Wortgewaltige Sehnsucht – Mary MacLanes „Ich erwarte die Ankunft des Teufels“

von Magda Birkmann (@magdarine)

 

Das Manuskript einer gänzlich unbekannten Autorin findet innerhalb von nur einer Woche einen Verlag, wird lektoriert und gedruckt und dann im ersten Monat nach Erscheinen rund 80.000 mal verkauft. Das hört sich an wie der unerfüllte Wunschtraum zahlreicher Hildesheimer Schreibschüler*innen. Im Amerika des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts jedoch wurde dieser Traum Wirklichkeit und machte eine junge Frau aus der Bergbaustadt Butte im Bundesstaat Montana quasi über Nacht zum Star. Nun ist ihr Buch nach über hundert Jahren von der Schriftstellerin Ann Cotten erstmals ins Deutsche übersetzt worden.

Ich, neunzehn Jahre alt und im weiblichen Geschlecht geboren, werde jetzt, so vollständig und ehrlich wie ich kann, eine Darstellung von mir selbst verfassen, Mary MacLane, die in der Welt nicht ihresgleichen kennt.
Davon bin ich überzeugt, denn ich bin ungewöhnlich.
Ich bin ausgesprochen originell, von Geburt an und in meiner Entwicklung.
Ich habe eine ganz ungewöhnliche Lebensintensität in mir.
Ich kann fühlen.
Ich habe eine wunderbare Fähigkeit zu Elend und zu Glück.
Ich bin gedanklich offen.
Ich bin ein Genie.

Mit diesen mehr als selbstbewussten Worten beginnt die neunzehnjährige Highschool-Absolventin Mary MacLane im Januar 1901 die Arbeit an ihrem ersten literarischen Projekt, zu dem sie durch die Lektüre des Tagebuchs der jungen russischen Malerin Marie Bashkirtseff inspiriert wurde. Doch im Gegensatz zu der jungen Künstlerin soll MacLanes Tagebuch ihr nicht erst den Ruhm nach ihrem Tod sichern – die junge Frau will jetzt berühmt werden.

Mary MacLane, 1881 in Winnipeg in Kanada als Tochter eines Regierungsbeamten geboren, wächst zunächst in Wohlstand in einem großen Haus mit Bediensteten auf. Als Vierjährige zieht sie mit ihrer Familie nach Minnesota, wo der Vater einige Jahre später stirbt. Die Mutter heiratet bald erneut und die Familie folgt dem Stiefvater in die Bergbau-Boomtown Butte in Montana. MacLane wird zur unersättlichen Leserin. Zwei Jahre lang bringt sie die Schülerzeitung der Butte High School heraus, bei ihrem Abschluss 1899 hat sie unter anderem gute Kenntnisse in Latein, Griechisch und Französisch erworben, aber keine echten Freundschaften geschlossen. In Butte fühlt sie sich unverstanden und eingeengt, sie träumt vom Besuch der Stanford University, vom Aufbruch in die weite Welt außerhalb Montanas. Doch kurz vor der geplanten Abreise nach Stanford eröffnet der Stiefvater, dass er all das Geld, das für den Universitätsbesuch vorgesehen war, verspielt hat. Mary MacLane hat weder das geringste Interesse an einer Ehe, noch verfügt sie über eine berufliche Ausbildung oder die nötigen finanziellen Mittel, um das Elternhaus zu verlassen. Daher sieht sie nur einen Ausweg: Ihr Buch soll ihr den Ausbruch aus den unerträglich gewordenen Verhältnissen ermöglichen.

Selbsterklärtes Genie

Die nächsten drei Monate verbringt sie mit der Niederschrift eines Textes, der bald darauf Leser*innen wie Kritiker*innen im ganzen Land in großen

Bildergebnis für mary maclane ich erwarte die ankunft des teufels

Aufruhr versetzen wird. Das fertige Manuskript schickt sie sofort an einen Verleger in Chicago. Der ist allerdings auf evangelikale Literatur spezialisiert und kann den Text mit dem provokanten Titel I Await the Devil‘s Coming unmöglich veröffentlichen. Das gewaltige Potential von MacLanes Erstlingswerk erkennt er trotzdem. Er sieht darin „the most astounding and revealing piece of realism I had ever read“, und reicht das Manuskript an die Kolleg*innen von Herbert S. Stone & Co weiter. Dort wird schnell klar: Man hat es mit einer literarischen Sensation zu tun. Im April 1902 erscheint das Buch unter dem weniger anstößigen Titel The Story of Mary MacLane und übersteigt noch alle Hoffnungen von Verlag und Autorin.

Zu einer Zeit, in der jungen Mädchen von der Gesellschaft keine Ambitionen, keine Sinnlichkeit und schon gar keine selbstbestimmte Sexualität zugestanden werden, erklärt sich Mary MacLane selbst zum Genie und macht die Erkundung ihrer eigenen Persönlichkeit auf eine bis dahin unbekannte Weise zum Kunstwerk. Sie verspricht ihren Leser*innen schonungslose Offenheit und doch ist beinahe alles an ihrem Buch gezielte, kalkulierte Provokation:

Oh, denken Sie keinen Augenblick, dass diese Untersuchung meiner Gefühle nicht vollkommen aufrichtig und echt ist, noch, dass ich sie nicht alle, mehr als ich in Worte fassen kann, gefühlt habe. Es sind meine Tränen – das Blut meines Lebens! Aber in meinem Leben, in meiner Persönlichkeit, gibt es eine Essenz von Falschheit und Unehrlichkeit.

MacLane, die sich selbst mit Byron und Napoleon vergleicht, nimmt in diesem Buch keinerlei Rücksicht auf die Befindlichkeiten ihrer Leser*innen. Sie berichtet von ihrer Faszination für den eigenen jugendlichen, wohlgeformten Körper, erhebt den Verzehr einer einzelnen Olive zur Kunstform, schildert freimütig ihre Liebe zu und ihr sexuelles Verlangen nach ihrer ehemaligen Lehrerin Fannie Corbin, das über eine einfachen Schulmädchenschwärmerei weit hinausgehen. Selbst ihren eigenen Vorbildern gegenüber hält sie sich für überlegen. Über Marie Bashkirtseff, deren posthum veröffentlichtes Tagebuch erst wenige Jahre zuvor die Öffentlichkeit in Aufruhr versetzt hat und deren Fotografien die Wände von MacLanes Zimmer zieren, urteilt sie:

Denn obwohl sie bewundernswürdig und großartig war, durch und durch, war sie kein solches Genie wie ich. Sie hatte ihr eigenes Genie, es ist wahr. Aber die Bashkirtseff mit ihrem sinnlichen Körper und ihrer anziehenden Persönlichkeit ist doch ein wenig gewöhnlich. Mein Genie, wenngleich schwach, ist selten und tief, und es hat noch niemand ein ähnliches Genie gehabt, und es wird auch nie jemand ein ähnliches haben.

Verzweiflung und Satan

MacLane ist um keinen Tabubruch verlegen, verschweigt ihre Abneigung gegenüber dem Konzept der heterosexuellen Ehe genauso wenig wie ihr angebliches Hobby des gelegentlichen Diebstahls. Und immer wieder bringt Mary MacLane den Teufel ins Spiel:

Ich bin bereit und warte darauf, alles, was ich habe, dem Teufel zu übergeben im Austausch gegen Glück. Ich bin so lang mit dem öden, öden Elend des Nichts gequält worden – meine gesamten neunzehn Jahre lang. Ich will glücklich sein – oh, ich möchte glücklich sein.

Wortgewaltig beschreibt sie ihre Sehnsucht nach dem Satan als einem Befreier, der sie nicht nur aus der intellektuellen Beschränktheit von Butte und aus der für sie vorgesehenen gesellschaftlichen Rolle, der sie sich auf keinen Fall beugen will, retten, sondern der auch ihre geheimsten sexuellen Wünsche erfüllen soll.

Regelmäßig verliebe ich mich vollends und wahnsinnig in den Teufel. Er ist so faszinierend, so stark – so stark, genau die Art von Mann, die mein hölzernes Herz erwartet. Ich möchte mich ihm an den Kopf werfen. Ich wurde eine süße kleine Frau für ihn abgeben. Er würde mich lieben – er würde mich lieben. Ich wäre in Ekstase. Und ich würde ihn lieben, ach, wahnsinnig, wahnsinnig! […]

Der Teufel und ich werden einander heftig und vollkommen lieben – tagelang! Er wird im Fleisch sein, aber er wird kein Mann sein. Er wird der Mann-Teufel sein, und seine Seele wird meine zu sich nehmen, und sie werden tagelang eins sein.

Immer wieder bricht neben diesen überspitzten satanischen Fantasien aber auch die ehrliche Verzweiflung hervor, in die Mary MacLane durch ihre tiefe Einsamkeit gestürzt wird:

Mein Herz ist voller Lust.
Meine Seele ist voller Leidenschaft.
Mein Leben ist ein Leben der Sehnsucht.
Alle Bilder verblassen vor diesem Bild. Sie verblassen ganz und gar. Als die Sonne selbst verblasste, blickte ich über den Sand und die Ödnis mit verschwimmenden Augen und sah nichts, und wünschte mir nur, mit schwerer, trostloser Seele, dass der Teufel kommen möge.

Neben all ihrem Kokettieren mit einem literarischen Satanismus sehnt sich Mary MacLane aufrichtig danach, verstanden zu werden und jemanden zu finden, der ähnlich wie sie empfindet, sie vielleicht sogar wirklich lieben könnte. Und solange der Teufel mit seiner Ankunft noch auf sich warten lässt, schickt sie eben ihr Buch in die Welt hinaus in der Hoffnung, damit gleichgesinnte Seelen zu erreichen:

Meine Darstellung wird in ihrer Analyse und ihrer Egomanie und ihrer Bitterkeit sicherlich für manche von Interesse sein. Für den einen allein, der es verstehen mag, oder für manche, die selbst auch alleingelassen wurden; oder für jene drei, die ich, an drei trüben Tagen, um Brot bat, und die mir jeder einen Stein gaben – und denen ich nicht vergebe (denn das ist das Bitterste überhaupt): Vielleicht richtet sie sich an all diese. […] Es wird Sie amüsieren. Es wird Ihr Interesse wecken. Es wird Ihre Neugier erregen. Manche Menschen werden es lächerlich finden. Es wird Ihnen Rätsel aufgeben.

Vor allem aber wird es gelesen. Im ersten Monat nach Erscheinen wird das Buch 80.000 mal verkauft und Leser*innen wie Presse überschlagen sich fast in ihrer Begeisterung und in ihrem Bedürfnis, mehr über die junge Frau aus Montana zu erfahren. Der Mary MacLane-Hype kennt keine Grenzen: das Baseballteam ihrer Heimatstadt Butte benennt sich kurzerhand um in „The Mary MacLanes“ und Bars fangen an, den „Mary MacLane High-Ball“ zu verkaufen – ein neu erfundener Drink, der als „abkühlend, erfrischend/belebend, teuflisch“ beworben wird. Ein Faksimile von MacLanes Unterschrift wird gar von einem Zigarrenhersteller zum Druck auf Zigarrenpackungen lizensiert. Und auch andere Schriftsteller*innen springen schnell auf den MacLane-Zug auf – mit Damn! The Story of Willie Complain (1902) und The Devil’s Letters to Mary MacLane (1903) erscheinen mindestens zwei Parodien in Buchlänge.

Nachgeahmt und verrissen

Auch die Presse zeigt sofort großes Interesse an dem Phänomen. Am 27. April 1902 erschienen landesweit zahlreiche Rezensionen des Buches in verschiedenen Zeitungen. Die Meinungen in den Rezensionen gehen dabei weit auseinander. Für The San Francisco Call handelt es sich bei dem Buch um „the worst trash that printer and publisher ever spent time and money on“. Die Autorin wird als „a silly maid“ abgetan, die lediglich einige „freak expressions of opinion“ niedergeschrieben habe. Andere wiederum preisen MacLane für die „splendid sounds and harmonies in her thrilling, vibratory prose“ oder sind wie das Fergus Falls Daily Journal der Meinung, nur zwei Schriftsteller*innen der westlichen Hemisphäre hätten jemals makelloses Englisch produziert – Nathaniel Hawthorne and Mary MacLane.

Besonders gut kommt Mary MacLane, wenig erstaunlich, bei anderen jungen Mädchen und Frauen an. Überall werden zahlreiche Mary MacLane-Societies gegründet, die nicht nur gemeinsam MacLanes Texte lesen und in eigenen Texten nachzuahmen versuchen, sondern außerdem Verhaltensweisen an den Tag legen, „wie sie sich für ihr Vorbild ziemen“. Die 16jährige Elsie Viola Larsen, Mitglied des örtlichen Mary MacLane-Clubs, wird beispielsweise am 4. Dezember 1902 in Chicago wegen Pferdediebstahls verhaftet. Bei ihrer Befragung gibt sie an, dieses Vergehen begangen zu haben, um die nötigen Erfahrungen für ein Buch zu sammeln.

Dass Mary MacLane mit ihrem Buch einen Nerv getroffen hat, zeigt sich aber nicht nur in der Verehrung und Nachahmung, sondern vor allem in den erbarmungslosen, vor misogynen Gewaltfantasien strotzenden Reaktionen von großen Teilen der Presse. Ein katholischer Rezensent, der MacLanes Buch für „ungesund, unanständig, teuflisch“ hält, schlägt folgendes vor, um ihr die Flausen aus dem Kopf zu treiben: „An irate parent with a good, strong slipper could work wonders with the young thing’s longing by plying it frequently and lustily on her bustle rest.“ Auch ein Rezensent der New York Times ergötzt sich an der Vorstellung von körperlicher Züchtigung. Da keine Frau, die bei klarem Verstand sei, solche schrecklichen Dinge schreiben könne, erklären zahlreiche Kritiker Mary MacLane kurzerhand für verrückt. So beispielsweise der New York Herald: „She should be put under medical treatment and pens and paper kept out of her way until she is restored to reason.“ Besonders gern wird Mary MacLane von ihren Kritikern außerdem Hysterie attestiert – vermutlich aufgrund ihres sehr offenen und enthusiastischen Umgangs mit dem Thema Sexualität. Laut landläufiger Meinung konnte Hysterie bei jungen Frauen schnell zu Nymphomanie führen, falls deren sexuelles Verlangen nicht schleunigst das einzige angemessene Ventil fand – im Ehebett. Eine Option, die MacLane in ihrem Buch kategorisch ablehnt.

Der „MacLaneism“ wird als so große Bedrohung für Leib und Seele argloser heranwachsender Frauen betrachtet, dass ihr Buch nicht nur in der Bibliothek von Butte verboten wird, sondern auch Geistliche immer wieder über den schlechten Einfluss, den Mary MacLane angeblich auf die Jugend ausübt, predigen. Ein besonders perfides Beispiel für die Denunziation der jungen Autorin ist der Artikel The Harvest Begun: The Story of Mary McLane Drives Young Girl to Suicide in Kalamazoo, Michigan in der Tribune-Review.

Durch die Lektüre von MacLanes Buch, die zudem auch noch unbekleidet erfolgt sein soll, sei ein junges Mädchen so verrückt geworden, dass sie erst ihren physischen Hunger „mit einem Festmahl aus Konfekt und Kuchen gestillt“ habe, bevor sie ihren „eitlen Vorstellungen und Sehnsüchten“, von der „neurotischen Autorin aus Montana“ inspiriert, durch die Einnahme von Arsen ein Ende setzte. „When she was discovered writhing in the awful agony of arsenical poisoning, the book was still clasped in her hand.“ Während Mary MacLane in ihrem Text kulinarischen Genuss, Sinnlichkeit und Körperlichkeit in eine positive, emanzipatorische Beziehung zueinander setzt, werden diese Themen, zumindest im Zusammenhang mit jungen Frauen, im öffentlichen Diskurs als hochgradig moral- bzw. sogar lebensgefährdend behandelt.

Rebellin in New York – Einsiedlerin in Massachusetts

Aber auch das tut Mary MacLanes Erfolg zunächst keinen Abbruch. Das Buch hat ihr in den ersten Wochen bereits 17.000$ an Tantiemen eingespielt, ihr Plan ist also aufgegangen – am 5. Juli 1902 steigt sie in einen Zug Richtung Ostküste und lässt ihre Heimatstadt Butte für die nächsten neun Jahre hinter sich. Ihre Reise wird zum großen Medienspektakel, Journalist*innen verfolgen sie auf Schritt und Tritt, um heißbegehrte Interviews mit ihr zu ergattern. Nach Zwischenstopps in Chicago (wo sie die Dichterin Harriet Monroe kennenlernt, die eine der großen unerwiderten Lieben ihres Lebens werden wird) und Boston verschlägt es MacLane endlich nach New York, denn die Zeitung New York World hat ihr ein Angebot gemacht. Für einige Wochen lebt sie nun also in Manhattan und verpackt ihre Beobachtungen über die Wall Street, Coney Island, die feine Gesellschaft von Newport und andere Orte in exzentrische Artikel, die von der Zeitung mit großem Aufwand vermarktet werden.

Mary MacLane in 1918.jpg

Doch irgendwann wird auch Mary MacLane, die ihre öffentliche Rolle der verruchten Rebellin zunächst voller Enthusiasmus weitergespielt hat, die anhaltende Aufregung um ihre Person zu viel. Sobald ihre Arbeit für die New York World beendet ist, verlässt sie die Metropole und taucht in Massachusetts unter, wo sie sich der Arbeit an ihrem nächsten Buch widmet. Als dieses schließlich im Sommer 1903 unter dem Titel My Friend Annabel Lee erscheint, stehen Leser*innen und Kritiker*innen vor einem Rätsel. Das Buch hat wenig mit seinem Vorgänger gemein. Statt den bekannten Anrufungen des Teufels und grenzüberschreitenden Schilderungen ihres sexuellen und sonstigen Begehrens besteht das Buch größtenteils aus Dialogen zwischen der Erzählerin und einer kleinen japanischen Porzellanfigur, die auf einem Regalbrett thront und den Namen Annabel Lee trägt. Auch wenn sich das Buch aufgrund von MacLanes Bekanntheit recht passabel verkauft, wird es wegen seiner literarisch schwierigen Einordnung von der Presse im Großen und Ganzen als Enttäuschung betrachtet.

Daraufhin wird es für einige Jahre wieder ruhiger um die Autorin, bis Mary MacLane, die in den letzten Jahren eine Schwäche fürs Glücksspiel entwickelt hat, schließlich 1908 unter düsteren finanziellen Vorzeichen nach New York zurückkehrt. Ein von ihrem Verleger vermittelter Zeitungsjob verläuft schnell im Sande und MacLane ist erneut darauf angewiesen, ihren Verleger um finanzielle Unterstützung zu bitten. Derweil stürzt sie sich in ein neues Buchprojekt – sie hat vor, all die vielen unterschiedlichen Frauen zu portraitieren, denen sie in Manhattan tagtäglich begegnet:

During my last two years in New York, life seethed with women. They were one’s companions in the apartment houses where one lived, at matinees, in tea rooms, at the Cafe Martin, in the shops, on Fifth Avenue at the ends of the afternoons, on Broadway always, at the apartments of friends … If you’re an unattached young woman living alone in New York, and markedly a free-lance, you’ll meet up with a million other unattached women. They colour up your life and mean adventure – in the daylight and the dark.

Nicht nur, aber wohl auch zu Recherchezwecken stürzt sie sich tief ins (lesbische) Nachtleben von New York, bis ihre finanzielle Lage irgendwann ausweglos erscheint. Ihr Stiefvater reist schließlich nach New York und nimmt Mary MacLane mit zurück nach Butte.

Letzte Jahre in der Provinz

Kaum wieder in ihrem Elternhaus angekommen, erkrankt Mary MacLane schwer an Scharlach und Diphtherie, die Prognosen stehen zunächst eher schlecht. Die Zeitungen von Butte berichten ausführlich über den heiklen Gesundheitszustand der Heimgekehrten und das Telefon im Hause MacLane steht kaum mehr still vor lauter Genesungswünschen aus der Bevölkerung.

Sobald MacLane nach sechs Wochen wieder einigermaßen auf den Beinen ist, verarbeitet sie ihre Krankheitserfahrung in einem Artikel für die Zeitung. Dieser Text bildet den Auftakt zu einer Reihe von Zeitungsessays, die zum Besten gehören, was MacLane in ihrer schriftstellerischen Laufbahn verfasst hat – darunter ihr berühmter Artikel Men Who Have Made Love To Me sowie zwei spektakuläre Texte über die Frauen in ihrem Leben, die vermutlich aus dem inzwischen verworfenen New Yorker Buchprojekt hervorgingen. Danach wird es wieder stiller um die Autorin, die 1912 mit der Niederschrift ihres dritten und letzten Buchs beginnt. I, Mary MacLane, das persönlichste und vermutlich ehrlichste ihrer drei Bücher, erscheint 1917 und bekommt zwar einige Presseaufmerksamkeit, kann aber an ihre frühen Erfolge bei weitem nicht anknüpfen.

Bildergebnis für mary maclane

Einen letzten Rest öffentlichen Interesses erzeugt MacLane als 1918 eine Verfilmung ihres Artikels Men Who Have Made Love to Me in die Kinos kommt, zu der sie nicht nur das Drehbuch verfasst hat, sondern in der sie auch selbst die Hauptrolle spielt. Der Film, von dem heute leider keine einzige bekannte Kopie mehr existiert, erregt zwar genug Aufmerksamkeit, um in mindestens einem Bundesstaat verboten zu werden, seine filmhistorisch betrachtet revolutionäre Bedeutung – als eine der ersten Filmprotagonist*innen durchbricht MacLane darin beispielsweise die vierte Wand und spricht die Zuschauer*innen direkt an – bleibt aber von Presse und Publikum verkannt.

Mary MacLane hat das Ende ihrer Karriere erreicht. Nach einem letzten Skandal 1919, als sie für den Diebstahl einiger Kostüme vom Filmset verhaftet wird, verschwindet sie endgültig aus dem öffentlichen Leben. Gesundheitlich inzwischen immer mehr angeschlagen, zieht sie in ein Hotel in einem Mixed-Race-Viertel von Chicago, wo sie viel Zeit mit einer langjährigen Freundin, der afroamerikanischen Fotografin Lucille Williams, verbringt. Im August 1929 wird sie in ihrem Hotelzimmer tot aufgefunden. Einige Presseberichte behaupten, es handle sich um einen Suizid, den die einst berühmte und nun vergessene Autorin umringt von alten Zeitungsausschnitten und in ihr bestes Outfit gekleidet begangen habe. Andere verkünden dagegen, dass Mary MacLane einer Tuberkuloseerkrankung erlag.

Die Spekulationen über die Umstände ihres Todes werden für lange Zeit das letzte Mal sein, dass sich eine breitere Öffentlichkeit mit Mary MacLane und ihrem Werk befasst. Obwohl sie mittlerweile als Vorreiterin des Confessional Writings und der autofiktionalen Literatur, wie sie sich vor allem in den letzten Jahrzehnten immer größerer Beliebtheit erfreut, erkannt wurde, hat ihre „Wiederentdeckung“ bis zum einundzwanzigsten Jahrhundert gedauert.

„Then which is better, to be remembered, and remembered shortly, by the multitudes; or to be forgot by the multitudes and remembered long by the one or two?“ lässt Mary MacLane ihre Erzählerin in My Friend Annabel Lee fragen. „It is incomparably better to be remembered long by the one or two“, gibt sie sich selbst zur Antwort.

Es bleibt zu hoffen, dass nun, da über 90 Jahre nach Mary MacLanes Tod ihr außergewöhnliches Debüt Ich erwarte die Ankunft des Teufels in der Übersetzung von Ann Cotten nun endlich auch einem deutschsprachigen Lesepublikum zugänglich gemacht wurde, die Erinnerung an das selbsternannte Genie aus Butte, Montana, nicht nur in den Köpfen von ein oder zwei, sondern von einer Vielzahl von Leser*innen weiterleben wird.

Photo by Sam Moqadam on Unsplash
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