von Jutta Reichelt
Ich habe mich über nahezu alles Wichtige in meinem Leben geirrt. Ich habe mich auch über die Sprachlosigkeit geirrt, in der ich mich fast mein ganzes Leben lang befunden habe. Zunächst habe ich sie kaum einmal bemerkt. Und wenn ich sie bemerkte, dann war ich überzeugt, dass ich selbst daran schuld war. Weil es so vieles gab, für das ich mich schämte. Wenn die Scham nicht wäre, habe ich gedacht, dann könnte ich auch von mir erzählen. Von dem, was mich ausmacht. Und als ich dann der Scham allmählich Paroli bieten konnte (nicht zuletzt dank einer langen Therapie, für die ich mich ebenfalls lange geschämt habe) und es mit dem Erzählen noch immer nicht klappte, da war ich mir sicher: Wenn ich mich nur besser erinnern könnte, wenn ich mehr wüsste, dann würden sich meine „Erzählprobleme“ auflösen. Aber so war es nicht. Auch als ich endlich genug über das wusste, was mir widerfahren war, verknoteten sich meine Gedanken, sobald ich an mich und meine Vergangenheit nur dachte. Jeder erste Satz brachte mich in Erklärungsnot. Und mit jedem weiteren Satz wurde es nicht klarer, sondern komplizierter. Immer weniger stimmte, je mehr ich erzählte. Und was vielleicht noch seltsamer war: Ich verstand nicht, wie das sein konnte. Was machte das Erzählen noch immer so kompliziert? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass es mir nicht möglich war.
Ich suchte nach Literatur – so wie ich immer nach Literatur suche, wenn mich etwas beschäftigt, wenn ich von einer Frage umgetrieben werde. Ich suchte nach Literatur und war verblüfft, wo ich sie fand: Ich besaß sie längst. Ich fand unzählige Texte, die sich mit Fragen autobiografischen Erzählens beschäftigten, mit Problemen der Erinnerung. Mit der Unmöglichkeit des Erzählens als Traumafolge. Texte über Spaltung. Über Schreiben und Scham. Ich hatte das alles in den vergangenen Jahrzehnten gelesen oder überflogen oder zumindest gesammelt, „einfach so, weil es mich interessierte“, oft ohne dass ich einen Bezug zu mir, zu meinem eigenen Leben gesehen hätte oder auch nur ein verbindendes Thema. Und nun entdeckte ich, dass all die Kopien und Bücher, die sich in meinen Regalen stapelten, einen bislang übersehenen Zusammenhang besaßen: die Bedeutung, die das Erzählen für unser Leben besitzt, und in welche Schwierigkeiten wir geraten können, wenn es uns nicht möglich ist.
Ich fand nicht nur „fremde“ Texte. Ich staunte auch, wie oft ich schon versucht hatte, über mich zu schreiben. Versucht hatte, mir selbst oder anderen etwas zu erklären. Es ging in diesen Texten doch um mich? Oder nicht? Manchmal konnte ich mich weder an den Text erinnern, noch daran, von wem da überhaupt die Rede war: „Ich soll es aufschreiben. Angeblich spielt es keine Rolle, wo ich beginne – ich könne auch mit der Beschreibung des Zimmers anfangen, in dem ich mich gerade aufhalte. Wenn es keine Rolle spielt, kann ich auch so anfangen: Ich soll es aufschreiben. Es. Was mit „es“ gemeint ist, weiß ich und weiß ich nicht. Würde ich nachfragen, wäre es ein weiterer Beleg dafür, dass ich zu viel nachdenke. Oder über die falschen Dinge. Es. Schreiben Sie es auf.“ Erst nach mehrmaliger Lektüre dieser handschriftlichen Notiz erinnerte ich mich, dass hier nicht von mir die Rede ist, sondern von Thomas Hellweg, dem Protagonisten meines ersten Romans Nebenfolgen, den ich nach der Fertigstellung des Romans noch eine Zeitlang nicht los geworden war, weshalb ich ihn kurzerhand in einer psychosomatischen Klinik unterbrachte, wo er von der zuständigen Psychotherapeutin aufgefordert wurde: „Schreiben Sie es auf!“
Schreiben Sie es auf! Hatte ich diese Aufforderung in einem Text untergebracht, ohne zu verstehen, dass sie nicht nur Thomas Hellweg, sondern auch mir galt? Plötzlich hatte ich das Gefühl, mich mein halbes Leben lang auf eine Expedition vorbereitet zu haben, ohne es zu bemerken! Schließlich war ich für mich kaum weniger überraschend als für mein soziales Umfeld und noch dazu reichlich spät Schriftstellerin geworden. Ich bloggte Über das Schreiben von Geschichten und hatte einen Geschichten-Generator erfunden. Wie oft schon hatte ich andere Menschen ermutigt, ihr Leben aufzuschreiben in Workshops, die den Titel trugen Meine Geschichte schreibe ich selbst?
Meine Geschichte schreibe ich selbst ist eine schöne, ermutigende Aussage – aber was bedeutet sie für andere, die Teil „meiner Geschichte“ sind? Was ist mit meinen Geschwistern, was ist, wenn sie es vorziehen, „unerzählt“ zu bleiben? Ich konnte, als ich mich vor bald zehn Jahren auf die Suche nach meiner verloren gegangenen Lebensgeschichte machte, überhaupt nicht einschätzen, welche Haltung meine Geschwister diesem Projekt gegenüber einnehmen würden, das mir mit großer Wucht vor die Füße gefallen war. Würden sie es zähneknirschend hinnehmen, als eine weitere Zumutung, die diese Familie für sie bereithielt? Würde mich eine/r von ihnen bitten (vielleicht sogar entschieden auffordern?), von einer Veröffentlichung abzusehen? Was sollte ich dann machen? Sollte ich ihnen eine Art Veto-Recht einräumen gegenüber einzelnen Details, Passagen oder gar dem ganzen Projekt? Aber lag nicht bereits in der Bitte um eine solch „prüfende Lektüre“ eine Zumutung? Ich hatte fast mein ganzes Leben die wildesten Verrenkungen unternommen, um den Abgrund nicht zu sehen, an dem ich mich befunden hatte – und nun sollte ich meine Geschwister an genau diesen Abgrund zerren? Und selbst wenn sie sich der emotionalen Herausforderung einer Lektüre unterzögen – was wäre, wenn sie in sechs Monaten, in sechs Jahren anders darüber dachten als heute? Was dann?
Diese Fragen begleiteten mich viele Jahre und es ist sicherlich kein Zufall, dass einigen der autobiografischen Texte, die mir viel bedeuten, ein „Geschwisterthema“ eingeschrieben ist. Das gilt ganz besonders für das Buch Bergljots Familie von Vigdis Hjorth. In diesem autobiografischen Roman erzählt die norwegische Autorin nicht nur von den sexuellen Übergriffen ihres Vaters, sondern ebenso nah entlang ihres realen Lebens von den Streitigkeiten zwischen den mittlerweile erwachsen gewordenen Geschwistern, die sich an Erbe und Testament des Vaters entzünden und in denen es zugleich um so viel mehr geht: um Anerkennung und Leugnung des erlittenen Unrechts, um die mangelnde Vorstellungsfähigkeit der beiden jüngeren und nicht unmittelbar betroffenen Schwestern, um den Wunsch nach Solidarität und Kommunikation und deren Scheitern, ja Unmöglichkeit. Von all dem erzählt Bergljots Familie eindringlich – und als bedürfe es noch eines weiteren Beweises für das Ausmaß der Konflikte, erzählt davon auch die ganz reale Geschichte, die sich nach der Veröffentlichung des Buches zwischen der Autorin Vigdis Hjorth und einer ihrer Schwestern zugetragen hat: Diese Schwester (die Juristin Helga Hjorth) erwog zunächst, juristisch gegen die Veröffentlichung vorzugehen, entschied sich dann aber dagegen und verfasste stattdessen einen „Gegenroman“. Nur so, nur mit einer anderen Geschichte, glaubte sie, die Aussagekraft des Textes angreifen zu können. Ein Gegenroman – was für eine Geschichte hinter der Geschichte!
Ich halte Bergljots Familie für das beste mir bekannte Buch über innerfamiliale sexuelle Gewalt: darüber, was es bedeutet, unter den Bedingungen eines familiären Irrsinns aufzuwachsen, der sich mit bürgerlicher Normalität tarnt und wie schwer es ist, sich aus solchen familiären Verstrickungen zu befreien. Was für ein großartiges, wichtiges Buch! Aber spielt die Qualität überhaupt eine Rolle bei der Frage, was eine Autor*in anderen zumuten darf? Sind Verletzungen der Intimsphäre bloße Kollateralschäden, lässliche Übel, die der künstlerischen Entfaltung zumindest dann nicht im Weg stehen sollten, wenn für das Werk literarische Ansprüche oder politische Relevanz erhoben werden können? Darf Vigdis Hjorth, was Lieschen Müller nicht darf?
Wie wenig unsere Geschichte allein uns „gehört“, wie wenig wir bestimmen können, wie sie erzählt wird, davon erzählt Édouard Louis in Im Herzen der Gewalt auf eine sehr spezielle Weise: Über weite Strecken ist es nämlich gar nicht der Ich-Erzähler, der uns von der sexuellen Gewalt erzählt, die ihm widerfahren ist, sondern es ist seine Schwester. Diese erzählt ihrem Mann, was ihm widerfahren ist und es ist diese „belauschte Version“, die er wiederum erzählt …
Dieses indirekte Erzählen vermittelt einerseits, wie schnell sich das von uns Erlebte im (Weiter)Erzählen unserer Kontrolle entzieht – und wie sehr in diese anderen Erzählungen immer auch ein vorgängiges Wissen oder Bewertungen eingehen. Es ist nicht zufällig die Schwester, der wir zuhören, mit der den Ich-Erzähler eine sehr ambivalente Beziehung verbindet.
Ein kompliziertes Geflecht aus Scham und Kränkungen prägt die Beziehung Édouard Louis’, wie auch die Didier Eribons zu ihren Familien. Obwohl unterschiedlichen Generationen angehörend, sind beide homophoben Anfeindungen und Ressentiments ausgesetzt – auch von ihren Geschwistern. Ich schätze die Texte dieser beiden Autoren sehr und habe mich, ein wenig bang, zugleich immer wieder bei der Lektüre gefragt, was ihre Geschwister zu dem Text sagen werden, sagen würden, wenn sie ihn lesen, falls sie ihn läsen. Ich habe mich gefragt, ob das für Eribon, für Louis eine Rolle gespielt hat? Und wenn nicht, warum nicht? Weil so selbstverständlich ist, dass ihre Geschwister die Texte überhaupt nicht lesen würden? Weil es bei all den vorhandenen Differenzen auf die durch die Veröffentlichung entstehenden Probleme dann auch nicht mehr ankam? Es geht mir nicht um eine moralische Bewertung, die mir weder zusteht, noch mich interessiert. Ich würde einfach nur gerne wissen, welche Gedanken sich andere Autor*innen machen, die vor ähnlichen Fragen stehen. Aber vielleicht ähneln sich unsere Situationen nur scheinbar – denn ich habe kein Unrecht durch meine Geschwister erfahren. Im Gegenteil.
In den langen Jahren meiner Arbeit an dem Text klärte sich dann manches „wie von selbst“. Das erste, das mir bewusstwurde: Ich konnte nichts unternehmen, solange der Text und sein Inhalt sich ständig veränderte. Erst, wenn ich eine halbwegs „fertige“ Version zustande gebracht hätte, existierte überhaupt eine vernünftige Basis, um sich darüber – in welcher Form auch immer – mit anderen auszutauschen. Aber mir wurde allmählich auch immer klarer, dass ich diesen für mich so wichtigen Text nicht von der Zustimmung anderer abhängig machen konnte, noch nicht einmal von der Zustimmung meiner Geschwister.
“Good writers are monotonous, like good composers. They keep trying to perfect the one problem they were born to understand“. Natürlich weiß ich nicht, ob ich das bin, was Alberto Moravia, von dem dieses Zitat stammt, sich unter einer „guten Autorin“ vorgestellt hat, aber je länger ich an diesem Text schrieb, desto klarer empfand ich, dass die Überwindung der Sprachlosigkeit das eine Problem ist, das zu verstehen offenbar meine Lebensaufgabe ist.
Hier stehe ich und kann nicht anders. So ist es manchmal im Leben. Aber das bedeutet auch, mit den Konsequenzen zu leben. Zu akzeptieren, dass andere mit dem gleichen Recht anderes wollen oder nicht lassen können. Für mich war es ein wichtiger Schritt zu verstehen, dass es in diesem Konflikt zwischen meinem Recht, meine Geschichte zu erzählen und dem (potentiellen) Recht meiner Geschwister, „unerzählt“ zu bleiben, nicht auf jeden Fall eine „gute Lösung“, einen Kompromiss geben wird, wenn wir uns alle nur genug darum bemühen. Ich habe für möglich gehalten, dass mein Text und seine Veröffentlichung zu Konflikten zwischen uns Geschwistern führt, die ich nicht werde abwenden können – aber zugleich wollte ich alles dafür tun, das mir möglich war, damit es nicht so käme. Schon während des Schreibens habe ich mich daher bemüht, meinen Geschwistern und ihrem (möglichen) Wunsch auf Diskretion so weit entgegenzukommen, wie nur möglich. Sie würden nur da „auftreten“, wo es absolut unvermeidbar war. Ich würde auf Hintergründe, Details, Erläuterungen verzichten, die sie und ihr Leben betrafen. Sie würden Schemen bleiben. Auch das garantierte nicht ihr Einverständnis, ihre Zustimmung, aber es war das, was ich tun konnte.
„Es ist keine Frage nach dem „darf ich das?“ Es ist ein natürliches Gezwungen-Sein“, sagt die Autorin Sandra Hoffmann im Zusammenhang mit ihrem autobiografischen Roman Paula, dessen Entstehung sie eine „Zumutung“ nennt für ihre Familie, und auch für sich selbst. Für mich habe ich das Schreiben meines Textes nur in seltenen Momenten als Zumutung empfunden und mittlerweile weiß ich, dass er das offenbar auch für meine Geschwister nicht ist. Nachdem sie ihn dann tatsächlich gelesen hatten, kam ein anderer Gedanke, kam eine Hoffnung hinzu: Vielleicht wird der Text es nicht nur mir, sondern auch meinen Geschwistern oder ihren Kindern in Zukunft leichter machen, Auskunft zu geben, Fragen zu beantworten. Sich selbst und anderen. Vielleicht wird dieser Text Teil einer verschütteten Familienchronik. Eine Version. Eine Aussage. Eine Zeugenaussage, die es anderen ermöglicht oder leichter macht, von ihren Erfahrungen zu erzählen – so wie es bei Boris Cyrulnik der Fall war. Auch er konnte das, was er erlebt hatte, er konnte die Geschichte seiner sich so unwahrscheinlich anhörenden Rettung erst erzählen, nachdem sie von anderen bezeugt worden war. Erst danach konnte er sich wirklich glauben, was er erlebt hatte.
Auch ich könnte das, was ich jetzt allmählich beginne, „meine Geschichte“ zu nennen, nicht erzählen, wenn es nicht andere gäbe, die sie bezeugten, insbesondere meine Geschwister. Aber ich habe nicht nur von ihrer direkten Zeugenschaft profitiert, sondern ebenso von den Berichten vieler anderer. Erst durch den Verweis, den Bezug auf sie, kann ich dem Vorwurf der Unglaubwürdigkeit, den ich solange mir selbst gegenüber erhoben habe, begegnen. Erst durch die Texte, die Aussagen anderer höre ich auf, zu sein, was ich solange war: Eine unglaubwürdige Erzählerin meiner selbst.
Dieser Text ist ein für diese Veröffentlichung leicht überarbeitetes Kapitel aus dem Manuskript „Meine Geschichte schreibe ich selbst. Von der Überwindung der Sprachlosigkeit.“
Foto von Kelly Sikkemash