von Falko Löffler
Wirkungsforschungsarchäologie
Medienkritik und Wirkungsforschung haben kein eingebautes Verfallsdatum, weil sie sich einerseits mit gletscherhafter Geschwindigkeit bewegen (ein Massenmedium entsteht nicht über Nacht), andererseits neue Erkenntnisse nicht automatisch und objektivierbar die alten ablösen. Allerdings sind sie wie Suchscheinwerfer, die genau dorthin ausgerichtet werden, wo die Öffentlichkeit gerade Verrohungsgefahr zu erkennen glaubt. Wenn nötig, wird an der Helligkeit gedreht und ein ganzes Medium angestrahlt, manchmal ist es ein Punktlicht auf einen konkreten Auswuchs.
Gerade neue Medien werden zunächst als allgemeine Gefahr gesehen, bis sie ganz natürlich ins kulturelle Gedächtnis absorbiert sind. So wird es auch dem gehen, was die Öffentlichkeit aktuell beschäftigt: »Squid Game« wird von der Gefahr zur Normalität zur Mediengeschichte. So wie es auch all jenen Computerspielen passiert ist, die vom Killersimulator zum Spieleklassiker mutierten.
1985 erscheint das Buch »Im Sog der Videospiele«, das eine Antwort auf die Frage geben will, ob der in immer mehr Haushalten auftauchende Homecomputer alle Kinder zu willenlosen Bildschirmzombies macht. Schauen wir uns das Buch an.
Es ist ein dünner, gebundener Band von 124 Seiten in Taschenbuchgröße. Der Titel ist blutrot und nimmt die volle Breite des Covers ein: »Im Sog der Videospiele«. Der Untertitel ist serifenlos und beruhigend hellblau direkt darunter: »Was Eltern wissen sollten«. Das verspricht Autor Jürgen Fritz.
Das Covermotiv ist ein Foto. Ein Schnappschuss, der offenbar in den Verkaufsräumen eines Kaufhauses gemacht wurde, im Hintergrund können wir Regale ausmachen. Im Vordergrund sehen wir zwei Jungen, etwa zehn Jahre alt, die gebannt auf einen Bildschirm starren. Einer der Jungen hält ein halb gegessenes Eis am Stiel auf Mundhöhe, aber scheint jedes Interesse daran verloren zu haben, denn das Treiben auf dem Bildschirm fesselt ihn. Es ist ein Röhrenmonitor, vielleicht sogar nur ein ganz normaler Fernseher, und das ist spätestens der Punkt, an dem sich das Buch auch durch den Blick aufs Cover datieren lässt. Wir befinden uns tief in den 1980ern.
Nur eine furchtlose Gruppe stand damals zwischen den naiven Kindern und dieser gefährlichen neuen Technologie: Die Pädagogen!
Einer von ihnen – und man kam an ihm nicht vorbei, weil er eine Vielzahl von Büchern zu diesem Thema geschrieben hat – war Jürgen Fritz, Professor an der TH Köln, Jahrgang 1944. Der Beltz-Verlag umreißt seine Schwerpunkte im Autorenprofil: »Entwicklung von Spielen und Spielaktionen, Spieltheorie, Spielen in Gruppen, Teamarbeit, Forschungen zu digitalen Spielen.« Dieses Buch, »Im Sog der Videospiele«, erschien 1985 im Knösel-Verlag, München, und es versprach den orientierungslosen Eltern eine Hilfe dabei, mit diesem neuen Ding umzugehen, mit dem der eigene Nachwuchs sich immer intensiver befasste.
Bücher wie dieses sind Zeitkapseln. Sie fangen gesellschaftliche Unsicherheiten und Beklemmungen ein, und anders als Tageszeitungen oder Wochenmagazine, denen ein Verfallsdatum inhärent ist, verspricht das Medium Buch eine Langfristigkeit und einen Erkenntnisgewinn, ja geradezu eine Adelung des Wissenstandes – der dann aber, mit Abstand betrachtet, fast immer eher zum Amüsement anregt. Klingt unfair, ist es auch. Denn das war Grundlagenforschung, und jetzt mitten im 21. Jahrhundert lässt sich natürlich leicht auf die Pionierwerke herunterschauen, wo es inzwischen »Game Studies« an jeder Provinzhochschule und Professuren in »Game Design« gibt.
Schlagen wir das Buch auf.
Drei Hauptkapitel. Es geht um den elektronischen Wandel im Kinderzimmer, wie Kinder und Jugendliche das Videospiel erleben und dann um die große Frage, ob das Videospiel nützlich oder schädlich ist. Und das, nochmals betont, aus der Perspektive der frühen 1980er Jahre, als ein Computer mit 64 Kilobyte Speicher und 16 Farben ein Quantensprung gegenüber der Vorgänger bedeutete.
Schon diese Gewichtung macht deutlich, dass hier Neuland beackert wird. Man ahnt, dass es nicht um die Inhalte der Spiele gehen wird, sondern dass die besorgten Eltern behutsam an die Inhalte herangeführt werden und es primär um Wirkungsforschung geht. Immer mit der Frage: was stellt das mit meinem Kind an? Da könnte man sich natürlich die Frage stellen, warum die Eltern sich es nicht von ihren Kindern haben vorführen lassen, und ich glaube, die Antwort liegt in dem Unbehagen, den so ein Rollentausch mit sich bringt. Ein Unbehagen, das sich heute noch im Angesicht neuer Apps fortsetzt, die die Kinder benutzen, während ihre Erzeuger immer noch auf Facebook herumhängen.
Die Einleitung macht deutlich, dass das Buch konstruktiv sein möchte und endet mit den Worten: »Ich wünsche mir, dass Sie durch das Buch Anregungen, Informationen und Denkanstöße erfahren, um Ihr Kind in seinem Spiel genauer kennenzulernen. Durch das Videospiel teilt es etwas von sich mit. Das Buch soll helfen, dies besser zu verstehen.« Ein ehrenwertes Anliegen – damals wie heute.
Im ersten Kapitel verwendet Fritz mehrmals den Begriff »Welt am Draht«, um Computerspiele zu beschreiben. Nicht nur in diesem Buch, in jedem, das ich von ihm gelesen habe. Er war offenbar Fan des Zweiteilers von Rainer Werner Fassbinder und fand darin die perfekte Metapher. Ein paar Jahrzehnte später hätte er Spiele vielleicht mit dem Holodeck oder mit der Matrix verglichen, aber für Kupferdrahtdeutschland ist der Vergleich mehr als angemessen, leider auch heute noch.
Um zu erklären, wie Spiele funktionieren, hat sich Fritz zunächst das Spiel »Cavelord« ausgesucht, ein einfaches Jump and Run. Warum gerade dieser Titel – ein Spiel, das keine Spuren hinterlassen hat und wahrscheinlich schon in den 1980er Jahren schnell vergessen war? Wird nicht erklärt, die Auswahl ist beliebig und subjektiv. Außerdem wird es fälschlich der Firma Atari zugeschrieben, obwohl es auf der Plattform Atari erschienen ist und von Ariolasoft veröffentlicht wurde (und offenbar von einem Einzelentwickler programmiert, aus dessen Feder nur zwei Titel verbrieft sind).
Zunächst erklärt Fritz, was die Hardware-Komponenten sind und vergleicht das Diskettenlaufwerk mit einem Plattenspieler. Man möchte über diesen Vergleich lachen, doch erstens waren Audiokassetten auch Datenträger und sogar auf Schallplatten waren gelegentlich Spiele versteckt. Insofern kann man den Vergleich gelten lassen. Dann beschreibt er das Spiel im Detail, untermalt mit schwarz-weißen Screenshots.
Dass es viele unterschiedliche Videospiele gibt, erkennt Fritz an, aber seine Schlussfolgerung, dass immer das gleiche Prinzip zugrunde liegt, war schon damals zweifelhaft: »In ein computergesteuertes Spielgeschehen muß der Spieler so einwirken, daß der Ablauf des Geschehens möglichst lange erhalten bleibt.« So eine Reduktion ließe sich auch auf Bücher übertragen: In einem Druckwerk muss der Leser so einwirken, dass er möglichst alle Seiten aufblättert. Nicht objektiv falsch, aber darum geht es eigentlich nicht.
Putzig wird es, wenn der Leserschaft die unterschiedlichen Spiele beschrieben werden. Pac Man frisst »Kraftkekse«, und um Donkey Kong zu beschreiben, benötigt Fritz eine Menge Anführungszeichen: »In einem ›Bildschirmdrama in vier Akten‹ muß der Spieler versuchen, eine ›Jungfrau‹ aus den ›Klauen‹ eines ›Gorillas‹ zu befreien. Dazu muß er ein ›Gerüst‹ erklimmen und zahllosen ›Fässern‹, die auf ihn zurollen, ausweichen.« Weitere Spiele werden angerissen und ihr Reiz beschrieben. Mal als Simulation, mal als Eskapismus werden Titel wie »Summer Games«, »Kaiser« oder »M.U.L.E.« beschrieben, und man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie Leuten der Kopf schwirrt, die selbst Spiele bislang nur von Ferne gesehen haben und sich ihnen mithilfe dieses Buches annähern wollen.
Dieser deskriptive erste Teil umfasst die Hälfte des Buches, damit die besorgten Eltern danach das Gefühl haben können, dieses Neulandmedium verstanden zu haben. Natürlich funktioniert das vorne und hinten nicht. Selbst die ausführlichste lineare Textbeschreibung, garniert mit Schwarzweißfotos, kann Interaktivität nicht beschreiben. Dass es nur eine Annäherung ist, hätte wahrscheinlich Fritz selbst nicht in Abrede gestellt, aber eine Annäherung ist nicht genug, um ein ganzes Medium zu erfassen.
Sicher, heute sind Computerspiele allgegenwärtig, mindestens auf dem Smartphone sind die Hürden nicht nur sehr gering, nein, bei vielen Modellen findet man sie sogar vorinstalliert als Bloatware. Damals, in den 1980er Jahren, gab es hoffentlich viele Eltern, die sich einfach den Joystick geschnappt haben, um diese Spiele selbst auszuprobieren. Fünf Minuten in einem Medium selbst sind wichtiger als fünf Bücher über das Medium.
Das zweite Kapitel heißt: »Zwischen Spaß und Frust – Wie erleben Kinder und Jugendliche das Videospiel?«, und es ist nur ein paar Seiten stark. Das Erleben dampft Fritz auf diese Hauptpunkte ein: Pausenfüller, Aggressionsventil, Leistungsanreiz. Natürlich fehlt auch die Warnung vor der Suchtgefahr nicht. Dieser kurze Mittelteil des Buches zeigt zugespitzt das Kernproblem, das sich durch das ganze Buch zieht. Fritz bezieht sich auf Aussagen von Schüler*innen, aber ignoriert das Medium an sich – als hätte er im ersten Teil des Buches mit der nüchternen Analyse von Spielen in dieser Hinsicht genug getan und könnte nun subjektive Aussagen deckungsgleich anwenden.
Das Medium ist zu diesem Zeitpunkt vor allem von Spielhallen geprägt: kurze, hektische Spiele mit hohem Schwierigkeitsgrad, die schnell vorbei sind, damit man eine Münze nachwerfen muss. Diese Spiele werden auf die Homecomputer übertragen, ohne dass ihr Grundprinzip geändert wird. Andere Arten von Spielen stecken noch in den Kinderschuhen oder sind nur etwas für Eingeweihte, beispielsweise die frühen komplexen Rollenspiele. Es wird also die subjektive Wirkung auf Minderjährige extrapoliert, die auf gewinnorientierten Spielen basiert, woraus akademische Schlüsse im Hinblick auf die Wirkung gezogen werden. Das würde heute nicht funktionieren, das hat es damals schon nicht.
Der letzte große Teil des Buches stellt die Gretchenfrage schon im Titel: »Nützlich oder schädlich?«, und nun wird im sechsten Gang wirkungsgeforscht. Die Frage an sich ist natürlich Quatsch, aber es ist genau die Frage, die Eltern stellen, und die dieses Buch gern beantworten will.
Das Augenmerk richtet Fritz nun nicht etwa genauer auf die Spiele, nein, auf die Spieler*innen. Mehrere Fotostrecken illustrieren, wie tief Menschen in die Spielwelten abtauchen. Glasiger Blick, angespannte Körperhaltung, Nagen auf der Unterlippe. Fritz stellt seine zentrale Erkenntnis eingerückt und kursiv in den Text:»Videospiele wirken entemotionalisierend.«
Denn um erfolgreich zu sein, muss man cooler werden. Was Fritz zu einem erstaunlichen Exkurs verleitet, dass die Spiele nicht etwa die jungen Leute zu Killern machen, sondern zu willigen Arbeitsdrohnen in unserer technisierten Welt (der 80er), und natürlich muss auch da wieder Fassbinder rangezogen werden: »Videospiele bereiten als ›Welt am Draht‹ auf eine ›Welt am Draht‹ vor, die unsere Wirklichkeit immer stärker zu werden scheint.«
Differenziert geht Fritz in diesem Abschnitt mit seinen Wertungen des Mediums um – das hatte er vielen Zeitgenossen voraus. Er äußert Verständnis für den Wunsch nach Eskapismus mit dem Blick auf die Lebensrealität vieler Jugendlicher, er betont, dass Spiele kein »Verursachungsmedium« sind, sondern vielmehr Ausdruck der vorhandenen Persönlichkeit, und Spiele mit kriegerischen Inhalten »verherrlichen« nicht den Krieg, denn »dazu fehlen dem Spiel alle Voraussetzungen einer personen- und gefühlsbezogenen Einbindung«, sie machten bestenfalls »gleichgültig«. Aus der Zeit gefallen ist die Analyse des gemeinsamen Spielens, denn zu diesem vorvernetzten Zeitpunkt bedeutete das: mehrere Leute vor einem Monitor.
Die letzten beiden Seiten des Buches sind mit »Was können Eltern tun?« überschrieben. Alles, was er vorher so differenziert betrachtet wird, ist nun irrelevant. Er spiegelt die Vorurteile und Ängste der Eltern und kann nur anregen, dass Eltern und Kinder »in einem gemeinsamen, durch Einfühlung gekennzeichneten Gespräch« voneinander lernen können. Man möge dem Kind einfach mehr bieten, damit es andere Dinge tut, als sich mit dem Computer zu beschäftigen. Fritz schließt mit: »Das Kind im Sog der Videospiele braucht keine Verbote, sondern Hilfe.«
In seinen guten Moment versucht das Buch eine Brücke zu schlagen, in den schlechten Momenten wirkt es wie ein Zoobesuch bei den Kindern mit ihren Rechnern. Als pädagogischer Ratgeber funktioniert das Buch sehr eingeschränkt, weil sich die Ratschläge in Allgemeinplätzen erschöpfen, als kritische Analyse eines Mediums schießt es am Ziel vorbei. Im Kontext seiner Zeit hat das Buch vermutlich funktioniert, weil Eltern sich nach dem Lesen eingeweiht fühlen konnten und zumindest ein wenig Einblick in die diese fremde Welt hatten. Aber ob sie dann wirklich das einfühlsame Gespräch gesucht haben?
Was bleibt von einem solchen Buch, einer solchen Zeitkapsel?
Die Antwort lautet: wenig. Es ist heute ein Retrobuch zu Retrogames. Die Lehren daraus (suche das Gespräch mit deinem Kind und verdamme nicht die Technik, für die es sich interessiert) dürften auch zur Zeit von Radio und Plattenspieler oder der Dampfmaschine schon korrekt gewesen sein und sind es im Zeitalter von MMORPGs und Free to Play immer noch.
Auffällig ist, dass die Diskussion sich nicht verändert hat. Eine Diskussion, die schlicht aus Ängsten geboren wird. Die Befürchtung, die Kinder seien mediensüchtig und der Computer stelle seltsame Dinge mit ihnen an, hat sich vielleicht vom Homecomputer zum Smartphone verlagert, aber die Dynamik ist unverändert. Das trifft nicht nur auf Computer zu, sondern auch auf Filme, nur dass damals die »Freitag, der 13.«-VHS der Stein des Anstoßes war und heute »Squid Game«.
Es ist immer die Angst, dass DIE JUGEND etwas tut, auf das die vernünftige Erwachsenenwelt keinen Einfluss hat. Eine Sphäre für sich. Zu jeder Zeit hat es Bücher wie dieses gegeben, und das wird sich nicht ändern. Es wird immer ein neuer Manfred Spitzer nachwachsen, der diesem einen neuen Medium misstraut und sich um das Wohlergehen der Kinder sorgt. Immer wieder werden wir alle (und da nehme ich mich als Vater zweier Teenager nicht aus) etwas befremdet darauf schauen, womit die sich beschäftigen. Was soll daran denn so interessant sein? Das ist doch langweilig / brutal / nicht lustig / uninteressant / unverständlich / komisch / seltsam / nicht für deine Karriere relevant (nicht zutreffendes streichen). Und wohin richten wir Eltern uns dann? Ins Ratgeber-Regal in der Buchhandlung, auf dass wir dort Antworten finden. Irgendein Jürgen oder Manfred wird uns doch sicher weiterhelfen können.
Medienkompetenz heißt in meinen Augen vor allem: die ganze Bandbreite der Medien und ihrer Inhalte akzeptieren, und das umfasst auch, dass es Dinge darin gibt, die ich selbst nicht verstehe. Ich muss aber nicht jedem Instinkt nachgeben, etwas zu verdammen, das ich nicht verstehe, auch nicht dem zweiten Instinkt, ein Buch darüber zu kaufen (oder sogar zu schreiben), das verspricht, meine gefühlte Verdammung eines Mediums objektiv zu begründen und akademisch zu adeln. Fritz hat recht: das Gespräch suchen ist immer gut. Noch besser, die Beschäftigung mit dem Medium selbst. Auch wenn man Gefahr läuft, selbst in den Sog zu geraten.
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