von David Will
Wer Geschichten in einem neuen Medium erzählt, stößt seinem Publikum mitunter neue Türen auf. Als sich Anfang des 20. Jahrhunderts der Film als eigenständige Kunstform etablierte, galt die Nähe zum Schauspiel, die sich damit ermöglichte, als Sensation. „Man kann denen ja beim Denken zusehen”, soll ein Kritiker gesagt haben, nachdem er im Jahr 1909 aus dem Kino gekommen war. Die visuelle Nähe vermittelte eine emotionale Intimität, wie man sie bisher nicht gesehen hatte. Sie entwickelte bald ihre eigenen Konventionen: weg von der Theatralik der französischen Pantomimen, die anfangs noch als Goldstandard vor der Kamera galt, hin zur kleinen Geste und subtilen Mimik.
Etwa ähnliches passierte, als sich rund ein Jahrhundert später die Serie vom Film emanzipierte. Die Männer (ja, es waren vor allem Männer), die man in Serien wie The Sopranos, The Wire oder Breaking Bad über Dutzende Stunden hinweg begleitete, waren komplexe Charaktere – glaubwürdige Antihelden, die dem Publikum in ihrer Fehlbarkeit und ihren über viele Folgen herausgearbeiteten Nuancen an Herz wachsen konnten. Die längere Laufzeit gab Drehbuchautor:innen die Gelegenheit, ungewohnt vielschichtige Protagonist:innen zu zeichnen.
Heute sind es Videospiele, die einige der innovativsten Wege finden, Geschichten zu erzählen. Entwickler:innen geben dem Rezipienten eine Möglichkeit, die ihm woanders in der Regel verwehrt bleibt: die Fähigkeit, eigenständig mit diesen Welten zu interagieren, in manchen Fällen sogar Mitautor der eigenen Geschichte zu werden. Wie sie ausgeht, hängt dann von den Entscheidungen der Spielerin ab – ein Verfahren, das (mit eher diskutablem Erfolg) in Filmen wie Bandersnatch oder der ARD-Produktion Terror punktuell auch in andere Darstellungsformen übergeschwappt ist.
Doch manchmal erzielt man den größten Effekt, indem man mit den eigenen Regeln bricht. So wie in der Spielereihe The Last Of Us, die mittlerweile auch als Serie verfilmt wurde und, wie es kürzlich hieß, in den kommenden Jahren um einen dritten Teil ergänzt werden soll. Sie hat gezeigt, dass Videospiele in der Lage sind, ein ganz eigenes Band zwischen Protagonist und Publikum zu knüpfen – indem sie die eigenen Konventionen im entscheidenden Moment ignorieren.
Identifikation auf Knopfdruck
The Last of Us ist ein Survival-Shooter im postapokalyptischen Zombie-Setting. Mit anderen Worten: So ähnlich hat man das schon oft gesehen. Die Macher Neil Druckman und Bruce Straley haben sich nach eigenen Angaben an unterschiedlichsten Formaten bedient: Etwa bei Cormac McCarthys Roman The Road, dem Neo-Noir-Film No Country for Old Men, einer BBC-Dokumentation über einen Pilz, der Ameisen im südamerikanischen Regenwald zu willenlosen Robotern macht, und dem Zombie-Film I am Legend aus den 2000er Jahren.
Herausgekommen ist aber kein zweitklassiger Abklatsch. Als Spieler:in bewegt man sich durch eine atmosphärisch dichte Welt, in der die Schönheit der verfallenen, von der Natur zurückeroberten Städte, und der gewaltsame Tod immer nah beieinander liegen. Die Musik des Komponisten Gustavo Santaolalla macht die Nostalgie geradezu greifbar, wenn der Spieler durch menschenleere Landschaften reist oder in verlassenen Plattenläden stöbert. Das Sounddesign und die Lichteffekte tun ihr Übriges. Man will tatsächlich losrennen, wenn unmenschliche Laute aus einem dunklen Hauseingang dringen, und sich erleichtert im Gras ausstrecken, wenn man es in den Wald geschafft hat und die Sonne durchs Laub bricht. Das Bemerkenswerteste ist allerdings nicht die Szenerie. Es sind die Menschen, die man als Spieler:in kennenlernt.
Die Geschichte des ersten Teils ist im Kern simpel: Ein Mann bringt ein Mädchen von A nach B. Der Mann ist Joel, ein traumatisierter mittelalter Mann, der sich in der Postapokalypse als Schmuggler durchschlägt, nachdem ihm alles genommen wurde. Das Mädchen ist Ellie, 14 Jahre alt, sie wurde sechs Jahre nach dem Untergang der Zivilisation geboren und birgt womöglich den Schlüssel zur Rettung der Menschheit in sich. Joel bekommt den Auftrag, Ellie quer durchs Land zu eskortieren, vorbei an Monstern, marodierenden Banden und den Schergen einer autokratischen Militärregierung. Dabei wächst ihm das Mädchen, das er anfangs nur als Frachtgut betrachtet, mehr und mehr ans Herz, während sie in ihm den Vater findet, den sie nie hatte.
Auch das ist auf den ersten Blick wenig originell, sondern stereotyper Kitsch: der männliche Beschützer, die weibliche Sinnstifterin, die dem tristen Leben des Helden durch ihre Unschuld wieder Farbe einhaucht. Auf den zweiten Blick erlebt man eine überzeugende Geschichte mit glaubwürdigen Charakteren, die tradierte Geschlechterrollen vielleicht nicht umstürzt, aber zumindest an ihnen rüttelt.
Ein Gutteil des Verdiensts dafür gebührt den Schauspieler:innen, die den Charakteren ihre Stimme und per Motion Capture-Verfahren ihren Körper geliehen haben. Troy Baker porträtiert Joel nicht als den stoischen Josh-Brolin-Verschnitt aus No Country for Old Men, den das Autorenduo zunächst im Sinn hatte, sondern als verletzlichen Mann, der seine Gefühle direkt unter der Haut trägt. Ashley Johnson verwandelte Ellie während der Dreharbeiten von der „Damsel in Distress” – der Maid, die ihrer Rettung harrt – zu einer souveränen Protagonistin. Das Skript ist handwerklich brillant und macht aus dem, was in schlechteren Händen Schablone geblieben wäre, dreidimensionale Charaktere, deren Beziehung sich im Verlauf der Handlung sogar umkehrt.
Aus einem Spiel mit halbwegs tragfähiger Hintergrundgeschichte wird so eine Geschichte, an der man spielerisch teilhaben kann. Mit jedem Knopfdruck und Schlenker des Controllers kommt man den Protagonist:innen ein Stück näher. Wir steuern ihre Körper, legen dabei aber im Grunde nur die Hoffnungen und Ziele eigenständiger Persönlichkeiten frei. Es ist darum nur konsequent, wenn wir schließlich entgeistert feststellen, dass die im Zweifel ihren eigenen Willen durchsetzen. Wir führen vielleicht die Hand, mit der sie sich vor den Gefahren ihrer Umwelt schützen. Aber wir können ihnen nicht in den Arm fallen, wenn wir das wollen.
Vom Komplizen zum Betrachter
Das ist es, was diese Erfahrung so besonders macht. Die Konventionen des Mediums erschaffen eine Erwartungshaltung, in der man davon ausgeht, im entscheidenden Moment mitbestimmen zu können, wie die Reise ausgeht. Man befindet sich schließlich in einem interaktiven Format, ist narrative Abzweigungen und “alternative Enden” gewohnt. Sollte man dann nicht auch hier das Recht haben, die Geschichte nach seinem Willen zu formen? The Last Of Us sagt: Nein. Es verwendet viel Mühe darauf, ein glaubwürdiges Personal aufzubauen und die Spielerin zur Identifikation zu verleiten. Es gestattet ihr aber nicht, dieses Gebäude einzureißen, wenn sie es am meisten verlangt und per Konvention mit dieser Freiheit rechnet.
Das gilt insbesondere für den zweiten Teil der Spielereihe. Der setzt vier Jahre nach den Ereignissen des ersten Teils an und ist in einem deutlich düstereren Ton gehalten. Ellie ist mittlerweile erwachsen geworden, nun Hauptprotagonistin des Spiels und zieht nach einem Vorfall zu Beginn der Handlung los, um brutale Vergeltung zu üben. Der Racheplot ist großartig in Szene gesetzt und stellenweise nur schwer zu ertragen. Man wohnt keinem epischen Kampf von Gut gegen Böse bei, sondern einer Tragödie, in der der Schmerz auf beiden Seiten spürbar wird. Das Skript versteht es, dem Spieler durch geschicktes Storytelling und einen Wechsel der Perspektiven ein Maß an Empathie abzuringen, das den Protagonistinnen dieser Geschichte bis zum Schluss versagt bleibt.
Im Verlauf der Handlung wird man so vom eilfertigen Komplizen zum oft schockstarren Betrachter. Die Spielfigur, die man ja zu ihren Taten befähigt, emanzipiert sich letzten Endes vom Spieler. Damit kehrt sich das Machtverhältnis um. Man hat den Controller in die Hand genommen, um sich durch eine gefällige Fiktion zu manövrieren, und stellt schließlich fest, dass es in Wirklichkeit das Spiel ist, das einen an der Leine hat. Diese Überwältigungsästhetik bringt auf diese Art kein anderes Medium zustande.
Gleichzeitig hält das Spiel immer wieder inne, um das Innenleben der Protagonist:innen auszuleuchten und ihre sozialen Verhältnisse abzubilden. Die Autor:innen Neil Druckman und Haley Gross schaffen es dabei, ihren zentralen Cast (und nicht nur unbedeutende Nebenfiguren) als diverse Persönlichkeiten zu zeichnen, ohne in Schönfärberei zu verfallen. Wir erleben etwa eine lesbische Liebesgeschichte, die im Umfeld der Protagonist:innen auf homophobe Ablehnung stößt, oder das Coming-Out einer trans Person, die wegen Tribalismus und religiösem Fundamentalismus um ihr Leben fürchten muss.
Einfach nicht tiefsinnig
Für ein Triple-A-Game, den Blockbuster unter den Videospielen, ist das Entwickler:innenteam damit einige Risiken eingegangen – und hat entsprechend viel Kritik kassiert. Teile der immer noch überwiegend männlichen Spielerschaft haben nach Erscheinen des zweiten Teils eindrucksvoll unter Beweis gestellt, wie toxisch und reaktionär die Community sein kann. Sie traten einen homophoben Shitstorm gegen das Entwickler:innenteam los, belegten das Spiel mit Massen negativer Kritiken (sogenanntes Reviewbombing) und sprachen sogar Todesdrohungen gegen eine der Darstellerinnen aus.
Von der entgegengesetzten politischen Seite störte man sich dagegen an den Gewaltdarstellungen und der mangelnden Entscheidungsfreiheit. Die Heldin verübt brutale Gewalt – und als Spieler kann man nicht einmal etwas dagegen tun? „Es tut mir leid, das ist einfach nicht tiefsinnig”, kommentierte das Anita Sarkeesian, die mit queerfeministischer Kritik an Videospielen bekannt geworden ist. Das Argument: Wer vor dem Strudel von Gewalt und Gegengewalt warnen will, der kann die Warnung nicht so verpacken, dass Gewalt ein unausweichliches Element der Spielmechanik bleibt. Das aber würden die Regeln des Mediums nicht zulassen. „Ellie kann sich nicht verändern. Sie kann sich nicht verändern, weil Triple-A-Games sich nicht verändern”, hieß es an anderer Stelle – denn diese Spiele hätten nun mal Gewaltorgien zur zentralen Spielmotivation erkoren.
Hier wird einiges verhandelt: Der Vorwurf an die Videospielindustrie, die immergleichen Motive abzufrühstücken, anstatt die Palette der menschlichen Gefühle in voller Breite zu erkunden; der Hinweis darauf, dass ein Spiel nicht moralisch tun kann, wenn es den Spieler gleichzeitig zum Gegenteil ermutigt; und die handwerkliche Kritik, dass die Fiktion aufreißt, wenn Spielmechanik und Geschichte zu weit auseinanderdriften – ein Phänomen, das unter dem Namen “ludonarrative Dissonanz” seit den späten 2000er Jahren diskutiert wird.
Studie eines Gefühls
Doch auch wenn diese Kritik einige valide Punkte aufgreift, geht sie an dem vorbei, was dieses Spiel ausmacht. Ja, die Videospielindustrie erweist sich immer wieder als bemerkenswert unkreativ in den Anreizen, die sie setzt. Abseits von Indie-Games finden sich selten Spiele, die Wettbewerb und Kampf nicht ins Zentrum des Geschehens rücken. Diese Mechaniken verkaufen sich und große Studios setzen in der Regel lieber auf die sichere Karte, als ein finanzielles Risiko einzugehen. Man kann auch diskutieren, ob das womöglich Symptom eines tieferliegenden gesellschaftlichen Missstands ist, wie es der Kulturkritiker Jonathan McIntosh alias „Pop Culture Detective” behauptet. Eine aggressive Ellbogengesellschaft raubt Spielschaffenden demnach die Vorstellungskraft, dass man auch prosoziales Verhalten belohnen könnte, und die produzieren in der Folge Spiele, die wiederum althergebrachte Denkweisen perpetuieren.
Will man großen Studios fehlende Originalität vorwerfen, ist The Last Of Us dafür allerdings der denkbar schlechteste Kandidat. Die Entwickler:innen haben künstlerisches Neuland betreten – und damit ist nicht einmal die Tatsache gemeint, dass sie ein Action-Spiel geschaffen haben, das ohne den Monolithen heteronormativer Rollenklischees auskommt. Im Kern ist The Last Of Us die Studie eines Gefühls. Es schaut sich sehr genau an, was Zuneigung mit Menschen macht, welche schönen und schrecklichen Folgen sie in ihrem Leben haben kann. Und es zieht alle möglichen Register, auch bisher ungenutzte, damit der Spielerin diese Erfahrung in alle Glieder fährt. Das bedeutet allerdings, dass sich die Charaktere konsistent verhalten müssen, auch wenn man sie gerne davon abhalten würde.
Man kann das stellenweise als Parabel über die Sinnlosigkeit von Gewalt im realen Leben lesen. Es wird damit aber nicht zum Plädoyer gegen Gewalt in Videospielen. Dass das zwei unterschiedliche Ebenen sind, ist anscheinend auch nach Jahrzehnten fruchtloser Killerspiel-Debatten nicht in der Öffentlichkeit angekommen. Fiktion, auch fürchterliche, darf Spaß machen, sie wird dadurch nicht ohne Umstände real. Videospiele sind keine pietistische Erbauungsliteratur, denn dann würde sich niemand für sie interessieren und alle hätten Recht damit.
Das heißt nicht, dass The Last Of Us keine Fehler hat. Im Gegenteil: Gerade der zweite Teil weist eine ganze Reihe logischer Löcher und erzählerischer Schwächen auf. So ist es nach den Beschwerlichkeiten der Reise im ersten Teil auf einmal unwahrscheinlich leicht, seinen Feinden durch das halbe Land hinterherzureiten; die Antagonistin wird zwar nahbar und plausibel gezeichnet, streift aber über weite Strecken ohne klares Ziel durch die Geschichte; und das Spiel kann ihre Wandlung sowie ihre wichtigste Beziehung nicht annähernd so greifbar machen, wie es das bei den Protagonist:innen des ersten Teils geschafft hat. Das mag damit zusammenhängen, dass Koautor Bruce Straley am zweiten Teil nicht mehr mitwirkte, nachdem er das Studio im Jahr 2017 unter undurchsichten Umständen verlassen hatte. Viele der dokumentierten Hinweise an seinen Kollegen Neil Druckman, die Geschichte subtil und plausibel zu halten, dürften damit weggefallen sein.
Unterm Strich ist The Last Of Us aber eine erschütternde, geradezu rauschhafte Erfahrung. Es bindet den Spieler an Charaktere, wie man sie in einem Videospiel noch nicht gesehen hat, und entlässt ihn auch dann nicht, wenn er mit ihnen im Tunnel einer Obsession stecken bleibt und verzweifelt gegen die Wände hämmert. Man kann nur hoffen, dass es nicht zu lange dauert, bevor man für den dritten Teil wieder in diesen Tunnel hinabsteigen darf.
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Foto von Denny Müller auf Unsplash