von Solvejg Nitzke
„Ein schwimmender Sarg. Und keiner darf von Bord. Im Hamburger Hafen läuft das Kreuzfahrtschiff ‚Große Freiheit‘ ein. An Bord: Ein toter Passagier – verstorben an einem geheimnisvollen Virus. Bald herrscht Panik in der Stadt. Kriminalkommissar Adam Danowski, der eigentlich am liebsten am Schreibtisch ermittelt, wird an den Schauplatz beordert. Er kommt einem Verbrechen auf die Spur, das noch unzählige Tote zu fordern droht. Doch das unter Quarantäne gestellte ‚Pestschiff‘ darf keiner verlassen, selbst Kommissare nicht, und Danowskis Gegner sorgen mit aller Macht dafür, dass dies so bleibt…“ (Klappentext: Treibland von Till Raether, 2014)
Man mag von Klappentexten halten, was man will. Gerade ihre oft lose Beziehung zum Inhalt des beworbenen Buchs ist für kulturwissenschaftliche Analysen der Beziehung von Fakt und Fiktion aufschlussreich. Virus, Panik, (zukünftige) unzählige Tote, (unsichtbare) Gegner und drei vielsagende Punkte – all das sind Signale, die nicht nur auf den Text gemünzt sind, den sie beschreiben sollen, sondern auch darauf, möglichst viele Anknüpfungspunkte zur (Lese-)Erfahrung der angesprochenen Leser*innen zu bieten. Darin könnte angesichts der Angst vor Covid-19 auch ein Problem liegen, denn die gleichen Reizworte dominieren nun einen Diskurs, der aus den Fugen zu geraten scheint.
Till Raethers Kriminalroman Treibland, der erste Fall des Hamburger Kommissars Adam Danowski, bietet auch jenseits des Klappentextes zahlreiche Anknüpfungspunkte. Ein Kreuzfahrtschiff unter Quarantäne hat im Februar auch im Kontext der Angst vor dem sogenannten Corona-Virus Schlagzeilen gemacht. Die Schutzmaßnahmen, denen Danowski und seine Kolleg*innen genügen müssen, ebenso wie die Kommunikations- und Informationswege erscheinen vertraut. Nicht zuletzt der Unwille des Protagonisten, sich allzu intensiv mit dem Virus und allem, was damit zusammenhängt, zu beschäftigen, erinnert wahrscheinlich die meisten Menschen an sich selbst.
Es wäre allzu einfach, zu zeigen, dass und wie die Diskrepanzen zwischen Klappen- und Romantext ersteren als konventionellen Werbetext und letzteren als ausgesprochen geschickte Variante des klassischen locked room mystery auszeichnen. Als Literaturwissenschaftlerin könnte ich etwa meine Expertise bereitstellen, um Reibungspunkte aufzuzeigen und nachzuweisen, dass das alles „nur“ Fiktion ist und sich in diese oder jene Tradition einreiht. Doch genau diese Diskrepanzen zwischen Text und Paratext werden gerade wieder einmal zum produktiven Kern einer Gegenüberstellung von Fakt und Fiktion. Eine Gegenüberstellung, die alles andere als harmlos ist, denn sie stellt Berechtigung und Kompetenz der Fiktion, von Wirklichem zu sprechen, in Frage. Virennarrative müssen sich einmal mehr den Vorwurf gefallen lassen, Panik zu schüren, Ängste und Ressentiments zu verstärken. Sie werden auf höchst problematische Weise zu Akteuren einer Parallelwirklichkeit, in der der Weltuntergang hinter jeder Ecke lauert.
Ist es also fahrlässig, es sich gerade jetzt mit einem Buch gemütlich zu machen, das von einem tödlichen Virus handelt? Zum Lesen eignet sich die aktuelle Situation zweifellos, denn wie ließe sich Ansteckung besser vermeiden als allein auf dem Sofa? Aber darf man sich ausgerechnet jetzt, da so viele Menschen krank sind und noch viel mehr unter der Angst vor der Infektion leiden, gerade an so einem Szenario weiden? Sind es nicht genau solche Texte, die Panik schüren, weil sie falsche Erwartungen wecken und unangebrachte Vorstellungen über den Umgang mit hochansteckenden Krankheiten verbreiten?
Natürlich darf man lesen, was man will und wann man will. Aber die Frage in welchem Verhältnis Leseverhalten oder Fiktionskonsum (es gäbe ja auch den ein oder anderen Pandemiefilm, von Zombie-Serien ganz zu schweigen) und Angstreaktion stehen, gewinnt in diesem Moment wieder an Bedeutung. Was also, fragt etwa Johannes Franzen, „wenn es wie jetzt zum realen Ernstfall kommt: Ist unser Blick aufs tatsächliche Geschehen möglicherweise getrübt durch Bilder und Stimmungen aus all diesen Erzählungen?“ Spielt es eine Rolle, dass die Bilder der akuten Situation „scheinbar vertraute Ausnahmesituationen“ erzeugen?
Die Fragen nach der Rolle des Erzählens von Erfundenem reichen weit in die Kulturgeschichte zurück. Platons angebliche Verdammung der Dichter – sie lügen! – klingt heute (als einflussreiche kulturgeschichtliche Figur) wieder in der Kritik an mangelnder wissenschaftlicher Akkuratesse literarischer Texte an. Oscar Wildes Diktum „life imitates art“ (und nicht andersherum) stellt nur eines unter vielen selbstbewussten Statements dar, mit dem sich Literat*innen und Künstler*innen gegen das Gebot der Mimesis, der Nachahmung der Natur, zur Wehr setzen. Romantik, Realismus, Avantgarden – gerade die moderne Literatur lässt sich als eine Kette von Verhandlungen über die Rolle der Kunst lesen und (auch das wird gerade offensichtlich) diese Fragen sind noch keinesfalls beantwortet. Gefragt wird nach dem Zweck der Literatur: Soll sie „nur“ unterhalten, soll sie lehren, soll sie gar qua Katharsis für eine emotionale Grundreinigung sorgen? Oder ist sie autonom und nur für sich selbst da? Gefragt wird nach dem Verhältnis von Fakt und Fiktion, das immer dann zum Problem wird, wenn nicht (mehr) klar ist, wer die Deutungshoheit über bestimmte Phänomene oder Ereignisse beanspruchen kann. Man könnte ganze Forscher*innenkarrieren mit diesen Fragen zubringen… Kann also die Beschäftigung damit überhaupt in einer konkreten Situation weiterhelfen?
Diesen Grundsatzfragen wird man nicht sinnvoll begegnen, indem man – ob von natur- oder literaturwissenschaftlicher Seite – einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit Lesekompetenzen oder Unwissenheit unterstellt. Vielmehr wird hier möglich, wovon Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen sonst kaum zu träumen wagen: Vielleicht lässt sich beobachten, dass und wie Fiktionen tatsächlich Wirklichkeit beeinflussen. Das ist, darauf weist Franzen zurecht hin, auch ein unheimlicher Gedanke: Er weckt „die Angst davor, Jugendliche könnten durch die fiktiven Taten zu realen Verbrechen verführt werden. Oder die Befürchtung, Menschen könnten abstumpfen, gegenüber tatsächlichem menschlichen Leid.“
Übrigens steckt darin auch die Angst, das junge Frauen ein Dasein als „damsel in distress“ ebenso für normal halten könnten, wie junge Männer sich ausschließlich als Helden oder Bösewichte verstehen könnten. In der Möglichkeit, dass Fiktion Wirklichkeit beeinflusst, steckt aber auch Potenzial. Es wird auch (wieder) denkbar, dass Fiktionen Haltungen auf eine positive Weise beeinflussen – eine Hoffnung die gerade in ökologisch orientierten Erzählungen eine besondere Rolle spielt – und dass Fiktionen Diskussion darüber auslösen, in welchem Verhältnis all die Diskurse und Institutionen stehen, die an der Produktion von Wirklichkeit teilhaben.
Die oft zunächst implizite Behauptung, Romane, Filme und Spiele trügen dazu bei, dass Menschen sich von potenziell vernunftbegabten Individuen in eine unkontrollierbare, weil panische Masse verwandelten, wird immer öfter zum expliziten Vorwurf, je näher eine (empfundene) Bedrohung rückt. Das betrifft nicht nur das Thema der Pandemie, sondern ein ganzes Cluster an (Zukunfts-)Szenarien, deren ‚Management‘ in der Wirklichkeit allzu katastrophische Darstellungen im Weg stünden. Dazu ließe sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive einiges sagen. Wie vielfältig die gegenwärtige Katastrophenlust in der Forschung bearbeitet wird, lässt sich in Stefan Willers Forschungsbericht nachlesen.
Mich interessieren vor allem der gegenseitige Inkompetenzvorwurf der ‚zwei Kulturen‘ und seine möglichen Konsequenzen für die Kommunikation wissenschaftlicher und kultureller Tatsachen oder vielmehr, der Zusammenbruch der Unterscheidung. Der Vorwurf besteht banalerweise darin, dass Fiktionen nichts von den wissenschaftlichen Fakten und Wissenschaftler*innen nichts von Fiktion verstehen. Mehr ist es nicht. Damit behaupten jedoch beide Seiten eine so grundsätzliche Inkompetenz der anderen, dass fraglich bleibt, wie überhaupt über die gemeinsamen Gegenstände, Narrative und vielleicht sogar gemeinsame Ziele gesprochen werden soll. In den grenzüberschreitenden Fiktionen sehe ich also nicht zuletzt einen Anlass, über die anscheinende Unvereinbarkeit dieser Perspektiven nachzudenken und eine Chance, sie zu überwinden.
„Die zwei Kulturen“ ist der Titel einer Rede des Chemikers und Schriftstellers C.P Snow. In der Rede beklagt Snow die tiefe Kluft zwischen ‚scientists‘ und ‚literary intellectuals‘. Man beschwere sich zwar übereinander – die einen beherrschten ihren Shakespeare nicht, die anderen könnten nicht einmal das zweite Gesetz der Thermodynamik erklären –, aber ein Reden über die Notwendigkeit, die Kluft zu überwinden, gäbe es nicht. Tatsächlich sei Verständigung überhaupt nicht mehr denkbar. Das war 1959. Die Kluft ist seitdem trotz allerlei Bekenntnissen zu Interdisziplinarität und Austausch nicht kleiner geworden. Einig sind sich Geistes- und Naturwissenschaften nur in der Behauptung eines allgemeinen Niedergangs der Allgemeinbildung. Selbstredend ist das grob vereinfacht und ungenau (z.B. lassen sich die ‚zwei Kulturen‘ nicht einfach vom britischen in andere Wissenschaftssysteme übertragen. Gerade in Deutschland lassen sich Literatur, Literaturkritik und Literaturwissenschaft nicht unbedingt in einer ‚Kultur‘ zusammenfassen).
Vielleicht ist die Gegenüberstellung aber auch gerade deshalb so einflussreich und beständig. Sie führt dazu, dass wir übersehen, wie produktives Wissen und anschlussfähige Narrative nicht nur auf der einen oder anderen Seite, sondern mitten in der Kluft zwischen den Kulturen entstehen. Es ist also nicht getan mit mehr wissenschaftlichen Kenntnissen – im Sinne von „get your facts straight“ – oder größerer Fiktionskompetenz im Sinne einer umfangreichen literarischen Bildung. Auch wenn solche Kompetenzen sicherlich nicht schaden, bleiben sie weitgehend wirkungslos ohne eine Aufmerksamkeit für die ‚Mitte‘, in der sich Wissen formiert, das nicht so einfach zu sortieren ist.
Es ist ein hybrides Wissen, dass im Austausch der Kulturen entsteht, ob diese den Austausch nun wollen oder nicht. Science Fiction ist aus dieser Perspektive nicht in erster Linie ein Genre, sondern ein Modus, dessen Erkenntnisinteresse über professionalisierte Diskurse und Methoden hinaus reicht. Man könnte auch von einer Haltung sprechen, die nicht verlangt, aus Fiktionen praktisches Wissen zu gewinnen oder, umgekehrt, Wissenschaft als Erzählung zu entlarven. Vielmehr macht diese Haltung es möglich, unabhängig von der Darstellungsform gemeinsame Fragen zu erkennen.
Virus-Szenarien sind in diesem Sinne beinahe immer im Modus der Science Fiction verfasst. Sie stellen das Verhältnis von Fakt und Fiktion, von Wissenschaft und Erzählung auf besonders intensive Weise auf die Probe. Georg Seeßlens Behauptung, die Krankheit sei „das Wirklichste, was einem Menschen wiederfahren kann“ gewinnt in der Fiktion einen prekären Status. Einerseits generieren Viruserzählungen aus genau diesem Umstand (Infektion ist nicht diskutabel, krank ist krank) Energie und suspense, andererseits bleibt die Krankheit fiktiv.
Obwohl niemand – so meine Hoffnung – Dan Browns Inferno (2014) oder Michael Crichtons The Andromeda Strain (1969) liest, um sich über typische Verläufe viraler Infektionen zu informieren, so besteht der besondere Reiz des Virus-Szenarios darin, dass die Ansteckung selbst, unabhängig vom Plot, eine wirkliche Möglichkeit ist. Sie konfrontiert das betroffene Subjekt mit der eigenen Anfälligkeit für eben dieses Szenario und verleiht damit auch einem noch so absurden Plot einen Anker in der Wirklichkeit. Indem die Viruserzählung einen Akteur einführt, der scheinbar zielstrebig, aber absichtslos „handelt“, ruft sie eine fundamentale Unsicherheit auf. Diese betrifft auch die Wissenschaften, denn, so zeigt die sich ausbreitende Krankheit Covid-19 überdeutlich: Es ist eine Illusion zu glauben, ein Virus ließe sich ohne weiteres kontrollieren. Die „Jagd“ nach dem „unsichtbaren Gegner“ erzeugt Angstlust, weil sie die Erinnerung daran weckt, dass mikroskopisch kleine Wesen seit jeher eine allen Armeen überlegene Gefahr für die Menschen darstellen. Ein Virus, für das es noch kein Gegenmittel gibt, ist eine Herausforderung für eine Bandbreite an Kulturtechniken – auch für das Erzählen.
Fiktionskompetenz kann hier also nicht bedeuten, zwischen ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Darstellungen zu unterscheiden, sondern die Bedingungen einer Erzählung zu erkennen – ihre Struktur; die Traditionen, in die sie sich implizit und explizit einreiht; sowie die textinternen und –externen Strategien der Plausibilisierung des Erzählten. Umgekehrt wird so die narrative Bedingtheit nicht-fiktionaler Texte sichtbar. Das heißt, ein an Fiktionen geschulter Blick erlaubt es, z.B. Zeitungsartikel wie „Das unheimliche Rätsel um das Corona-Virus“ nicht nur auf ihren „Informationsgehalt“ hin zu lesen, sondern auch die Narrative zu erkennen, an denen sie sich orientieren. Wie beim oben zitierten Klappentext sind Überschriften, Bildunterschriften und Bilder nie nur einem „Haupttext“ untergeordnet, sie ermöglichen vielmehr Verbindungen, die im Text weder angelegt sein müssen noch notwendig von der Autor*in eines Textes gewollt wurden.
Interessant wird es also besonders dort, wo verschiedene Interessen aufeinandertreffen. Im Literaturbetrieb sind das oft geteilte Interessen unterschiedlicher Akteure. Im konkreten Fall des Kriminalromans Treibland bedeutet das, die paratextuellen Elemente Cover, Klappentext und Reihenvermarktung des Romans sind ebenso aussagekräftig für die Frage nach der „Macht der Fiktion“ wie der literarische Text selbst. Treibland ist also nicht nur ein ergiebiges Beispiel, weil die Handlung thematisch beinahe unheimlich aktuell ist. Der Roman wurde in unterschiedlichen Kontexten vermarktet, die für die hier gestellten Fragen relevant sind. Der Autor, Till Raether hat sich außerdem bereit erklärt, mir einige Fragen zur Konzeption des Romans und den Abläufen seiner Veröffentlichung zu beantworten. Damit steht mir ein weiterer (Vergleichs-)Text zur Verfügung, der die Analyse bereichert.
Zu diesen zählt auch die Genrebezeichnung: Treibland ist ein Kriminalroman. Diese Zuordnung strukturiert Erwartungen und ermöglicht und limitiert also das, was plausibel erzählt werden kann. ‚Plausibel‘ ist an dieser Stelle das entscheidende Kriterium, nicht ‚wissenschaftlich‘ oder ‚realistisch‘. Und was plausibel ist, wird aus einem Dialog zwischen Einzeltext und Genre-Konvention ausgehandelt. Das gilt auch für Stoff und Erzählhaltung. Der Kriminalroman ist ein analytisches Genre, das letztlich meistens auf die Aufklärung eines Verbrechens hinausläuft – was aber aufgeklärt, erkundet und zergliedert wird, das hängt vor allem von den Fähigkeiten und Interessen der ermittelnden Figuren ab.
Um das Spektrum der Fähigkeiten und Interessen zu erweitern, steht der Protagonist in Treibland, der Kommissar Adam Danowski, nicht allein da mit seinem Viren-Fall. Die Rechtsmedizinerin Kristina Ehlers und Tülin Schelzing, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Tropeninstitut, vermitteln dem Kommissar das Wissen, das er braucht, um sich im Fall zu orientieren – und damit nicht nur ihm, sondern auch den Leser*innen. Und genau darum geht es: Orientierungswissen. Niemand benötigt Spezialkenntnisse, um zu verstehen, worum es geht. Gleichzeitig sind die entscheidenden Punkte so weit an tatsächlichen Abläufen orientiert, dass auch jemand mit Spezialkenntnissen, dem Plot ohne Störung folgen kann.
Es besteht zu keinem Zeitpunkt ein Zweifel daran, dass der Kommissar im Vergleich zu den beiden Frauen keine Ahnung hat. Nachvollziehbarerweise will er mit allem möglichst wenig zu tun haben, was ihm – das ist schließlich ein Kriminalroman – allerdings nicht gelingt. Ehlers und Schelzig könnten unterschiedlicher kaum sein. Schelzig als pedantische Hüterin der Verhaltensregeln steht Ehlers gegenüber, die nicht weniger pedantisch alle Regeln bricht (nicht ohne sich auf ihre eigene fachliche Autorität zu berufen). Dass dabei nur der Virus gewinnen kann, macht der Tod der fahrlässigen Rechtsmedizinerin ein für alle Mal klar. Wer sich absichtlich über Expertenwissen hinwegsetzt, krepiert jämmerlich. Aber auch Schelzig behält keine weiße Weste. Sie verbirgt Informationen, damit ihre eigene Arbeit nicht unter Verdacht gerät. Aus ihrem Handeln spricht die Wissenschaftlerin, die in einem prekären System gelernt hat, wie sehr auch ihre Autorität (und Anstellung) am makellosen Ruf der Institution hängt.
Der Virus gerät schon in dieser kurzen Analyse ins Hintertreffen, Raether bezeichnet ihn als „reines Vehikel“: „Mich haben damals zwei Dinge interessiert: die Situation des Eingesperrtseins, der Fremdbestimmtheit an einem eher absurden Ort, in dem das aber schon angelegt ist; also die Quarantäne als Parodie der Kreuzfahrt. Zum zweiten die Krise als Anlass für Menschen, sich gewissermaßen ‚auszurichten‘.“ Der Virus auf dem Schiff ermöglicht und plausibilisiert bestimmte Maßnahmen und Umstände, was für den Autor ebenso bedeutsam ist wie für die Verschwörer*innen im Roman.
Indem er die „Quarantäne als Parodie der Kreuzfahrt“ in Szene setzt, entwirft Raether also eher eine Whodunnit-Version von David Foster Wallaces Essay A Supposedly Fun Thing I’ll Never do Again oder eine Kreuzfahrt-Adaption von Agatha Christies Roman Murder on the Orient Express. Wie in den Vergleichstexten ist der Anspruch des Romans nicht, die Aufklärung über richtiges Verhalten im Quarantänefall, sondern Plausibilität von Figuren und Plot (auch wenn einige Regeln so lustvoll aufgestellt und gebrochen, dass man sicher etwas lernen kann, wenn man denn unbedingt will). Das ist kein geringer Anspruch, ganz im Gegenteil. Gegenüber ausufernden und sich selbst überschlagenden „Wissenschaftsthrillern“ á la Frank Schätzing zeichnet sich Treibland durch eine konzentrierte Struktur aus. Doch während sich der Roman explizit auf die „Lebenswirklichkeit“ des Autors bezieht, fordert das Stichwort „Virus“ offenbar Größeres.
Hier kommt erneut die Vermarktung ins Spiel: Die Beziehung von Text und „Wissenschaft“ wird in einem anderen Kontext ausgestellt: Treibland wurde in erweiterter Ausgabe als Teil eines Schubers mit „Wissenschaftskrimis“ veröffentlicht, der genau diese Beziehung in den Vordergrund stellt. Die ZEIT-Edition „Wissenschaftskrimis“ will „spannende Themen mit intelligenter Unterhaltung“ verbinden und verleiht den ausgewählten Texten „als besonderes Extra“ ein Nachwort, „in dem ein ZEIT-Autor den Krimi analysiert und erklärt, welche Aspekte der wissenschaftlichen Realität entsprechen und welche der Fantasie des Autors (sic!) entstammen.“
Hübscher kann man einen Text gemäß der Zwei-Kulturen-These nicht aufräumen – Phantasie in die eine Kiste, Realität in die andere. Genau durch diese Trennung droht aber eine solche Vermarktung problematisch zu werden. Nicht nur, weil die Unterscheidung nicht funktioniert und sicherheitshalber keine Expert*innen für Erzähltexte eingeladen werden mit zu „erklären“, sondern auch, weil Reihe und Schuber Zusammenhang signalisieren, wo Differenzierung sinnvoll wäre. Denn ein locked room mystery, wie Treibland verhandelt wissenschaftliche Tatsachen auf andere Weise als ein „Wissenschaftsthriller“. Das Interesse richtet sich – hier bestätigt die Analyse Raethers Auskunft – auf das Verhalten der Figuren in einem Ausnahmezustand, der den ‚Regeln‘ des Genres gemäß begrenzt ist.
Ein Thriller hingegen zeichnet sich gerade durch eine Offenheit aus, die den Anspruch impliziert (nur selten aber ausdrücklich macht), Aussagen über die dargestellte Wirklichkeit hinaus zu treffen. So erschien beispielsweise 2009 in der ersten Ausgabe der ZEIT-Edition (damals noch und jetzt wieder „Wissenschaftsthriller“) Michael Crichtons Roman State of Fear/Welt in Angst (2004/2005), dessen nur dünn durch Ironie maskiertes Bekenntnis zur Klimawandelleugnung im Nachwort den Text in der Tat zu einem fragwürdigen Hybrid zwischen Science-Fiction und Verschwörungstheorie macht. Appendizes und Nachworte, Bibliographien und Zusatzpublikationen (z.B. Frank Schätzing: Nachrichten aus einem unbekannten Universum: Eine Zeitreise durch die Meere, 2009) oder die aus journalistischer oder wissenschaftlicher Arbeit gewonnene Verdopplung von Autorität (z.B. Richard Prestons „non-fiction Thriller“: The Hot Zone: The Chilling True Story of an Ebola Outbreak, 1995) verwischen die Grenzen zusätzlich.
Es ist dann völlig unerheblich, wie ‚hoch’ der wissenschaftliche ‚Gehalt‘ eines Textes ist, denn er weicht den Pakt mit den Leser*innen eines fiktionalen Textes auf. Das heißt, er beansprucht nicht nur im Medium der Fiktion, sondern geradezu universell Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen. Im ‚schlimmsten‘ Fall wird der Text ex post zu einem ‚wirklicheren‘ Wissen erklärt – wirklicher als das, auf das er sich selbst (qua Literaturliste, Expertenrat und -legitimation) stützt. Solche Texte haben das Potenzial, die Methoden zur Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion zu unterlaufen.
Das bedeutet, je ‚wissenschaftlicher‘ Fiktion daherkommt, desto skeptischer muss sie gelesen werden, denn sie verpflichtet sich damit Prinzipien einer anderen Kultur. Selbstredend wird es an dieser Stelle aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ziemlich spannend und es kann sich ein enormes subversives Potential entwickeln, das durchaus wünschenswerte gesellschaftliche Transformationen anstoßen kann. Aber spätestens hier sollte klar werden, dass, um dieses zu entfalten, eine Haltung (beider Kulturen!) nötig ist, die ‚den Leuten‘ eine weitaus höhere Fiktionskompetenz zutraut, als das oft der Fall ist. Die allermeisten wissen sehr wohl, ob sie gerade Outbreak schauen oder Tagesschau, oder dass Empfehlungen vom Robert-Koch-Institut einen anderen Stellenwert haben, als Vermutungen von Mulder und Scully. Wo aber ‚Literatur‘ und ‚Fiktion‘ bloß den Kopf hinhalten müssen, weil Kommunikation scheitert, kann ihr Potenzial „Welten zu machen“ (Nelson Goodman) nur versanden. Dabei ließe sich aus dem lustvollen Schauder über das ekelhafte Dahinsiechen einer Figur durchaus nicht nur Niesetikette, sondern auch ein gewisser Respekt für das Wissen der anderen erlernen.
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