Von Ralf Schlüter
Vielleicht wäre alles ein bisschen einfacher, wenn sich alle an den Duden halten würden. Er definiert den Künstler als »eine Person, die berufsmäßig Kunstwerke hervorbringt oder darstellend, aufführend interpretiert«. Nach dieser Leistungsbeschreibung gehört es nicht zu den Aufgaben von Künstler*innen, als Personen den Traum von einem freien, nicht entfremdeten Leben zu verkörpern. Sie müssten nicht unbedingt als Provokateure auftreten, die in verkrusteten Gesellschaften die Grenzen des Sagbaren verschieben. Es wäre auch nicht gefordert, dass sie unter Einsatz ihres Körpers übergroße Images kreieren, mit deren Hilfe sich jahrzehntelang Bücher, Bilder oder Songs vermarkten lassen.
Die Moderne liegt hinter uns; für Künstler*innen war es eine Zeit wachsender Aufgaben. Das im 20. Jahrhundert propagierte Ideal völliger Verschmelzung von Kunst und Leben hatte zur Folge, dass eine Grundidee immer in zwei Versionen ausgegeben werden konnte: als Kunstwerk oder als Person. Wer dem Maler-Exzentriker Salvador Dalí dabei zusah, wie er 1971 als Gast in der Dick-Cavett-Show mit weit aufgerissenen Augen seinen Schnurrbart zwirbelte, das Wort »Schmetterling« zersang und einen lebenden Ameisenbären auf die anderen Gäste losließ, hatte schon einen Eindruck vom Surrealismus bekommen – man musste nicht unbedingt ins Museum gehen.
Einsame Höhen erreichte diese Verschmelzung im multimedialen Setting des Pop. Das Hervorbringen von Musik war für Michael Jackson, Madonna oder Kurt Cobain nur noch ein Teil der Arbeit. Mindestens eben so viel Energie floss in die Verkörperung märchen- oder märtyrerhafter Alternativfiguren zur Tristesse »normaler« Biographien. Jackson und Cobain haben beim Einsatz an der Verkörperungsfront ihr Leben gelassen, Madonna bezahlt ihr Überleben damit, dass die Würdigung ihrer Verdienste auf später verschoben wird; bis dahin muss sie sich wegen Bühnenpannen und unglücklicher Instagram-Posts verspotten lassen.
Kein Wunder, dass die Figur des Künstlers heute ein wenig erschöpft wirkt. Vielleicht ist es ganz gut, dass sich Entlastung ankündigt. Mit dem Aufstieg der generativen KI verschiebt sich der kreative Alltag weg vom Charisma, hin zur Produktion. Programme generieren Bilder, Texte, Musik, und neuerdings – mit Sora – auch Filmsequenzen. An riesigen Datenmengen trainiert, kann die KI auf Wunsch in Sekunden alles liefern. Sie ermüdet nie, keine Schreibblockade behindert ihren Flow, keine Alkoholsucht erzwingt Pausen. Selbst wenn noch ungeklärt ist, ob eine KI je etwas wird herstellen können, das man mit guten Gründen als Kunst bezeichnet: Im Output setzt sie neue Maßstäbe.
Die Betreiber von Open AI haben diese Revolution in ein Wort gefasst: Sie nannten ihren Bildgenerator DALL-E – gebildet aus Dalí und Wall-E, letzterer der kleine Filmroboter. Dalí gibt es jetzt also als Maschine, das heißt: Surreale Bilder wird es weiterhin geben, sogar mehr als je zuvor – exzentrische Schnurrbartträger werden aber nicht mehr gebraucht.
Große Zeiten für uns, das ehemalige Publikum! Wir werden zu Auftraggebenden, die sich qua Prompt Texte, Bilder und Musikstücke bestellen. Spartenübergreifend ist das Unwahrscheinliche, Unerhörte, Ungesehene jetzt jederzeit realisierbar. Man kann per Deep Fake Voice die beiden Künstler Drake und The Weeknd zusammenbringen, so geschehen letztes Jahr mit dem anonym veröffentlichten Song »Heart on my sleeve«. Man könnte ChatGPT im Stil von David Foster Wallace über eine Kabinettsitzung der Ampelkoalition schreiben lassen. Oder man lässt eben serienweise hochphantastische Bilder entstehen (der Fotograf Julian van Dieken führt das auf sehr interessante Weise vor).
Der kreative Akt verteilt sich auf eine Kette von Befehlen und Rechenschritten, frühere Kategorien wie Produzent und Rezipient lösen sich auf. Vielleicht ist der naheliegende Begriff der User*in tatsächlich am ehesten geeignet, das neue Verhältnis zu beschreiben; im Digitalen ist jeder Nutzer ja immer auch Koproduzent. Man gibt dem Programm ein Briefing, lässt Bilder oder anderes herstellen, dann ist man plötzlich Adressat, dann Kurator*in – oder eben insgesamt: User*in. Eine schwer entwirrbare Mischung aus Eigen-und Fremdanteilen entsteht.
Noch komplexer wird die Sache dadurch, dass keine KI aus dem Nichts schöpft. Eine KI benutzt in jedem Rechenschritt vorhandenes Material, und stellt daraus etwas Neues her – ihre Grundfähigkeiten sind Lernen und Verwerten. Diese technische Entwicklung ergänzt und verstärkt einen Prozess, der schon in der analogen Moderne begann: Ab den 1960er Jahren brach sich langsam der Gedanke Bahn, es müsse nicht alles immer grundneu und einzigartig sein. Wollte Joseph Beuys mit seinem Credo »Jeder Mensch ist ein Künstler« nicht die Gewichte verschieben, weg vom Schöpfer, hin zur Alltagskreativität? Hatte nicht Andy Warhol mit seinen Suppendosen und Kuhtapeten den Weg geebnet zu einer Ästhetik der Reproduktion? Den größten Sprung zur Verwertungsästhetik machten die DJs der 1980er und 1990er Jahre. Sie nahmen vorhandenes musikalische Material und mischten es auf den einen besonderen Augenblick hin: auf die ekstatische Präsenzerfahrung im Club. Dort interessierte sich niemand für die Eigenschaften herausragender Künstlerpersönlichkeiten – es ging ganz User*innenzentriert um ein Rauschbedürfnis, und ob die Musik dafür »funktionierte«.
Schon damals stellte sich die Frage, die mit den enormen Qualitätssprüngen der KI jetzt wieder aktuell wird: Ist auf Dauer noch Platz für Künstler*innen alten Typs? Schließlich hatten die ihren Sonderstatus der Tatsache zu verdanken, dass sie (künstlerische) Originale herstellten, was sich zugleich in der Einzigartigkeit ihrer Persönlichkeit spiegelte.
Und falls sie verschwänden, wäre das nicht schade? Die Figuren und Biographien, die mit den künstlerischen Werken verbunden waren, erfüllten für uns eine wichtige Funktion. Sie boten nicht nur Rezeptionshilfen und Kontexte zur jeweiligen Kunst, sondern konnten auch ganz direkt Einfluss auf unser Leben nehmen. Künstler*innen dienten uns als Leidensgenoss*innen, Projektionsflächen und Role Models – kein schöner Gedanke, dass sie nun zur Duden-Definition zurückkehren, beim Produzieren von Kunst womöglich noch eine KI benutzen und uns mit unseren Normal-Biographien allein lassen.
Noch kann allerdings von einer künstlerlosen Welt keine Rede sein. Wer sich heute umschaut, sieht auf den Displays der Kulturangebote vor allem menschliche Gesichter. Wenn sich in diesem Sommer Hundertausende in Bewegung setzen, um die Open-Air-Konzerte von Taylor Swift und Adele zu sehen, dann geht es dabei um die Einzigartigkeit und Präsenz einzelner Menschen: darum, mit der Sängerin am gleichen Ort zu sein, sie mit eigenen Augen direkt sehen zu können. Auch die bildende Kunst steht noch im Bann des kreativen Einzelnen: Die erfolgreichste Ausstellung des Winters 23/24 war eine Retrospektive des Klassikers Caspar David Friedrich in der Hamburger Kunsthalle. Ausbruchversuche wie die letzte, komplett der Kollektivkunst gewidmete documenta hinterließen bislang kaum Spuren.
Auch in der digitalen Kultur, die ohnehin zur Singularisierung neigt, sind große Künstler durchaus gern gesehen. Der Jubilar von 2024, Franz Kafka, ist Gegenstand etlicher Clips auf TikTok, sein ikonisches Gesicht flimmert und blinkt, erreicht uns gefiltert und verziert, gezeichnet und gepromptet. Wer sich vom Algorithmus ziehen lässt oder dem Hashtag #kafka folgt, gelangt in völlig eine neue Kafka-Welt hinein – weit entfernt von der alten, die nach Papier roch und in der die immer wieder gleichen Expert*innen ihre Erkenntnisse zu Werk und Wirkung ausbreiteten.
Für die TikTok-User*innen ist Kafka ein Reservoir. Sie finden bei ihm Sätze, Bilder und Motive, zu denen sie sich dann selbst in Beziehung setzen. Ob aus Werk oder Leben, ist dabei nicht wichtig, eine Briefstelle kann genauso so zum Stoff werden wie ein Foto, eine Romanpassage oder eine allgemeine Vorstellung der Figur. »Du bist das Messer, mit dem ich in mir wühle« – „Kafka quotes that make me want to cry» – »Me when I read Kafka« – der Zugang ist direkt, geht über Gefühle, Gedanken und persönliche Anschlusspunkte. Selbst die Clips, die Kafka noch als Teils des Kanons oder »must-read« vermitteln wollen, wählen radikal aus, was sie etwa an der »Verwandlung« interessiert. Viele der Filme sind selbst künstlerisch gestaltet, mit den Plattform-eigenen audiovisuellen Mitteln.
Die Kafka-Remixe auf TikTok zeigen vielleicht am deutlichsten, welche Rolle Künstler*innen in einer zunehmend digitalisierten Kultur zukommt. Sie sind nicht länger die Decke der Hochkultur, nach der man sich strecken muss – sondern exponierte Bezugspunkte in einer User*innenzentrierten Umgebung. Man beschäftigt sich mit ihnen, identifiziert sich auch punktuell, wertet sich selbst damit auf – muss ihnen aber nicht mehr unbedingt gerecht werden. Das Umgekehrte gilt: Die Figur und ihr Werk sind insofern interessant, als sie etwas bieten, das eine Folie sein kann für die eigene, digital teilbare, als fluide wahrgenommene Identität.
Dass Künstler*innen noch gebraucht werden, mag eine gute Nachricht sein. Allerdings wird sich ihr Wirkungsbereich mit denen von Influencer*innen und anderen Protagonisten mischen, und die Art der Bezugnahme ist direkter, bedarfsorientierter. In die Mitte einer Kultur, die lange um die Schöpferfiguren herum gebaut war, rückt nun der/die User*in. Der Benutzer ist Ko-Produzent derjenigen Kunst, die er in einer bestimmten Situation oder Lage gerade braucht. Mit den generativen KI-Programmen hat er eine neue, Wünsche erfüllende Supermaschine an seiner Seite, jegliches Material ist verfüg- und vor allem anpassbar. Parallel buhlen Künstler*innen, nach wie vor um Einzigartigkeit ringend, um seine Gunst. Vielleicht beneiden sie ihn ein wenig um das Hochgefühl, das Ermächtigung auslösen kann.
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