Was man lesen kann – Frühjahrsempfehlungen von 54books

Wer einmal über eine der beiden großen Buchmessen Deutschlands in Leipzig und Frankfurt gelaufen ist, hat eine Ahnung davon bekommen, wie viele Bücher jedes Jahr im Frühjahr und in der Herbstsaison erscheinen. Niemand kann da den Überblick behalten, und warum auch? Von den rund 70 000 Büchern, die jährlich in Deutschland auf den Markt kommen, kann und will man nicht einmal einen Bruchteil lesen. Und selbst diejenigen, die man gerne lesen würde, wird man nicht alle innerhalb des Jahres lesen können. Es scheint ein schier unmögliches Unterfangen zu sein, eine Schneise der Empfehlungen in dieses Dickicht aus Neuerscheinungen zu schlagen.

Und dennoch, wir haben es versucht, uns durch eine Liste von 50 Verlagen mit über 500 Neuerscheinungen im Frühjahr 2020 gearbeitet und herausgesucht, was für uns interessant, nennenswert oder auch nur zumindest relevant erschien.

Wir präsentieren euch die 54books-Vorschau des ersten Halbjahres 2020

 

Sprache und SeinWie beeinflusst Sprache unser Denken? Welche normativen Überlegungen folgen aus dem, was wir darüber wissen? Und was hat das alles mit Feminismus zu tun, mit Emanzipation, mit Rassismus, mit Diskriminierung und Befreiung? In Sprache und Sein, einem erzählenden Sachbuch, geht Kübra Gümüşay, immer wieder mit autobiographischer Färbung, diesen Fragen nach.

(Kübra Gümüşay Sprache und Sein, Hanser Berlin, erscheint am 27. Januar 2020)

Der Verbrecher Verlag hat in den letzten Jahren für einige positive Sonne, Mond, ZinnÜberraschungen gesorgt und auch Alexandra Riedels Debüt Sonne Mond Zinn verspricht anhand des ersten Eindrucks der Leseprobe, ein guter Roman zu sein. Über den Inhalt selbst erfährt man nicht viel aus der Vorschau, aber die Haltung, mit der die Erzählfigur in einem lockeren Ton an ein Du gerichtet in den Roman einsteigt, lässt auf ein geschmeidig fließendes Erzählen hoffen.
(Alexandra Riedel Sonne Mond Zinn, Verbrecher, erscheint am 28. Januar 2020)

Der Titel des neuen Roman von Bov Bjerg bietet Raum für Interpretationen. Serpentinen handelt von einem Vater, der mit seinem Sohn auf die Suche nach der eigenen Vergangenheit geht. Beinahe metaphorisch, meint man, steht der sich schlängelnde Weg den Berg hinauf für die Reise in die Kindheit des Vaters. Düsterer als Bjergs Bestseller Auerhaus wirkt dieser Roman und der reduzierte, parataktische Stil der Leseprobe verspricht ein zurückgenommenes Erzählen über die Männer einer Familie.
(Bov Bjerg Serpentinen, Claassen, erscheint am 31. Januar 2020)

Tine Høeg Buchcoverhat mit ihrem ersten Roman Neue Reisende den Debütpreis einer Dänischen Buchmesse erhalten und eigentlich schreckt uns die Ankündigung erst ab, denn eine junge Lehrerin lernt auf dem Weg zum ersten Arbeitstag einen verheirateten Mann kennen und dann Affäre und dann Drama, schaut man aber in die Leseprobe, flattern einem die Sätze nur lose gesetzt um die Ohren und es könnte sein, dass das auf 200 Seiten ganz fürchterlich in die Hose geht oder ganz, ganz grandios ist.
(Tine Høeg Neue Reisende, aus dem Dänischen von Gerd Weinreich, Droschl, erscheint am 7. Februar 2020)

Es fällt schwer, sich das Buch Eisfuchs der kanadischen Autorin Tanya Coverbild Eisfuchs von Tanya Tagaq, ISBN 978-3-95614-353-3Tagaq nicht von der Ankündigung des Verlags verderben zu lassen, die nicht nur in der marktschreierischen Rhetorik dieser Texte ein „atemberaubendes Debüt“ ankündigt, sondern auch alle YA-Klischees abdeckt, die in den letzten Jahren bis zum Überdruss verbraten wurden: Kindliche Perspektive, bedrohliche Erwachsenenwelt, Magie, Füchse. Allerdings erreicht uns dieses Buch auch mit einer kurzen sehr positiven Notiz des New Yorker, die uns gespannt macht: “This mystical novel draws on the author’s life to tell the story of a young girl growing up in Nunavut in the nineteen-seventies, in an Inuit community that has experienced ‘government relocation, the shift into capitalism, and the moulting of the Shaman Skin.’” Wir sind optimistisch, und vertrauen in dieser Hinsicht dem New Yorker, der uns einen ernsten poetischen Text verspricht.
(Tanya Tagaq Eisfuchs, aus dem Englischen von Anke Caroline Bruger, Kunstmann, erscheint am 11. Februar 2020)

Interessant klingt allein schon der Titel von Valerie Fritschs Roman Die Herzklappen von Johnson & JohnsonHerzklappen von Johnson & Johnson und auch die Handlung von einem jungen Paar, das ein Kind bekommt, das keinen Schmerz empfinden kann, ist vielversprechend. Wie eine außerhalb der Zeit stehende Litanei ziehen die ersten Seiten dieses Romans die Leser*innen hinein. Dabei spannt die Autorin einen Bogen von den Erinnerungen der Großmutter der kleinen Alma bis in die Gegenwart des Kindes.
(Valerie Fritsch Die Herzklappen von Johnson & Johnson, Suhrkamp, erscheint am 17. Februar 2020)

Der Ruf nach mehr Zeitgeschichte in der Gegenwartsliteratur wird allzuoft mit Romanen beantwortet, die thesenhaft und aufgesetzt allerlei Talking Points zu literarischen Handlungen verrühren. Am Ende hat man dann Palast der Miserableneine Peinlichkeit wie Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen. Von Abbas Khiders neuem Roman Palast der Miserablen, der vom Leben einer Familie im Irak unter Saddam Hussein erzählt, versprechen wir uns im Gegenteil ein Buch, das den Horror der Geschichte nicht nur benutzt, um einen Leitartikel zu vertonen, sondern um echte Literatur zu schaffen. Die Ankündigung des Verlags, uns erwarte ein „persönlicher, höchst lebendiger Roman voll unvergesslicher Figuren“ klingt zwar einigermaßen bedrohlich, aber wir hoffen das Beste.
(Abbas Khider Palast der Miserablen, Hanser, erscheint am 17. Februar 2020)

Liest man durch das Programm von Blumenbar, drängt sich der Eindruck auf, die Voraussetzung in dieses aufgenommen zu werden sei eine Menge Instagram-Follower: Die Gedichte von Yrsa Daley-Ward lesen „im Internet Hunderttausende“ (@yrsadaleyward), Morgane Ortin hat gar aus ihrem https://www.aufbau-verlag.de/media/Upload/cover/9783351050795.jpgInstagram Account einen Roman gezimmert (@amours_solitaires). Damit kann Mary Gaitskill nicht dienen, aber mit ihrem „Skandalbuch“ von 1988, dem Kurzgeschichtenband Bad Behavior, der ein Jahr später auf Deutsch erschien, aber nicht mehr lieferbar war. Ihre Geschichten drehen sich um Drogenmissbrauch, Prostitution und BDSM. Die englische Wikipedia fasst das knackig zusammen:
Gaitskill’s fiction is typically about female characters dealing with their own inner conflicts, and her subject matter matter-of-factly includes many “taboo” subjects such as prostitution, addiction, and sado-masochism.
(Quelle: Wikipedia, letzter Abruf 17.1.2020).
Obvious, warum das Buch aktuell ist und warum man sich das ruhig mal auf den Zettel schreiben darf.
(Mary Gaitskill Bad Behavior – Schlechter Umgang, aus dem Englischen von Nikolaus Hansen, Blumenbar, erscheint am 18. Februar 2020)

In einer Zeit, in der Ereignisse gemacht werden, um das Konstrukt einer politisierten Realität zu bestätigen, kann man nicht genug darüber lesen, wie die Medien funktionieren, und darüber, was guten und was schlechten Journalismus ausmacht. 2019 erschienen mit Ronan Farrows Catch and Kill und She Said von Jodi Kantor und Megan Twohey zwei Bücher über heroischen Journalismus und die sinistren Kräfte, die sich ihm entgegenstellen. Von den sinistren Kräften innerhalb des Journalismus erzählte Juan Morenos Tausend Zeilen Lügen. Nun veröffentlicht der Secession Verlag das Buch Breaking News. Das Ende des Journalismus und seine Zukunft von Alan Rusbridger, dem ehemaligen Guardian-Chefredakteur. Wir hoffen auf eine spannungs- und anekdotenreiche Geschichte und Analyse des Journalismus in den letzten Jahrzehnten.
(Alan Rusbridger Breaking News – Das Ende der Journalismus und seine Zukunft, aus dem Englischen von Joachim von Zeppelin, Secession, erscheint im Feburar 2020.)

Passend zur Poschardt-Monografie (siehe weiter unten) liefert der Heidelberger Geschichtsprofessor Edgar Wolfrum uns mit Der Aufsteiger, der „ersten historischen Gesamtdarstellung der Berliner Republik“ den Buchdeckel „978-3-608-98317-3Hintergrund. In den vergangenen Jahren ist klar geworden, dass Kämpfe um die Deutung der jüngsten Geschichte dieses Landes möglicherweise von größerer Bedeutung sind, als man es noch vor einem knappen Jahrzehnt hätte meinen können. Das Urteil eines seriösen Historikers dazu zu hören kann nicht schaden.
(Edgar Wolfrum Der Aufsteiger, Klett-Cotta, erscheint am 22. Februar 2020)

Wense, Hauptfigur und Namensgeber des Romans von Christian Schulteisz wird als „Universaldilettant“ angekündigt. Sowas bin ich ja auch – sind wir das nicht alle? Von allem ein bisschen, da und dort, reinschnuppern, ausprobieren, weglegen, vergessen.

[I]ch bin kein schriftsteller, kein literat, kein dichter, kein gelehrter, kein musicus, vielmehr nichts als ein mensch, d. h. philosoph, ein rebell!

Aus: Von Aas bis Zylinder. Werke. Das Briefwerk. Hrsg. Reiner Niehoff und Valeska Bertoncini. 2 Bde. Zweitausendeins, Frankfurt 2005.

Der Roman, soviel wird in der Vorschau zumindest verraten, beruht auf dem Leben Jürgen von der Wenses, aus dessen Leben und Werk der blauwerke Verlag auf Twitter postet. Der Wikipedia Eintrag von Wense ist uns zusammen mit dem Wort „Universaldilettant“ bereits Grund genug, diesen Roman auf dem Zettel zu haben.
(Christian Schulteisz Wense, Berenberg, erscheint am 25. Februar 2020)

Im Guardian wurde Saskia Vogels Roman Permission so beschrieben: „Permission is a story about grief, loneliness and sadomasochism.” Und mehr müssen wir eigentlich über dieses Buch gar nicht wissen, um es interessant zu finden. Außer vielleicht die Ankündigung, dass die Klischees von BDSM, die sich durch Heuler wie 50 Shades of Grey in unserer Kultur sedimentiert haben, konsequent unterlaufen werden.
(Saskia Vogel Permission, aus dem Englischen von Benjamin Dittmann, Secession, erscheint am 28. Februar 2020)

Die Fiktionalisierung von Biographien bleibt offenbar Trend. Das Mädchen mit der Leica ist Gerda Taro, eine in 1910 in Stuttgart geborene Fotografin, die 1937 im spanischen Bürgerkrieg starb. Mit 23 verließ Taro das nationalsozialistische Deutschland und ging ins Pariser Exil. Bei ihrer Das Mädchen mit der LeicaBeerdigung führten Pablo Neruda und Louis Aragon den Trauerzug an, ihr Grabmal schuf Giacometti. Dem Leben der ersten weiblichen Kriegsfotografin spürt Helena Janeczek nach, Aufhänger ist die (reale) Wiederentdeckung eines Koffers mit Negativen von Taro in Mexico.
(Helena Janeczek Das Mädchen mit der Leica, aus dem Italienischen von Verena von Koskull, Berlin Verlag, erscheint am 2. März 2020)

Der andere Roman dieses Frühjahrs, der mit dem Bild der Serpentinen im Titel spielt, ist Olivia Wenzels Debüt 1000 Serpentinen Angst. Hier 1000 Serpentinen Angstbekommt die Metapher aber noch einmal eine ganze andere Wucht. So atemlos wie der Titel es vermuten lässt, scheint sich auch die Handlung durch die Jahrzehnte der wiedervereinigten Bundesrepublik zu winden. Schon die Vorschau ruft einige wichtige Ereignisse der letzten Jahrzehnte auf und positioniert die Erzählerin dazu. Nach einigen Theaterstücken dürfte Wenzels vielversprechender Roman die Autorin auch auf anderen Feldern der Literatur bekannt machen.
(Olivia Wenzel 1000 Serpentinen Angst, S. Fischer, erscheint am 4. März 2020)

Im Dezember 2019 erschien ein Text in der ZEIT, der die 122 Morde an Frauen in Deutschland durch Männer und Lebensgefährten im Jahr 2018 in horrend effektiver Weise einfach aufzählte. Ebenfalls 2019 wurde Rachel Louise Snyders No Visible Bruises, eine Reportage über häusliche Gewalt, auf die Liste der besten Bücher des Jahres gesetzt. Gewalt gegen Frauen als epidemisches und allgegenwärtiges Phänomen ist – viel zu spät – zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte geworden. 2020 veröffentlicht der Kunstmann Verlag nun Christina Clemms Akteneinsicht. Geschichte von Frauen und Gewalt. In der Coverbild AktenEinsicht von Christina Clemm, ISBN 978-3-95614-357-1Verlagsvorschau heißt es darüber: „Nach den neuesten Zahlen des BKA ist jede dritte Frau in Deutsch­land von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Welche Lebensgeschichten sich hinter dieser erschreckenden Zahl verbergen, davon erzählt die Strafrechtsanwältin, empathisch und unpathetisch.“ Wir hoffen vor allem, dass die Vorgaben „emphatisch“ und „unpathetisch“ eingehalten wurden, und ein Buch entstanden ist, das auf nicht-exploitative Art und Weise einem Phänomen, das existieren kann, weil es oft im Privaten stattfinden, mehr Öffentlichkeit verschafft.
(Christina Clemm Akteneinsicht. Geschichte von Frauen und Gewalt, Kunstmann, erscheint am 3. März 2020)

Sibylle Berg hasst oder liebt man, und es gibt gute Gründe, sie mindestens anstrengend zu finden. Genau deswegen ist sie wiederum wahrscheinlich die Beste, um mit 17 renommierten Wissenschaftlern über den Zustand unserer Welt zu sprechen. Nerds retten die Welt entstand während der Recherchen zu GRM und wir möchten gerne, dass Sibylle Berg uns auch einmal interviewt.
(Sibylle Berg Nerds retten die Welt, Kiepenheuer & Witsch, erscheint am 05. März 2020)

Nicht nur, aber vor allem in Deutschland kommt spätestens seit Anfang der Nullerjahre keine technikpolitische Diskussion ohne den Verweis auf China aus. Dass irgendetwas Technisches in China schneller, früher oder Die Frage nach der Technik in Chinaenthusiastischer betrieben werde als anderswo, ist ein Standardkommentar geworden. Da kann es nicht schaden, sich damit zu beschäftigen, ob es tatsächliche Unterschiede im Technikdenken zwischen China und »dem Westen« gibt. Der international tätige chinesische Philosoph Yuk Hui, derzeit Dozent in Weimar, beschäftigt sich in dem Großessay Die Frage nach der Technik in China mit der Suche nach einem genuin chinesischen Denken über Technik in Anschluss an „westliche“ und „östliche“ Literatur.
(Yuk Hui Die Frage nach der Technik in China, Matthes & Seitz, erscheint am 6. März 2020)

Der Titel Von den Deutschen lernen ist gewagt und erzeugt allein dadurch schon Aufmerksamkeit. Von der jüdischen amerikanischen Von den Deutschen lernenPhilosophieprofessorin Susan Neiman kann man sich aber tatsächlich eine sinnvolle Auseinandersetzung mit der Frage erhoffen, was an der spezifisch deutschen Art des Umgangs mit dem Bösen in der eigenen Vergangenheit wertzuschätzen sein könnte, ohne dass es in der typisch deutschen Selbstzufriedenheit der „Erinnerungsweltmeister“ versinkt.
(Susan Neiman Von den Deutschen lernen, aus dem Englischen von Christiana Goldmann, Hanser Berlin, erscheint am 9. März 2020)

Nicht nur ein Sachbuch, das sich mit dem Thema häusliche Gewalt gegen Frauen auseinandersetzt, erscheint dieses Frühjahr, sondern auch ein schon hochgelobter Roman. In Schläge. Ein Porträt der Autorin als junge Ehefrau erzählt Meena Kandasamy autobiographisch gefärbt von der Ehe zwischen einer jungen Frau und einem Professor, der sich nach kurzer Zeit vom „perfekten Mann“ zum „perfekten Monster“ (Verlagsvorschau) entwickelt. Die Vorschusslorbeeren, mit denen dieser Roman jetzt nach Deutschland kommt, sind groß, aber man darf zu Recht hoffen, dass er ihnen gerecht wird.
(Meena Kandasamy Schläge. Porträt der Autorin als junge Ehefrau, aus dem Englischen von Karen Gerwig, Culturbooks, erscheint am 9. März 2020)

Dass die Deutschen ein ganz eigenes Verhältnis zu ihren kreuzungsfreien Fernstraßen haben, pfeifen die Spatzen von den Heckspoilern. Auf der Buchdeckel „978-3-608-50448-4Autobahn ist der Deutsche ganz bei sich, am liebsten im schwarzen TDI mit 190 auf der linken Spur – oder bei Sanifair und Riesenbockwurst. Soweit das Klischee. Zugleich ist die ohnmächtige Wut auf den Autoverkehr in seiner spezifisch hässlich-deutschen Machart seit Langem nicht so laut und präsent gewesen wie heute. Michael Kröchert hat ein Jahr lang die deutschen Autobahnen bereist: genau zur rechten Zeit.
(Michael Kröchert Autobahn, Tropen, erscheint am 11. März 2020)

Als Katharina Herrmann ihren Beitrag Auch ein Land der Dichterinnen und Denkerinnen für 54books schrieb, avancierte dieser über Nacht zu dem meistgelesen und -diskutierten Beitrag auf diesem Blog. Rund drei Jahre später erscheint nun bei Reclam das gleichnamige Buch Dichterinnen & Denkerinnen. Von Luise Gottsched bis Marieluise Fleißer: Katharina Herrmann stellt zwanzig Autorinnen und deren (mal mehr, mal weniger) vergessene Werke vor. Wer die Artikel der Autorin kennt, weiß, dass man sich über 200 Seiten bestens unterhalten und hinterher klüger fühlen wird. Ganz klar: absolutes Muss im Frühjahr!
(Katharina Herrmann Dichterinnen und Denkerinnen, Reclam, erscheint am 11. März 2020)

Poschardt? Soll das ein Witz sein? »Drulf«, wie Kenner den schneidigen Franken nennen, der seinen Doktorgrad bei Formularen gerne mit ins Vorname-Feld einträgt, hat seinen Ruhm eher als ständiges mediales Buchdeckel „978-3-608-98244-2Ärgernis erworben denn als seriöser Autor. Von einer Art porschefahrendem Maskottchen der frühen Berliner Republik hat er sich inzwischen zum Chefredakteur bei Springer und Lieblings-Twittertroll der Boomer-Jahrgänge hochgearbeitet, aber: Sollte man denn ein Buch von ihm lesen? Ja, man sollte Mündig lesen, und sei es, um sich fundierter ärgern zu können. Auf Twitter postet er ja keine zusammenhängenden Sätze mehr.
(Ulf Poschardt Mündig, Klett-Cotta, erscheint am 14. März 2020)

Cover ZerstörungÜber das Schreiben in einer Diktatur, die unerwartet über die Erzählerin hereinbricht, erzählt Cécile Wajsbrot in ihrem Roman Zerstörung. Die Inhaltsangabe des Verlags über eine Diktatur, die die Erinnerung an die Vergangenheit auslöscht und Geschichte tilgt, klingt nach einem Roman, der auf aktuelle politische Entwicklungen in Europa und dem Rest der Welt reagiert.
(Cécile Wajsbrot Zerstörung, aus dem Französischen von Anne Weber, Wallstein, erscheint am 20. März 2020)

Da heutzutage jeder Hinz und Kunz im politischen Tagesgeschäft mit irgendwelchen Rekursen auf kulturelle »Eigenbestände« von wem auch immer hausieren geht, ist es dringender denn je notwendig, sich ein wenig fundiert damit auseinanderzusetzen, was ein Kulturelles Erbe überhaupt sein könnte. Sabine Benzer beschäftigt sich im Dialog mit einer Reihe hochkarätiger Expert*innen mit unterschiedlichen Aspekten des Themas. Sicherlich lesenswert und erfreulich dünn.
(Sabine Benzer (Hg.) Kulturelles Erbe, Folio, erscheint am 31. März 2020)

Im April veröffentlicht Rowohlt die Übersetzung des vierten Romans von Khaled Khalifa. Das Buch trägt den Titel Keine Messer in den Küchen dieser Stadt (zuerst veröffentlicht 2013) und erzählt anhand des Schicksals einer Familie in Aleppo die Geschichte des modernen Syrien. Der Erzähler wird geboren während Hafiz al-Assad die Macht im Land an sich reißt. Man kann nur hoffen, dass die Übersetzung das Versprechen dieses Buches einhält. Verheißungsvoll klingt bereits, was der Guardian über die englische Version schreibt: „The writing is superb – a dense, luxurious realism pricked with surprising metaphors.“
(Khaled Khalifa Keine Messer in den Küchen dieser Stadt, aus dem Syrischen von Hartmut Fähndrich, Rowohlt, erscheint am 21. April 2020)

Ungewöhnlich und vermutlich eine Beschreibung eines Gemäldes ist der Titel von Alena Schröders Roman über drei Frauen Bildergebnis für Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleidim 20. und 21. Jahrhundert. Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid erzählt von den Umwegen, auf denen das Kunstvermögen einer jüdischen Familie im Jahr 2017 zu der 27-jährigen Hannah Borowski gelangt. Nach den unerwarteten Verstrickungen von Lebensläufen klingt die Handlung um die junge Senta Köhler in den 1920er Jahren, die ihr Kind aus erster Ehe beim Vater zurücklassen muss, und Hannah Borowski in der Gegenwart des 21. Jahrhundert. Wer der Autorin in ihrem Podcast sexy und bodenständig im Gespräch mit ihrem Kollegen Till Raether zugehört hat, weiß schon ein paar Dinge über die Entstehung dieses Romans.
(Alena Schröder Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid, Ullstein, erscheint am 24. April 2020)

Einen Schreibtisch mit Aussicht braucht frau, um zu schreiben. Ausgehend von Virginia Woolfs Aussage, eine Frau brauche nur 500 Pfund im Monat und ein eigenes Zimmer (A room of one’s own), um große Literatur verfassen zu können, versammelt diese Anthologie (herausgegeben von Ilka Piepgras) Essays, in denen sich Schriftstellerinnen mit ihrem Schreiben auseinandersetzen; darunter Autorinnen wie Eva Menasse, Sybille Berg, Zadie Smith, Sheila Heiti und Joan Didion. Der Essayband reiht sich damit ein unter Bände mit unterschiedlichen Autor*innen, die in den letzten Jahren erschienen sind.
(Ilka Piepgras (Hg.) Schreibtisch mit Aussicht, Kein & Aber, erscheint am 12. Mai 2020)

Drei 34-jährige Kulturjournalisten aus Berlin und eine 31-jährige Kulturjournalistin aus Berlin unterhalten sich in Liebe, Körper, Wut & Nazis über „Fragen, die niemand zu stellen wagt“. Das klingt entsetzlich. Man Buchdeckel „978-3-608-50465-1möchte es aber trotzdem gerne lesen, denn entweder ist der „Selbstversuch“ von Jennifer Beck, Fabian Ebeling, Steffen Greiner und Mads Pankow wirklich aufschlussreich; oder man lernt bei der Lektüre zumindest etwas über Illusionen und blinde Flecke eines bestimmten Segments des Literaturbetriebs. (Offenlegung von Matthias Warkus: Ich habe einmal in einer Marburger WG gewohnt, in der Steffen Greiner ab und zu am Küchentisch saß.)
(Jennifer Beck et al. Liebe, Körper, Wut & Nazis, Tropen, erscheint am 23. Mai 2020)

Das ist sie, die Liste der Neuerscheinungen des Frühjahrs, die das 54books-Team für erwähnens- und empfehlenswert hält. Und nun lest!

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