von Sophie Weigand von Literaturen
Es gibt sehr viele Bücher über Depressionen. Meistens handeln sie davon, wie man „es geschafft hat“. Die Depression zu überwinden, das Leben wieder zu „lieben“, der Dunkelheit irgendeine Lehre abzutrotzen, dank der man alles jetzt viel mehr zu schätzen weiß. Die Depression (oder eine andere überwundene Erkrankung) wird als Baustein in einem fortlaufenden Prozess der Selbstoptimierung umgedeutet. Dementsprechend ist es wichtig, dass die Erzählung über Depression eine Heilungs- und Erfolgsgeschichte ist. Eine Anleitung für andere. Prinzipiell spricht auch nichts gegen Erfolgserzählungen. Sie können Motivation sein und Hoffnung, dass nicht immer alles so weitergeht. Die meisten psychischen Erkrankungen sind aber kein Sprint, sondern mindestens ein Marathon und ganz oft etwas, das man nicht restlos besiegt, sondern mit dem man sich zu arrangieren lernt. Man müsste mehr vom arrangieren lesen, weniger vom „siegen“. Es wird nicht immer alles gut, auch am Ende nicht.
Ich bin Maack dankbar, dass er keines dieser Erbauungsbücher geschrieben hat. Vielmehr erzählt er in „Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein“ von mehreren schweren depressiven Episoden, die ihn sowohl in die Psychiatrie als auch in einer akuten Krise auf eine geschlossene Station gebracht haben. Depression bedeutet in seinem Fall vor allem ein Verlust von Empfindungsfähigkeit. Die Verbindung zwischen Welt und Mensch ist gestört, da findet keine Kommunikation mehr statt, nur noch Rauschen. Von allem ist nur noch Oberfläche übrig. Als hielte man einen Baukasten mit Materialien in der Hand, ohne zu wissen, was man damit soll. Maack quälen immer wieder Selbstvorwürfe, weil er andere belastet, weil er nicht imstande ist, Gefühle aufzubringen für die, die ihm doch nahestehen, weil er glaubt, unfähig und unnütz zu sein. Nur eine Frage der Zeit, bis das alles auffliegt und alle bemerkt haben, was für ein schlimmer Mensch er ist. Viele Menschen, die von Depressionen betroffen sind, fragen sich nach den Ursachen und fühlen sich nicht selten noch schlechter, wenn keine auszumachen sind. Sie glauben, es müsste ihnen gut geht, weil sie doch alles hätten. Ein Satz, den Betroffene vor allem von außen oft hören, als gäbe es so etwas wie einen Depressionsberechtigungsschein. Auch Maack macht sich Vorwürfe. Vielleicht ist er „falsch krank“ – oder gar nicht.
Es gibt diverse Klischees darüber, wie Menschen in psychischen Krisen auszusehen haben. Am besten verheult und handlungsunfähig. Wer noch lachen kann, kann ja nicht so schlimm getroffen sein. Eine Fehleinschätzung, die nicht nur medizinischem Fachpersonal unterläuft, sondern auch Betroffenen selbst. Dabei gibt es hochfunktionale Patient*innen mit Depressionen, deren Leidensdruck nicht etwa geringer ist, bloß weil man weniger davon sieht. Es ist wichtig, mit Klischees wie diesen zu brechen, immer wieder. Auch die Frage, was und wie Medikation die Situation konkret verändert, spielt eine Rolle. Wie viele Betroffene erhält Maack diverse Medikamente und probiert sich unter psychiatrischer Leitung durch den unerschöpflichen Fundus der Psychopharmaka. Dabei muss er immer wieder abwägen: Bin ich bereit und in der Lage, für das Ergebnis die Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen?
Die Schilderungen in „Wenn das noch geht (…)“ sind disparat und fragmentarisch, sehr verschieden in Ton und Intensität. Explizit, auch wenn es um Suizidgedanken geht, die ein behandelnder Arzt als „Zäsurwunsch“ bezeichnet. Es gibt keinen roten Faden, der zur Erlösung führt, auch wenn der Erkrankung am Ende dann doch ein paar positive Aspekte abgewonnen werden („Es geht mir gut. Besser als je zuvor in meinem Leben.“) Wie viele Betroffene, die über psychische Erkrankungen offen schreiben, stellt auch Maack die Frage, ob er künftig nur noch „der mit den Depressionen“ ist. Ähnliches hatten schon Franziska Seyboldt („Rattatatam mein Herz“) und Peter Wittkamp („Für mich soll es Neurosen regnen“) mit ihren Büchern über Angst bzw. Zwangsstörungen thematisiert. Wie sehr identifiziert mein Umfeld mich mit dem, was ich von mir preisgegeben habe? Glücklicherweise war es weder für Seyboldt noch für Wittkamp oder Maack ein Hinderungsgrund, ungeschönt von ihren Erfahrungen zu erzählen. Bücher wie diese sind weit mehr als Aufarbeitungstexte für die Betroffenen, insbesondere wenn sie so ein hervorragendes Gespür haben für Ironie am Abgrund wie Benjamin Maack. Spürbar etwa als im Aufenthaltsraum der Psychiatrie diverse Patient*innen an einem Delphin-Puzzle sitzen und jemand „Delphintherapie“ sagt. Der Text ist immer wieder von feinem Humor durchzogen, vom ständigen Kampf gegen die eigenen Gedanken. Wie ein Seismograph misst er die Erschütterungen und zeichnet sie auf. Dem Buch gelingt es, mehr als eine Notizsammlung zu sein. Es bildet eine Gedankenwelt ab, die viele Menschen kennen und entkräftet en passant auch immer wieder Vorurteile, unter denen Betroffene zu leiden haben. Benjamin Maack ist nicht nur „der mit den Depressionen“. Er ist ein sehr guter Autor.
Wer unter Suizidgedanken leidet, sollte sich schnell Hilfe suchen. Es gibt in Deutschland mehrere Anlaufstellen: die Telefonseelsorge ist unter 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 rund um die Uhr und kostenfrei erreichbar. Sozialpsychiatrische Dienste vermitteln in jeder Stadt und Gemeinde Hilfen. Auf der Webseite der Deutschen Depressionshilfe kann man Krisendienste und Beratungsstellen in der Nähe finden.