besuche – jetzt fehlt nur noch die Bronx. Halbstündiger Spaziergang durch St. George zum Tompkinsville Park, Besuch eines Comicshops und der Public Library. Die Gegend macht einen ziemlich verwahrlosten Eindruck. Im Second-Hand-Shop antwortet eine Kundin auf die Frage der Verkäuferin, ob sie jemanden liebe, triumphierend mit der Erklärung, dass sie keine Männer mehr ficke, ihr Mann aber sehr wohl noch andere Frauen ficke. Ich laufe weiter, besuche einen Gebrauchtbuchladen mit einem Café und komme an einem Ladenlokal vorbei, in dem gerade ein Musikvideo mit drei Rappern gedreht wird. Auf den heruntergelassenen Rollläden steht in Großbuchstaben: THIS BLOCK HAS BEEN OVERRUN WITH CRIMINALS VIOLENCE AND ADDICTS. WE ARE SLOWLY BEING CHOKED AND WE CAN’T BREATHE. Auf der anderen Straßenseite hält ein Mann ein schreiendes Mädchen fest, so lange, bis die Polizei kommt. Auf Wikipedia lese ich: »Seit 1948 liegt auf Staten Island die Fresh-Kills-Mülldeponie, die der Stadt New York für mehr als ein halbes Jahrhundert als zentrale Müllkippe diente. Die Deponie gehörte zu den größten künstlichen Erhebungen der Welt und war für ihre starken Ausgasungen von Methangas berüchtigt. Im März 2001 wurde sie nach zunehmenden Protesten geschlossen; 2003 begann die Renaturierung. Der Schutt des durch Terroranschläge zerstörten World Trade Centers wurde ab 2001/2002 hier gelagert.«

Freitag, 23. Dezember, New York

Mittags fahre ich in die Bronx zum Yankees Stadion, spaziere von dort zum Joyce Kilmer Park und betrachte das erstaunlich unattraktive Denkmal für Heinrich Heine. Es sollte ursprünglich 1897 in Düsseldorf enthüllt werden, wurde aufgrund antisemitischer und nationalistischer Anfeindungen aber in die Bronx geschafft und dort schließlich 1899 eingeweiht. Die Gegend um den Park wirkt extrem rau und hart. Mit der Subway fahre ich nach Harlem und wandere die 125. Straße entlang, die von zahlreichen Ständen und fliegenden Händlern bevölkert ist. Zwei Männer sprechen mich an und fragen, ob ich von ihnen gegen eine Spende Jazz-CDs kaufen wolle. Als ich dankend ablehne und weggehe, ruft ein dritter Mann mir hinterher, dass alle Weißen Rassisten sind.

24. Dezember, New York/Toronto

Um neun Uhr verlassen ich die Wohnung und bin bereits um kurz vor elf am Flughafen. Am Schalter erhalten ich die schöne Nachricht, dass ich sogar den Flug eine Stunde früher nehmen könne. Beim Einchecken gibt es allerdings ein Problem mit meiner Electronic Travel Authorization, kurz eTA. Da das eTA an den Pass gebunden ist, mir vor kurzem in Toronto allerdings ein neuer Reisepass ausgestellt wurde, habe ich im Moment kein gültiges Dokument zur visumsfreien Einreise nach Kanada vorliegen. Online stelle ich um elf Uhr einen Antrag. Normalerweise vergehen von der Antragstellung bis zur Genehmigung nur wenige Minuten – im Extremfall kann die Entscheidung über den Antrag allerdings auch bis zu zweiundsiebzig Stunden dauern. Um kurz nach dreizehn Uhr habe ich immer noch keine Antwort und verpasse den ersten Flug. Ich sitze im Food Court, warte und suche im Internet nach Alternativen. Da ein eTA nur benötigt wird, wenn man auf dem Luftweg nach Kanada einreist, schaue ich nach Zugverbindungen und vergleiche Mietwagen- und Hotelzimmerpreise in Newark und New York, die zur Weihnachtszeit horrend sind. Nervös kontrolliere ich alle zwei Minuten meine E-Mails. Um siebzehn Uhr dreißig habe ich immer noch keine Nachricht erhalten. Ich bim ziemlich niedergeschlagen, denn in fünfzig Minuten geht der letzte Flug nach Toronto. Mein Plan ist es, nach New York zurückzukehren, ein Hotelzimmer zu nehmen und am nächsten Morgen um sieben Uhr früh mit dem Zug nach Toronto zu reisen – die Fahrt dauert knapp dreizehn Stunden. Bevor ich buche, gehe ich noch einmal zum Porter-Schalter. Die Mitarbeiter sind enorm hilfsbereit, sie telefonieren ein weiteres Mal mit ihren Vorgesetzten und den kanadischen Behörden – und schaffen es tatsächlich, dass mir um kurz nach sechs eine neue eTA ausgestellt wird. Glücklich und erleichtert renne ich einem Mitarbeiter hinterher, der mich durch die Kontrollen lotst, so dass ich doch noch das an diesem Tag letzte Flugzeug nach Toronto erreiche. Danach geht alles ganz schnell und um zwanzig Uhr dreißig bin ich zurück in unserer Wohnung in der Keele Street. Rasch packe ich ein paar Sachen aus, trinke dabei Bier und esse eine Tiefkühlpizza. Selten habe ich mit mehr Genuss ein Weihnachtsmahl gegessen.

Marc Degens lebt als Schriftsteller und Programmleiter des SUKULTUR Verlags in Hamburg. Der Text ist ein Spin-Off seines Buches »Toronto. Aufzeichnungen aus Kanada«, das im Frühjahr 2020 im Mairisch Verlag erschienen ist. www.mdegens.de

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