Wir und die Anderen – Das Feuilleton im Social Reading

von Vera K. Kostial (@vkostial)

 

In Zeiten von Social Distancing ist Bücherlesen die  risikoärmste Freizeitbeschäftigung. Doch Literatur als Flucht aus der realen Welt, als rein ästhetisches Erlebnis, Literatur um der Literatur Willen also, ist aktuell eher nicht in Mode. Literatur ist wieder politischer geworden, sie politisiert sich wieder, wie wohl spätestens in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre allgemein übereinstimmend festgestellt wurde. Allein ein Blick auf die großen Feuilleton-Debatten des letzten Jahres zeigt: Wirklich bewegt hat die Literaturwelt das, was an der Schnittstelle von Literatur und Politik passiert ist. Takis Würgers Roman Stella wurde direkt bei Erscheinen zum Skandal und löste eine hitzige Debatte darüber aus, was Fiktion in Bezug auf die Shoah eigentlich darf.

Ganz anders stellte sich die Frage nach den Grenzen der Fiktion bei Robert Menasse, der diese weit über historische Tatsachen hinaus zur besseren Untermauerung seiner politischen Message ausdehnte. Uwe Tellkamps neuer Roman riecht schon vor Erscheinen nach Skandal und wirft erneut die Frage auf, inwiefern sich die politischen Ansichten des Verlags von denen des Autors unterscheiden dürfen. Und ob gewisse politische Ansichten mit dem Nobelpreis vereinbar sind, darum ging es im Fall Peter Handkes.

Diese Debatten waren sehr unterschiedlich strukturiert – Skandalereignisse, die mal vom Autor, mal vom Werk, mal von der Institution Literaturpreis ausgingen; unterschiedliche Diskurse, deren Dynamiken man wunderbar aufdröseln kann. Oder man kann erst einmal festhalten: Es geht in all diesen Fällen immer um handfeste Politik. Keine Plagiate, keine Persönlichkeitsrechtsverletzungen, sondern konkrete politische Themen hielten und halten das Feuilleton in Atem. Und das mag dann wirklich noch die allerletzten Zweifel an der gesellschaftlichen Relevanz von Literatur ausräumen. Anhand von Literatur werden Zeitgeschehen und gesellschaftliche Debatten gespiegelt. Die wichtige Frage ist allerdings: Interessiert das außer uns eigentlich irgendjemanden? Uns, die Literaturschaffenden, -vermittelnden, -analysierenden und -kritisierenden, kurz: die sogenannte ‘Literaturbubble’ oder anders, der Literaturbetrieb. Was ist mit dem Teil der literarischen Öffentlichkeit, der außerhalb dieser Filterblase steht, Leser:innen, die keinen literaturbetrieblichen oder -wissenschaftlichen Hintergrund haben, also in keinem professionellen Kontext mit Literatur zu tun haben? Werden die Feuilleton-Debatten in dieser Leser:innenschaft wahrgenommen oder weiterdiskutiert?  

Social Reading-Plattformen wie LovelyBooks, Goodreads etc. versprechen ein virtuelles gemeinsames Leseerlebnis für genau diese Zielgruppe nicht-professioneller Leser:innen. Professionell Lesende sind natürlich nicht ausgeschlossen, kennzeichnend für “Deutschlands größte Buchcommunity” LovelyBooks ist jedoch das niedrigschwellige Angebot für alle User:innen, Rezensionen zu verfassen, Bücher auf unterschiedliche Art zu bewerten und in der Community zu diskutieren. 1,5 Millionen Leser:innen nutzen nach LovelyBooks-Angaben monatlich die Plattform. Und so ist LovelyBooks bestens geeignet für einen Blick aus der Bubble heraus, um festzustellen, ob nicht-professionelle Leser:innen teilnehmen an dem, was das Feuilleton bewegt, oder ob sie ein gänzlich anderes Gespräch über Literatur führen. Ist das Social Reading eine Art Laien-Feuilleton, wo die dortigen Diskussionen weitergeführt werden, oder doch ein Paralleluniversum? Dem möchte ich hier nachgehen anhand der Leser:innen-Bewertungen zweier Bücher, die 2019 in der Literaturkritik für Aufruhr gesorgt haben: Robert Menasses Die Hautpstadt und Takis Würgers Stella

Den oder die prototypische:n User:in, so viel vorab, gibt es auf LovelyBooks nicht, vielmehr lassen sich drei unterschiedliche Schwerpunkte der Literaturrezeption feststellen. Eine Tendenz zum delectare (Lektüretyp 1) oder aber zum prodesse (Lektüretyp 2), abgeleitet von der horatischen Formel, Dichtung müsse unterhalten und/oder nützlich sein, oder aber eine bewusste Auseinandersetzung mit der professionellen Literaturkritik (Lektüretyp 3). 

Lektüretyp 1, Delectare: „Bewegende Geschichte – Muss man unbedingt lesen!“, schreibt User:in KuElKrk zu Stella. Und erklärt weiter: „Man spürt die Angst und man stellt sich immer wieder die Frage, wie können Menschen anderen Menschen so viel Leid antun.“ Mit dieser Art von Bewertung ist KuElKrk nicht allein. Wiederholt ist von Emotionen während der Lektüre die Rede, deren Ausbleiben von der Userin StephanieP bemängelt wird: „Takis Würgers Schreibstil ist nüchtern und beschreibend, wodurch mich leider keine Emotionen erreichen konnten.“ Der Account gst hingegen war von Stella „emotional sehr berührt“; ebenso „sehr berührt“ fühlt sich FreizeitPrinzessin: „Es wird nie leichter etwas über diese schreckliche Zeit zu lesen, hören oder zu sehen. Wir können alle froh sein das nicht selber miterleben zu müssen. Das Buch regt zum nachdenken an: würde ich das selbe tun wie Stella? Wie würde ich handeln?“

Es geht für diese Leser:innen also um eine identifikatorische Lektüre. Das Lesen muss Emotionen hervorrufen und muss die Figuren nicht nur nachvollziehbar, sondern nachfühlbar machen. „Gegen Ende war es schwierig zu entscheiden, wen und was man schließlich mochte“, schreibt BuecherweltenBummlerin. Emotion in Form eines Berührtwerdens durch die Lektüre und Identifikation in Form von Nachfühlbarkeit und Sympathie, das sind die zwei Zutaten für Leselust: Ich und das Buch.

Lektüretyp 2, Prodesse: Lernen durch Lesen – dieser Rezeptionsmodus lässt sich auch bei Stella beobachten, findet sich in Reinform aber bei Robert Menasses Roman Die Hauptstadt. „Robert Menasse erzählt auf spannende Weise wie es in Brüssel, genauer der Europäischen Kommission, zugeht. Dabei lernt man viel über Politik und auch über andere Mitgliedsstaaten“, so beurteilt AlexandraK den Roman. Ähnlich schreibt Alexlaura, es sei „sehr spannend hinter die Kulissen der Behörden zu sehen und dass auch hier nur normale Menschen tätig sind, die wie alle auch ihre persönlichen Schicksale haben“. Die Bewertungen dieser beiden User:innen reihen sich ein in viele weitere, die Menasses Roman vor allem für eines loben: die politische Bildung, die sie als Leser:innen erfahren; mehr noch, die unterhaltsame politische Bildung. Damit wären prodesse und delectare doch wieder vereint, wobei dem delectare aber eine andere, weniger emotional und identifikatorisch aufgeladene Funktion als bei Typ 1 zukommt. 

Dass Menasses Buch auch wirklich Bildungsarbeit leisten kann, dafür wird von mehreren Rezensent:innen seine Recherchearbeit in Brüssel als Beleg angeführt. Der Autor war vor Ort, er hat sich also informiert; und diese Tatsache verleiht ihm in den Augen vieler Leser:innen eine Autorität und Glaubwürdigkeit in der Wissensvermittlung. Zusätzlich erfolgt häufig eine Übertragung des Literarischen in den realen Bereich der Politik. Viele User:innen positionieren sich proeuropäisch zu Menasse. Dass die eigentliche Geschichte in Die Hauptstadt Fiktion ist, wird als unterhaltendes Element der politischen Bildung gutgeheißen. Ganz ähnlich bei Würger: „Geschichtlich wirkt das Buch gut recherchiert und ich denke, dass der Autor die historischen Fakten lange und ausführlich studiert hat. Die Vermischung aus Fiktion und Fakten finde ich wirklich gelungen“, schreibt StephanieP.

In diesem Typus der Literaturrezeption offenbart sich ein Wunsch nach Erklärung und Einordnung politischer Sachverhalte durch einen als Experte wahrgenommenen Autor. Interessant ist mit Blick darauf die Rezension des Accounts Alais, für den „[d]ie einzige Enttäuschung“ an Die Hauptstadt war, dass die Figur Armand Moens erfunden ist; „da dieser aber zu jenen Menschen gehört, die man unbedingt erfinden müsste, wenn es sie nicht gäbe, finde ich es umso besser, dass Menasse das für seine Leser übernommen hat.“ Dass Menasse neben dem fiktiven Ökonomen auch Zitate des sehr realen Walter Hallstein erfunden und bekanntermaßen nicht nur in Die Hauptstadt, sondern auch in als faktual gekennzeichneten Texten eingebaut hat, findet in der LovelyBooks-Community keinerlei Erwähnung.

Lektüretyp 3, Wir und die anderen: Sehr wohl setzt man sich in den Rezensionen zu Menasse aber mit der Verleihung des Deutschen Buchpreises auseinander, und diese Auseinandersetzung ist symptomatisch für einen dritten Typus des Lektüreverhaltens auf LovelyBooks: die selbstbewusste Positionierung zum Literaturbetrieb. Viele User:innen stimmen der Preisvergabe in ihren Rezensionen ganz dezidiert zu, andere sind nicht vollkommen überzeugt: „Mein Leserherz blutet – wollte ich diesen Roman doch eigentlich in den Himmel loben“, schreibt MikkaG (vier Sterne). „Nicht nur hat es den Deutschen Buchpreis gewonnen, nein: der Autor wirkte bei der Verleihung so charmant verblüfft und überrumpelt, dass ich bereit war, sein Werk zu lieben. Stattdessen muss ich mich damit begnügen, dass ich es ‚nur‘ gut finde…“. Und Pongokater, der fünf Sterne vergibt, schreibt: „Originell ist es nicht, dieses Werk von Robert Menasse zum ‚Roman des Jahres‘ zu erklären. Aber unvermeidlich.“

Der Buchpreis zeigt sich hier als wichtige Richtschnur zur eigenen Positionierung – was allerdings auch ex negativo funktionieren kann: „Literaturpreise sind mir in meiner Auswahl der Lektüre nicht besonders wichtig, da ich oftmals nicht finde, dass prämierte Romane besser sind als andere“, schreibt Petris. „Mir ist bewusst, dass die Kriterien der Juroren andere sind als meine. Ich lese schon mit hohem Anspruch und wünsche mir ein gewisses Niveau, aber mich muss eine Geschichte in erster Linie fesseln, berühren oder auch irritieren.“ 

Eine solche bewusste Abgrenzung von der professionell literaturkritischen Wertung findet sich auch in Bezug auf Stella: „Ich schätze es nicht, wenn mir das Feuilleton vorschreiben möchte, wie ich ein Buch zu bewerten habe und gehe gerne unvoreingenommen an eine Lektüre heran, bilde mir meine eigene Meinung“, schreibt leselea in ihrer positiven Bewertung des Romans. Strukturell ähnlich, aber mit entgegengesetztem Ergebnis argumentiert Stephan59. An den vorhergehenden Debatten „will ich mich nicht beteiligen, sondern nur darüber etwas schreiben, wie der Roman auf mich gewirkt, was ich dabei gedacht und empfunden habe.“ Und auch kruemelmonster798 bezieht die Lektüre, die „mit etwas Abstand“ zu dem „Medienrummel“ erfolgt sei, ausschließlich auf sich selbst: Das Buch habe ihn:sie „sehr berührt“, und die Entscheidung über die Angemessenheit der Geschichte müsse jede:r Leser:in für sich selbst treffen.

Ein konkretes Leser:innen-Selbstverständnis kommt in diesen Bewertungen zum Ausdruck. In Relation und Abgrenzung zu den Feuilleton-Diskussionen wird eine eigene Meinung gebildet, wodurch eine bewusste Identität als Laienleser:in etabliert wird. Dies kann man einerseits als gemeinschaftsstiftend interpretieren – die Gemeinschaft der Laienleser:innen bei LovelyBooks. Gleichzeitig sind die Bewertungen aber, besonders im Falle von Stella, sehr auf das eigene subjektive Leseerlebnis bezogen. Dennoch wird bei beiden Büchern ein politischer Mehrwert für die Gesellschaft betont, indem die jeweilige Thematik als wichtig eingestuft wird. 

Und dann gibt es noch Leser:innen, die nach bestimmten Strukturen hinter den Rezeptionsprozessen suchen, die sie beobachten. Da wird im Falle von Stella eine „Hetzkampagne“ vermutet oder aber ein von Würger selbst initiierter „Marketing-Trick“. Ähnlich wird bei Menasse vermutet, er habe Die Hauptstadt speziell an die Vorlieben der Buchpreis-Jury angepasst. Diskussionen solcher Art können durchaus auch im Feuilleton stattfinden; gewagter ist da schon die Hypothese von Userin ronja_waldgaenger, die EU-Kommission habe Die Hauptstadt zur „Imageverbesserung“ schreiben lassen. „Das Feuilleton wäre begeistert, der Autor würde mit Preisen überhäuft und am Ende würde die gute Geschichte des europäischen Friedensprojektes wieder in den Herzen und Köpfen der Menschen ankommen.“ Diese Hypothese sei, so lenkt die Rezensentin gleich ein, „– so steht zu hoffen – vermutlich am weitesten von der Realität entfernt“, zeige aber die unklare Gattungszuordnung von Menasses Text – „Roman“ oder „Aufklärungs- und Erziehungsschrift“.

Durchaus ernsthaft wird eine solche Unterwanderung von Literaturpreisen an anderer Stelle diskutiert: in der Kommentarspalte zu einer Rezension der Hauptstadt im Tagesspiegel, die bezeichnenderweise in der Sparte Politik erschien. Roland Freudenstein, seines Zeichens EVP-Politiker und in Sachen Literaturkritik somit auch Laie, ignoriert die Gattungsbezeichnung Roman und wettert gegen Anti-Nationalismus und Menasses „fest geschlossenes, links-westeuropäisches Weltbild“. „Klingt nach politisch gewolltem Bestseller!“, kommentiert Holmichhierraus. Buchpreise seien ganz eindeutig moralisch aufgeladen und würden „links-einseitige Bücher“ propagieren. Aber: „Die Leser merken das doch!“ Und die Amazon-Rezensionen zeigten eindeutig: Die Hauptstadt sei gar nicht so gut. Eilfertige Zustimmung findet dieser Kommentar durch ralf.schrader: „Der Deutsche Buchpreis ist seit der Jahrtausendwende mit solchen Machwerken wie Der Turm genau so der Literatur entfremdet und der politischen Agitation des Westens untergeordnet, wie der Literatur- Nobelpreis.“

Dass Der Turm nun mit linker Unterwanderung des Literaturbetriebs in Verbindung gebracht wird, vermag die Paradoxie dieser verschwörungstheoretisch anmutenden Behauptungen noch um eine Umdrehung zu steigern. Sie zeigen einen Extremfall von Literaturrezeption: Die Denkweise des ‚Wir gegen die da oben‘, die mittlerweile so strukturgebend für den politischen Diskurs des rechten Rands ist, wird hier in das Feld der Literatur überführt. Die Literaturpreise werden als feindliches Anderes etabliert, dessen Intentionen seitens der Gemeinschaft der Lesenden durchschaut würden, die dann in einem anderen Medium – Amazon-Rezensionen – die ‚falsche‘ politische Haltung des Romans sanktionieren würden. 

Solche Extremfälle finden sich – zumindest bei den gesichteten Beispielen – auf LovelyBooks nicht, was wiederum ein interessantes Spezifikum der Social Reading-Plattform verdeutlicht. Tatsächlich sind die User:innen dort offenbar mehr buch- und weniger debattenfixiert. Im Falle von Stella wird zwar auf die Feuilleton-Diskussionen eingegangen, die gingen allerdings direkt mit Erscheinen und somit Lektüre des Buchs einher. Debatten, die weit nach Erscheinen des betroffenen Buchs oder Gesamtwerks ihren Anfang nahmen, werden auf LovelyBooks nicht abgebildet: Der Hallstein-Skandal und die Diskussion um Tellkamp finden dort keinen Niederschlag, auf die Nobelpreisvergabe an Peter Handke geht lediglich eine Rezension ein. Direkte Reaktionen auf Feuilleton-Artikel gibt es zu diesen Debatten allerdings durchaus; zum Falle Tellkamps verzeichnet ein einziger Zeit-Artikel von Ende Januar 91 Kommentare. Sie nehmen als Laienkritik im Rahmen und als Reaktion auf ein Medium der professionellen Kritik eine Art Zwischenposition ein.

Spezifisch für die Social Reading-Plattformen sind auch die ganz unterschiedlichen Arten der Literaturbewertung, die hier vereint werden. Neben den Rezensionen erfüllt die moderierte „Leserunde“ zu Stella sicherlich noch einmal andere Bedürfnisse. Die Antwort jedenfalls auf die Frage, wie viel Feuilleton im Social Reading steckt, liegt erwartungsgemäß im Dazwischen: Weder die einigermaßen elitäre Annahme, die Feuilleton-Debatten würden nur die Literatur-Filterblase selbst ansprechen, noch die ebenso elitäre Annahme, dass sich natürlich alle Leser:innen dafür interessierten, trifft zu; stattdessen zeigt sich bei LovelyBooks ein ganz eigenes Lektüreverhalten mit unterschiedlichen, sich überschneidenden Tendenzen: selbstbewusste Positionierung zum Feuilleton, der Wunsch nach unterhaltsamer politischer Sachinformation, das Bedürfnis nach ‚einfach nur Literatur‘  – und wohl einfach die Freiheit zu lesen, wie man möchte.

 

Photo by Alexis Brown on Unsplash

 

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