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Social-Media-Benimmkolumne: Schade, du hast den Alt-Text vergessen

von Franziska Reuter

Es ist jetzt ziemlich genau ein Jahr her, dass Twitter die Alt-Text-Funktion für alle Nutzer:innen sichtbar gemacht hat. Schon wieder so ein Satz, den nur versteht, wer Social Media benutzt. Für die Glücklichen, deren Aufmerksamkeitsbedürfnis oder Job sie nicht auf soziale Medien gezwungen hat: Alt-Text bietet die Option, jedes geteilte Bild mit einer Beschreibung zu versehen, die sehgeschädigte oder blinde Menschen sich vorlesen lassen können. Manchmal ist das entscheidend zum Verständnis des Tweets. Sichtbar zu machen, welche Bilder mit Alt-Text versehen sind und welche nicht, hat auf Twitter eine ganz neue Dimension von Konfliktpotential freigeschaltet. Aber dazu später.

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Social-Media-Benimmkolumne: Woran merke ich, wenn ich aufdringlich werde?

von Franziska Reuter

Seit es diese Kolumne gibt, wurde diese Frage mehrfach als Themenvorschlag genannt (herzlichen Dank dafür). Das lässt mich vermuten, dass viele Leute sich Sorgen machen, etwas zu intense zu wirken, während sie das tun, wofür die meisten auf Social Media sind: mit den Gedanken anderer zu interagieren und die eigenen zu teilen. Ich vermute außerdem, dass die Leute, die sich diese Sorgen machen, eher nicht jene sind, die anderen regelmäßig auf den Geist gehen. Aber wer weiß? Also der Reihe nach.

Es gibt fünf nennenswerte Dimensionen, wie jemand auf Social Media drüber sein kann. Nummer eins: Die Person postet alle fünf Minuten etwas und scheint auch nie zu schlafen. Auch wenn das kein weiches Licht auf ihr Aufmerksamkeitsbedürfnis wirft, halte ich das für komplett harmlos. Niemand muss folgen, alle können stumm schalten – immer raus damit, liebe Mitbewohner:innen des Internets! Wundert euch nur nicht, wenn die Interaktionsraten mit euren Posts irgendwann sinken. Das heißt dann, dass ihr wirklich von vielen eurer Follower:innen stumm geschaltet wurdet.

Nummer zwei: zu viel Offenheit. Sicher haben dazu alle sofort eine eigene Assoziation. In dieser Kolumne habe ich vor Oversharing in Twitter Circles gewarnt. Diese Warnung gilt natürlich noch viel mehr außerhalb. Details eurer Beziehungsprobleme, der Durchfall eures Hundes und die Intensität eurer Hassgefühle gegenüber euren Vorgesetzten sollten nicht zu viel Raum einnehmen. Schon mal einen langen Abend mit jemandem verbracht, der von einem eher unangenehmen Thema nicht abzubringen war? Und wie fandet ihr das? Eben.

Aber das sind noch die minder schweren Vergehen gegen den Anstand. Wer gegen beide verstößt, wird wahrscheinlich als etwas drüber bis obsessiv wahrgenommen. Die nächsten drei Dimensionen stoßen in Bereiche vor, in denen Aufdringlichkeit extrem unangenehm wirkt oder sogar zu Stalking werden kann.

Nummer drei: durchfaven, also auf jemandes Profil gehen und dann einfach alles liken, was die Person in letzter Zeit so gepostet hat. Auf Instagram kann das so etwas wie die Vorstufe zum Flirt sein, gerade wenn es um Selfies geht. Man sollte dabei aber nicht weiter zurückgehen als ein paar Wochen – 200 innerhalb einer Stunde gelikte Selfies wirken creepy. Auf Twitter wiederum kann es alles heißen von „Du bist so super schlau/witzig und ich will nichts davon verpassen!“ bis „Du sollst wissen, dass ich alles mitbekomme, was du hier tust.“ Und es gibt nur ein einziges Kriterium dafür: Das Verhältnis der beteiligten Personen. Kennt die Person dich gut genug, dass sie dich eindeutig nicht als Massenmörder oder Nervensäge abgespeichert hat? Dann los, fav sie durch. Wir loben eh immer alle zu wenig. Kennt ihr euch kaum und du versuchst mit dem Durchfaven ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen? Favst du etwa auch noch ihre Replys an andere Leute durch? Um Himmels Willen. Sofort aufhören.

Indem wir jemanden durchfaven, der unsere Intentionen dahinter nicht kennt, bringen wir ihn zumindest in Verlegenheit. Auch positives Feedback kann aufdringlich sein. Die meisten Frauen wissen das, weil Frauen immer noch zu oft schmierige Komplimente bekommen, die im Grunde ein verbaler Übergriff sind, für den die Frau sich auch noch bedanken soll. (Es sollte nicht nötig sein, aber als kleiner Exkurs: „Ah, das Kleid zeigt Ihre schönen Beine!“, ausgesprochen von jemandem, der der Angesprochenen nicht so nahe steht wie eine beste Freundin oder ein Familienmitglied, ist kein Kompliment.)

Nummer vier: ungefragte Kritik an Postings anderer Leute. Niemand mag Kritik besonders, keine Frage. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum Menschen, die mit Begeisterung kritische Anmerkungen machen, auf Social Media häufig geblockt werden. Damit meine ich nicht, dass man alle sachlichen Irrtümer unkommentiert lassen muss. Aber im Idealfall umgibt man sich doch auf den sozialen Medien wie im echten Leben mit Menschen, die man nicht für Dummköpfe hält. Wenn du also das Gefühl hast, etliche Postings in deiner Timeline erfordern dein kritisches Eingreifen, hast du entweder die falsche Timeline oder bist sowieso immer der Überzeugung, die klügste Person im Raum zu sein. Im ersten Fall: Ändere deine Timeline. Im zweiten Fall: Wenn du wirklich die klügste Person im Raum wärst, wüsstest du auch, dass andere von deiner Selbstgerechtigkeit genervt sind.

Dabei ist es sogar minder schlimm, wenn jemand seine Besserwisserei großflächig über die Timeline verteilt. Richtig unangenehm wird es, wenn es immer dieselben ein bis fünf Personen sind, die es trifft. Wenn Durchfaven schon als aufdringlich wahrgenommen werden kann, wie sollte gezielte ständige Kritik als akzeptables Verhalten durchgehen? Es ist nicht akzeptabel. Es ist aufdringlich, und es wirkt creepy, weil man sich automatisch fragt, ob die Person irgendetwas bezweckt. Bei Pick-up-Artists und ihrer glücklicherweise aus der Mode gekommenen Ansammlung von Manipulationstechniken, um Frauen ins Bett zu bekommen, ist das eine etablierte Methode: Der Mann ruiniert das Selbstbewusstsein der Frau durch Kritik an ihrem Körper so weit, dass sie irgendwann erleichtert ist, dass er trotz ihrer Unzulänglichkeiten mit ihr ins Bett will. Es gilt im echten Leben wie auf Social Media: Gerade Menschen mit schwachem Selbstbewusstsein üben sich gerne darin, das der anderen zu untergraben.

Kommen wir zur fünften und letzten Dimension: wiederholte Versuche, über private Nachrichten Kontakt aufzunehmen. Landläufig: jemandem in die DMs sliden. Wobei das Sliden an sich nicht das Problem ist, sondern die Wiederholung. Dass man persönliche Kontakte knüpfen kann, gehört zu den Vorzügen sozialer Medien! Aber dieser persönliche Kontakt lässt sich eben nicht einseitig beschließen. Antwortet jemand gar nicht oder nur einsilbig auf deine Nachrichten? Nimm das als Absage. Die Wahrscheinlichkeit, dass deine Nachrichten übersehen werden oder die Person zu schüchtern zum Antworten ist, geht gegen null. Den Mangel an Interesse zu ignorieren und sie weiter mit Nachrichten zu bombardieren, in der Hoffnung, sie zu überzeugen: Das nennt man am Anfang Penetranz und ab einem gewissen Punkt Stalking.

Es hat natürlich seine Gründe, dass Social Media übergriffiges Verhalten verstärkt. Die parasozialen Beziehungen, die Menschen früher nur mit Berühmtheiten verbanden, gibt es nun auch mit ganz normalen Leuten im Internet. Wenn wir Günther Jauch auf der Straße ansprechen, verkennen wir, dass er uns zwar total vertraut vorkommt – aber wir ihm nicht. Unsere Beziehung ist asymmetrisch. Und genau so kann durch Social Media unsere Beziehung mit Claudia aus Stuttgart asymmetrisch sein, obwohl sie ein Normalo ist wie wir selbst. Dass wir schon vierzig Videos von ihren Katzen angeschaut haben, genau wissen, welches Buch sie gerade liest und wie sie ihren Kaffee trinkt, ändert nichts daran, was wir für sie sind: Fremde. Und dass sie diese Informationen über ihr Leben online preisgibt, berechtigt uns nicht dazu, uns mehr herauszunehmen, als wir das gegenüber Fremden täten.

Foto von Justin Veenema auf Unsplash

Social-Media-Benimmkolumne: Müssen Freund:innen die größten Fans sein?

von Franziska Reuter

Natürlich sind deine Freund:innen blitzgescheit und unterhaltsam, keine Frage. Oder zumindest dachtest du das, bis sie diesen Newsletter über peruanische Nackthunde gelauncht haben, den du aus Solidarität abonniert hast. Jetzt kommt jede Woche eine neue Ausgabe. Dir dämmert allmählich, dass du eher ein Katzenmensch bist. Und der Newsletter wiederholt regelmäßig die Bitte, ihn auf Social Media weiterzuempfehlen. Weil du weißt, dass die Ersteller:in die Öffnungsrate des Newsletters sehen kann, öffnest du ihn immer kurz, um ihn dann mit schlechtem Gewissen zu löschen.

Vielleicht ist so etwas gemeint, wenn Leute klagen, Freundschaften wären im digitalen Zeitalter schwieriger geworden? Zumindest in den sozialen Medien ist Aufmerksamkeit eine Ressource, die knapper ist, als viele es sich eingestehen wollen. Selbst wer seine Freund:innen beim Streben danach unterstützen will, muss hier und da eine Grenze ziehen. Zumal, wenn die Interessen auseinanderklaffen – wie im Fall der peruanischen Nackthunde.

Dabei ist es normal und richtig, wenn unsere Freund:innen Unterstützung erwarten, auch auf Social Media. Die Frage ist, wie diese Unterstützung aussieht. Reicht ein Like? Soll es ein Repost sein? Ein eigener Post?  Manche Menschen kuratieren ihre Accounts so liebevoll und wohlüberlegt, dass sie jedes Posting schmerzt, das nicht genau in ihre Linie passt. Wer sich auf Social Media ausschließlich mit Pflanzen beschäftigt, wird dort wahrscheinlich nicht verkünden, dass ein guter Freund gerade ein Buch über Panzer im Wandel der Zeit veröffentlicht hat. Und das ist völlig in Ordnung. Freundschaft und Unterstützung bedeuten nicht automatisch, dass man Werbung für alles mögliche machen muss. 

Andere posten und reposten selbst so viel und so wild durcheinander, dass für Panzer und Pfingstrosen gleichermaßen Platz ist. Bei ihnen ist die Bereitschaft höher, auch noch das Weihnachtsvideo des Schulchores der Nichte eines Freundes zu teilen. Ist das reizend? Ja. Darf man es erwarten? Auf keinen Fall.

Die Faustregel für alle Aktivitäten sollte sein: Es muss sich auch ohne die Unterstützung von Freund:innen lohnen. Wenn also 100 Fremde den Nackthund-Newsletter abonniert haben und das der Verfasser:in genügt, prima. Wenn 50 Freund:innen und 10 Fremde ihn abonniert haben und die Verfasser:in permanent unzufrieden ist mit dieser Anzahl, halten nur die Freund:innen ihn am Leben – und das in unserem Beispiel nicht aus Interesse, sondern aus latent schlechtem Gewissen. Gleichzeitig fühlen sie sich in dieser Situation oft gefangen, weil sie nicht auch noch abbestellen wollen, wenn die Zahlen ohnehin schon so niedrig sind.

Das lässt nur zwei Empfehlungen zu. Erstens: Egal wie gut ihr befreundet seid, überlegt euch sehr, sehr gut, ob ihr den Newsletter abonnieren oder dem Nackthunde-Account folgen wollt. Ihr könnt stummschalten, aber ihr kommt nie wieder so richtig raus. Zweitens, und dieser Rat richtet sich an die Gegenseite: Wenn eine Aktivität, die sich eigentlich an eine breitere Öffentlichkeit richtet, zu 80 Prozent von Freunden unterstützt wird, dann seid zufrieden mit den 20 Prozent, macht es nur für euch selbst oder lasst es bleiben. 

Das fängt im Kleinen an. Zu den großen menschlichen Rätseln auf Twitter gehören für mich die “Ich wünsche mir so sehr x Follower:innen”-Tweets. Sie richten sich an die, die ohnehin schon folgen, und bitten sie, mehr Leute zu animieren. Einerseits ist der Vorgang nicht ungewöhnlich, andererseits stellen sich doch Fragen: Wozu willst du mehr Follower:innen? Und warum soll ich sie dir beschaffen? Was spricht gegen organisches Wachstum? Und was hast du dann vor? “Ich wünsche mir x Follower:innen” ist so viel inhaltsleerer als ein schlichtes “Hallo, ich bin der Mike und interessiere mich für Batik und Mountainbikes, würde mich freuen, hier ein paar Gleichgesinnte zu finden”. Niemand sollte sich verpflichtet fühlen, so etwas zu retweeten.

Das Phänomen setzt sich fort in den DMs. Es gibt tatsächlich Menschen, die etwa ein Panzer-Buch veröffentlicht haben und danach private Nachrichten schreiben mit der Bitte, das zu promoten. Auch an Leute, die nur mit sehr viel Fantasie als Freund:innen zu bezeichnen sind. Sollte jemand, der das hier liest, so etwas für akzeptables Benehmen halten: Du liegst falsch. Lass es bleiben. 

Das bringt uns zur Masterclass: Geld. Geld und Freundschaft werden völlig zu recht traditionell auseinander gehalten, und dass es manchmal keine Probleme gibt, wenn man sie vermischt, darf keine Ermunterung sein, es zu tun. In meinem Bekanntenkreis gibt es Menschen, die sich am Crowdfunding für die künstlerischen oder publizistischen Aktivitäten von Freund:innen beteiligen und damit sehr gerne aufhören würden, wenn sie wüssten, wie sie das kommunizieren sollen. 

Diese Situation muss man von vornherein vermeiden. Denn es ist nun mal so: Wenn ich ein Steady-Abo für den Nackthunde-Newsletter abschließe und jeden Monat 2 Euro dafür zahle, meine ich das vielleicht als nette Starthilfe für ein Jahr. Aber die Verfasser:in denkt womöglich: Ach guck, die ist auch Nackthundefan! Und wenn ich ein Jahr später kündige, führt sie das nicht auf mein generelles Desinteresse gegenüber Nackthunden zurück, sondern denkt, ihr Newsletter gefällt mir nicht.

Natürlich haben wir alle Freund:innen, die absolut cool sind in solchen Situationen und von sich aus sagen: “Hey, es ist nett, dass du das Abo abgeschlossen hast, aber kündige das ruhig, von Freund:innen nehme ich doch kein Geld dafür.” Aber wegen dieser Freund:innen, selbst wenn sie die erfreuliche Mehrheit bilden, liest ja niemand diesen Text. Es gibt eben auch die anderen.

Deshalb lautet die dringendste Empfehlung für solche Situationen, sich gar nicht erst hinein zu begeben. Auf direkte Aufforderungen, unentgeltlich Werbung für jemanden zu machen, muss man meiner Meinung nach nicht mal antworten. Da gilt die Faustregel: “Wenn du nichts Nettes zu sagen hast, schweig.”  Man kann seine Freund:innen übrigens auch unterstützen, indem man ihnen freundliche Nachrichten schreibt und zu ihren Aktivitäten gratuliert – ihr wisst schon, so wie vor Social Media. 

Wenn man aber nun schon mal in einer solchen Situation drin steckt, würde ich raten, offensiv damit umzugehen. Indem man zum Beispiel schreibt: “Ich freue mich, dass es gut läuft mit den Nackthunden. Du brauchst meine Starthilfe offensichtlich nicht mehr, aber ich bin stolz, deinen Aufstieg verfolgt zu haben!” Notfalls ein freundliches Emoji dran. Und dann kündigen. 

Foto von Ryan ‚O‘ Niel auf Unsplash

BeReal – Bitte, seid bloß nicht authentisch!

von Lennart Rettler

Eine Person zeigt ihren Laptop, eine weitere liegt im Bett. Dann folgt eine Person am Laptop auf der Arbeit, eine andere Person scheint zu spazieren. Jemand gießt Pflanzen und ein anderer sitzt ebenso vor dem Laptop. Das sind Ausschnitte dessen, was mir die App BeReal an einem Dienstagmittag anzeigt.

Seit 2020 gibt es die französische App, die erst seit diesem Sommer richtig einschlägt. Ihr Prinzip ist ziemlich schnell erklärt: User*innen posten jeden Tag einen Beitrag. Dieser besteht aus einem Foto der Front- sowie einem Foto der Rückkamera, welche gleichzeitig aufgenommen werden. So entsteht ein kurzer Ausschnitt des Alltags, der dokumentiert, was eine Person gerade erlebt und wie sie selbst dabei aussieht. Die Beiträge können nur von akzeptierten Freund*innen gesehen werden und auch erst dann, wenn die User*innen selbst einen Beitrag hochgeladen haben. Be Real versendet jeden Tag eine Benachrichtigung zu einer zufälligen Uhrzeit. Mit der Benachrichtigung haben die User dann exakt zwei Minuten Zeit, um einen Beitrag hochzuladen. Wer jetzt Angst hat, dass die App-Nutzung zu konstanter Smartphone-Aufmerksamkeit verpflichtet, sei schnell entwarnt: Es lässt sich auch noch nach diesen zwei Minuten, selbst vier Stunden später, ein Beitrag hochladen. Allerdings muss man dann mit der sozial ächtenden Konsequenz leben, ein Late gepostet zu haben. Denn dieser Begriff verziert für alle sichtbar den Beitrag des Zuspätkommers.

Schade ist, dass in der deutschen Benachrichtigung die Worte „Zeit für Be Real“ verwendet werden. Im Englischen heißt es schlichtweg „Time to Be Real“, versehen mit zwei aufdringlichen, gelben Warnzeichen. Der englischsprachige Ausruf verdeutlicht alles, was die App uns versprechen möchte. Mit Eintritt der Benachrichtigung ist es Zeit, real zu sein – zumindest über die Dauer der Beitragserstellung. Damit bedient die App ein Verlangen, dass unsere digitale Welt prägt, das Verlangen nach Authentizität, nach realness. Die App baut ihre Daseinsberechtigung auf der Prämisse auf, dass unsere Selbstpräsentation auf allen anderen sozialen Medien weniger authentisch, gar fake, sei.

Jetzt lässt sich darüber streiten, ob die Beiträge auf dieser Plattform wirklich realer sind als bei der Konkurrenz. Anbringen lässt sich, dass es diverse Wege gibt, den Authentizitätsanspruch der App zu umgehen. So posten viele User ihren Beitrag einfach später, einige denken sicherlich schon morgens über den perfekten Moment für ihren heutigen BeReal-Beitrag nach, andere sind sicher auch in der Lage sich innerhalb von zwei Minuten perfekt zu inszenieren. Diese Diskussion ist müßig. Viel interessanter ist zu sehen, was uns die App über unser gestörtes Verhältnis zum Authentizitätsbegriff und der digitalen Welt verrät.

Authentizität erlebt täglich Hochkonjunktur bei allem, was in irgendeiner Weise mediale oder digitale Sphären umfasst. Marken sollen auf Social Media unbedingt authentisch sein. Gleiches gilt für Politiker*innen und besonders für Influencer*innen. Sportmannschaften auf der ganzen Welt lassen sich dokumentarisch inszenieren, um ein scheinbar authentisches Bild von sich selbst zu präsentieren. Vergessen bleibt dabei, dass digital vermittelte Präsentation nie authentisch sein kann. Authentizität ist ein Begriff, der dieser Tage vor allem strategischer Natur ist. Authentizität wird als Teil einer Verkaufsstrategie für Beziehungen angeboten, wohlwissend, dass es sie in diesen Beziehungen eigentlich nicht geben kann. Es gibt keine authentischen Marken, es gibt keine authentischen Influencer*innen. Authentizität ist ein Zuschreibungsprozess, und ein solcher lässt sich wunderbar beeinflussen. Und genau das konterkariert den eigentlichen Anspruch an den Begriff.

Viele empfinden Selbstdarstellung als Gegenspieler von Authentizität. Selbstdarstellung wird ermöglicht durch Zeitvorsprung zwischen Planen und Handeln. Je mehr Möglichkeiten ich habe, über meine Selbstpräsentation nachzudenken, desto stärker kann ich sie verändern. Wenn auch das in der realen Welt ebenso gilt, ermöglicht digitale Interaktion einen deutlich größeren Zeitvorsprung. Wenn ich möchte, unternehme ich 2000 Selfie-Versuche, bis ich das Beste gefunden habe. Wenn ich möchte, überlege ich 30 Minuten lang, bis mir der lustigste Spruch einfällt. Durch das zeitliche Limit probiert BeReal, die Menschen genau hier in ihrer Selbstdarstellung zu begrenzen.

Nun sollte aber die Frage erlaubt sein, ob Menschen überhaupt in diesem Prozess begrenzt werden sollten. Interessant ist, dass unser heutiger Anspruch an Authentizität in digitaler Darstellung stark von den Wünschen abweicht, die wir ursprünglich an den digitalen Raum hatten. Dafür lohnt sich ein Blick auf die Arbeiten Sherry Turkles, einer Soziologin des MIT. Sie setzte sich besonders in den frühen Jahren des Computers und der Digitalität mit den menschlichen Beziehungen zu diesen auseinander. In den 80er-Jahren forschte sie vor allem zu MUDs (Multi-User-Dungeons/ Multi-User-Domains), was wir heute am ehesten als MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role-Playing Games) bezeichnen würden. Also Online-Rollenspiele, bei denen man mit anderen Menschen interagieren kann. In den von Turkle erforschten Anfängen stützte sich die Interaktion der Spieler vor allem auf Chat-Nachrichten.

In vielen Interviews stellte Turkle fest, dass die Spielenden schnell zu Meistern der eigenen Selbst-Präsentation und Selbst-Kreation wurden. Sie erklärte die Spielenden der MUDs zu Pionieren unserer digitalen Identitätsbildung. Man kann also sagen, wenn immer Influencer*innen überlegen, welcher Filter für das Foto des neu eingerichteten Wohnzimmers am meisten das Gefühl von Geborgenheit vermittelt, tun sie nichts anderes als MUD-Spielende, die sich ein neues digitales Kleidungsstück aussuchen.

Dabei ging es in diesem Abschnitt der digitalen Weltgeschichte nie wirklich um Authentizität. Ganz im Gegenteil: Die Möglichkeit, Identität digital zu kreieren, wurde als begrüßenswerte Alternative zum eintönigen bzw. beschränkten Alltag angesehen. Nicht umsonst wird der Computer bei Turkle auch als Second Self bezeichnet. Turkle hat viel über das Verhältnis von Online- zu Offline-Identitäten veröffentlicht, wobei sie stets betont, dass die Online-Identitäten selten eine vollständige Alternative zur Offline-Persönlichkeit darstellen. Menschen tendieren vielmehr dazu, bestimmte Aspekte des eigenen Selbst hervorzuheben. Turkle umschreibt diesen Aspekt mit dem Ausruf You are what you pretend to be und vielleicht sagt es ja wirklich viel mehr über uns aus, wenn wir uns zeigen, wie wir gesehen werden wollen, als eine möglichst reale Selbstdarstellung – egal ob als Avatar in MUDs oder mit Hilfe des perfekten Urlaubsfoto auf Instagram.

Jedoch ist die digitale Welt, bzw. die menschliche Wahrnehmung dieser, in den Hochzeiten der MUDs eine ganz andere gewesen als heutzutage. Digitale und reale Welt wurden als getrennte Räume wahrgenommen. Deshalb galt es als gesellschaftlich akzeptiert, in der digitalen Welt eine andere Identität zu verkörpern als sie in der realen Welt zu sein scheint. Das gilt für Online-Rollenspiele heute noch in ähnlicher Weise.

Unser Alltag ist mittlerweile jedoch durchgängig von Digitalität geprägt. Vor einem Bewerbungsgespräch, suchen Arbeitgeber nach Linkedin-Profilen, vor dem ersten Date die potentiellen Partner*innen nach Instagram-Auftritten. Durch soziale Medien ist eine Trennung von digitaler und realer Welt kaum mehr möglich. Auch Turkle beschrieb bereits die Verschmelzung beider Welten, die in Zukunft nur noch stärker werden wird. Genau deshalb ist Authentizität für uns so wichtig. Weil die digitale Welt kein Alternativraum, sondern primär eine Erweiterung unseres realen Lebens und Erlebens darstellt. Diese Verschmelzung nimmt viel vom utopischen Potential des Digitalen, sich selbst neu und erweitert erfinden zu können. Unser Anspruch an Authentizität gipfelt im Verlangen, auch digital als reale Person gelten zu müssen, z. B. durch eine immer wieder diskutierte Ausweispflicht im Internet. Vielleicht sollten wir dieser Verschmelzung entgegenwirken, vielleicht sollten wir uns etwas vom Identitätskreationspotential des Digitalen beibehalten.

Auch wenn BeReal gerade eine beruhigte Alternative zur übersteigerten Darstellung auf Konkurrenzmedien darbietet, bleibt die Frage, wie lange das Interesse am Gewöhnlichen wohl anhalten wird. Denn mal ganz ehrlich; Wer will wirkliche Authentizität? Wer will täglich sehen, wie alle nur ihrer Arbeit nachgehen, vor dem Laptop sitzen oder im Bett liegen? Authentizität ist oft leider langweilig. Ich plädiere also dafür: Don’t be real! And don’t be fake. Be what you pretend to be.

Foto von Christian bei Unsplash

Social-Media-Benimmkolumne: Wie man sich unmöglich macht – Nonmentions und Snitchtagging

von Franziska Reuter

Das größte Problem von Social Media ist, dass Menschen sich online schlechter benehmen als im echten Leben. Fast niemand würde doch zu einem Fremden auf der Straße gehen und sagen, hey, hast du den Mantel aus der Altkleidersammlung? Online passiert so etwas ständig. Die gängige Interpretation dieses Phänomens lautet: Es fällt Menschen schwer, die Reaktion auf ihr Verhalten zu antizipieren, wenn sie ihr Gegenüber nicht sehen können. Dann wirkt die Person, die man beleidigt, nicht wie eine echte Person, die man vielleicht verletzen könnte, sondern nur wie ein Account.

Ich sehe das anders. Ich bin davon überzeugt, dass Leute, die sich online schlecht benehmen, auch im richtigen Leben unangehm sind und das nur kaschieren, weil es ihnen sonst selbst zu sehr schaden würde. Wer sich in jeder Kommunikation aufführt wie die Axt im Walde, wird bald privat sehr einsam werden und im Job nicht vorankommen. Auf Social Media hingegen muss man schon enormes Pech haben oder sich extrem mies verhalten, um echte Konsequenzen dafür zu spüren. 

Kein Wunder, dass viele Menschen dort gern Dampf ablassen. Sie wissen natürlich, dass sie andere damit verletzen. So wie man selbst ein Mensch mit Gefühlen hinter einem Account ist, steht woanders auch ein Mensch mit Gefühlen hinter jedem Account. Das zu kapieren ist etwa so komplex, wie sich selbst im Spiegel zu erkennen. Und das gelingt meist spätestens im Alter von zwei Jahren. 

Nun gehen nicht alle Social-Media-User mit offenen Beleidigungen ans Werk. Es gibt zwei etwas subtilere und trotzdem unangenehme Methoden, die einen ähnlichen Zweck erfüllen. Nummer eins: Nonmentions.  Für die Glücklichen, die nicht wissen, was eine Nonmention ist: Jemand ärgert sich über jemanden und verfasst ein Posting, in dem das Ärgernis auf verklausulierte Weise benannt wird. Dabei werden nie Namen und selten konkrete Ereignisse erwähnt.

Es braucht wahrscheinlich ein Beispiel. Nehmen wir etwas Undramatisches. Klaus und Beate kennen sich über Twitter und chatten hin und wieder. In einer dieser Nachrichten schreibt Beate, sie liebe Coldplay. Klaus schreibt daraufhin einen öffentlichen Tweet, der in etwa lautet: Manche Menschen haben überhaupt keinen Musikgeschmack, und für solche Leute habe ich nun wirklich keine Zeit. Das ist schon ziemlich gemein. Aber üblicherweise geht es um viel ernstere Themen als Musik, nämlich um Politik oder Lebensstile oder Kindererziehung. Das tut viel mehr weh. Und es ist gar nicht so ungewöhnlich, dass vorher ein privater Kontakt stattgefunden hat, denn es braucht schon eine gewisse Fallhöhe, damit jemand eine Nonmention verfasst.

Natürlich gibt es harmlose Nonmentions. Liebeskummer hat schon sehr viele davon verfasst. Es wäre auch harmlos und nett, wenn Klaus sich weiter mit Beate unterhalten hätte, aber sein Tweet lautete: Da denkst du, du kennst einen Menschen allmählich, und dann outet der sich plötzlich als Coldplay-Fan. Nonmentions sind nicht prinzipiell unverschämt. Nur eben oft in der Ausführung. Außerdem ist ihr Publikum völlig unklar: Richtet sich das Posting an die Person, die dort beleidigt wird – wenn ja, warum kann man ihr das nicht einfach direkt mitteilen? Richtet es sich an alle Follower, von denen die meisten doch keine Ahnung haben, worum es überhaupt geht, und sich bestenfalls ausgeschlossen fühlen? Oder ist es nur etwas, das irgendwie raus muss? Da täte ein Selbstgespräch bessere Dienste als Social Media. Wer erwägt, aus Ärger eine Nonmention zu verfassen, sollte dringend sein Handy weglegen und mal um den Block laufen. Und wer eine Nonmention sieht, egal an wen sie gerichtet ist, sollte sie ignorieren. Man darf dieses Verhalten nicht mit Aufmerksamkeit belohnen – nicht mal mit negativer Aufmerksamkeit.

Das bringt uns zur zweiten Methode, andere Menschen anzugreifen: Snitchtagging. Wahrscheinlich gibt es einige Menschen, die sich gar nichts Böses denken, wenn sie es betreiben. Umso wichtiger ist Aufklärung. Auch hier ein Beispiel: Klaus hat einen Artikel verfasst. Drei Menschen, die ihn nicht näher kennen, unterhalten sich online über den Artikel und sind anderer Meinung, finden vielleicht sogar den Artikel schlecht und artikulieren das. Auftritt Beate, die sich in das Gespräch mischt mit den Worten: “Also ich lese die Artikel von @Klaus eigentlich immer gern!” 

Man kann über die Motivation dazu streiten. Womöglich will sie ihn verteidigen, ist aber nicht altruistisch genug, um das außerhalb seines Sichtfeldes zu machen. Womöglich geschieht es aus einem fehlgeleiteten Sinn für Fairness. Womöglich findet Beate aber auch, dass Klaus ruhig mal mitkriegen kann, dass seine Artikel nicht sonderlich geschätzt werden, damit er nicht zu selbstbewusst wird.

Das ist einer von zwei Effekten des Snitchtaggings: Die Person, um die es geht, bekommt mit, dass jemand schlecht über sie redet. Ist es fair ihr gegenüber, sie darauf aufmerksam zu machen? Für diese Einschätzung lohnt es sich oft, die Szene ins echte Leben zu übertragen. Es gibt also eine Party, eine sehr große Party, viele dort kennen einander nicht. In der Küche diskutieren drei Leute über Klaus’ Artikel. Beate hört das mit und brüllt in den Flur: “Klaus! Klaus, komm rüber, hier sagt jemand, du argumentierst wie ein Drittklässler!” 

Wahrscheinlich ist Klaus gerade in einem angenehmen Gespräch über französische Rotweine und will weder erfahren, was über ihn gesagt wurde, noch selbst mitdiskutieren. Aber jetzt hat er die Wahl nicht mehr: Alle wissen, dass er es jetzt weiß, also muss er irgendwie reagieren. Verteidigt er sich, wozu er nun wirklich nicht verpflichtet ist? Bittet er darum, aus der Konversation genommen zu werden? Ignoriert er den Thread? Egal, was Klaus tut, seine Laune ist schlechter als vorher.

Klaus ist natürlich nicht der einzig Betroffene hier. Die drei Diskutanten stehen ebenfalls blöd da. Und zwar zu Unrecht: In Abwesenheit über Menschen oder ihre Arbeit zu sprechen, sogar negativ, ist ein völlig normaler Vorgang. Deshalb ist es auch nicht angemessen, hier mit Fairness zu argumentieren. Das gilt natürlich nicht für Freunde. Aber wenn Klaus mit den Lästernden befreundet wäre, hätte Beate ihm besser eine private Nachricht geschickt und ihm damit selbst überlassen, ob er so tun möchte, als hätte er den Vorgang nicht mitbekommen. Beate wiederum verdirbt es sich mindestens mit denen, in deren Diskussion sie sich eingeschaltet hat. 

Beim Snitchtagging verlieren also alle Seiten. Das macht es so erstaunlich, dass Leute es weiterhin durchziehen. Man muss schon ausgesprochen tone deaf sein, um nicht zu merken, dass man die Stimmung aller ruiniert. Oder man macht das mit Absicht und gerne, weil man es liebt, wenn andere Menschen sich schlecht fühlen. Damit verdient man es sich redlich, großflächig geblockt zu werden. Ich selbst habe schon Snitchtagger auf Twitter geblockt, die gar nicht mich bloßgestellt haben, sondern andere Leute. Das kann ich sehr empfehlen. Im echten Leben würde man ja auch verstummen, wenn plötzlich die intriganteste Person des Bekanntenkreises neben einem steht, um ihr keine Munition zu geben. Das ist auf Social Media nicht anders.

Foto von charlesdeluvio auf Unsplash

Von Twitter zu Mastodon – Gedanken über Medienaneignungen

von Robert Heinze

Twitter ist ein schnelllebiges Medium. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass man dort die fünf Phasen der Trauer angesichts der Übernahme der Plattform durch Elon Musk innerhalb von sieben Tagen durchlief, teilweise gleichzeitig. Gut, die Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens dauerte eigentlich schon an, seit der Kauf von Twitter  im April das erste Mal angekündigt worden war. Im Frühjahr war es nur eine kleine gallische Vorhut, die sich vorsichtig in Richtung Mastodon bewegte. Nachdem „Apartheid Clyde“ (Azealia Banks über Musk) mit einem Waschbecken ins Twitter-Hauptquartier (als Spiel mit dem Pun „Let that sink in“) gelatscht war, wurde die Flucht von der Plattform zu einer Welle, die die Server vieler größerer Mastodon-Instanzen überlastete, ebenso wie ihre Administrator*innen. Eugen Rochko, Entwickler der Software, die Mastodon zugrunde liegt, und Administrator der größten Instanz mastodon.social, berichtete in seinem letzten Update von gut einer Million aktiver Nutzer*innen insgesamt im letzten Monat, einer halben Million neuer Nutzer*innen und dazu mehr als tausend neu aufgesetzten Servern.

Gleichzeitig entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit auf Twitter ein Metadiskurs, ob Mastodon wirklich eine Alternative zu Twitter sei, was daran gut (nicht vom Marsdiktator in spe kontrolliert), schlecht (von niemandem kontrolliert), ganz nett (Verhaltensregeln, Atmosphäre), unbrauchbar (Usability) sei. Diskutiert wird, ob man trotz Gewohnheit und der Follower*innen, die man zusammengetragen hat, wirklich die „Höllenseite“ (Twitter über Twitter) verlassen solle. Daneben gibt es Anleitungen, Bekundungen, dass man bloß nicht denken solle, Mastodon sei wie Twitter, freundliche Mahnungen, geduldig zu sein und etwas zu erkunden, und die üblichen Witze über den Cringe der neuen Plattform (Tweeten heißt beispielsweise auf Mastodon auf Englisch „Toot“, was im Alltag eher Furzen als Tröten bedeutet). 

Metadiskurse über Medien

Im Ernst: Als Medienhistoriker beobachtet man die Entwicklung gerade mit einer gewissen Faszination. Metadiskurse über Medien sind schließlich nichts Neues. Der Radiohistoriker Andy Kelleher Stuhl hat in einem Blogbeitrag auch schon eine historische Einordnung versucht. Der Metadiskurs reiht sich in eine lange Geschichte der Medienaneignung ein, die vor allem seit dem Aufkommen technologisch komplexerer Massenmedien nach Stuhls explorativem Modell in ziemlich ähnlicher Weise verläuft: Bei der Einführung eines neuen Mediums gibt es eine relativ offene Experimentierphase, in der noch unklar ist, welche soziotechnische Form es eigentlich annehmen wird. Diese stabilisiert sich irgendwann – ein Medium etabliert sich (z.B. als „Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk“ oder als Internet mit Standards wie TCP/IP-Protokollen, HTML als Programmiersprache für Websites und Institutionen, die sie durchsetzen und pflegen); dann automatisieren sich Prozesse und werden kapitalistisch verwertbar. 

Diese kapitalistische Verwertung höhlt sie irgendwann aus und verflacht die sinnhafte Ausdifferenzierung einzelner Kanäle, die ein Identifikationsangebot an Nutzer*innen machten. Darauf reagieren Nutzer*innen, indem sie sie zunehmend verlassen. Mit Verbreitung der Technologien und der „Protokolle“ (also Regelwerke) ihrer Nutzung werden aber auch die Möglichkeiten kreativer und neu konfigurierter Aneignung mehr, und das geringer werdende Interesse kapitalistischer Betreiber lässt den Medien wieder mehr Platz für explorative, experimentelle Nutzung. Am Beispiel des Web 2.0 wäre die Blogkultur ein Phänomen der frühen Phase, als noch relativ offen war, wie sich das interaktive Web entwickeln würde; die sozialen Medien sind ihre kapitalistische Weiterentwicklung, die jetzt in eine Stagnationsphase eintritt. 

Die aktuelle Beliebtheit von Mastodon wäre in diesem Modell die Reaktion auf diese Stagnation – Twitter zum Beispiel hatte bereits vor der Übernahme durch Musk Probleme. Dieses Entwicklungsszenario ist ein grobes Schema, und Stuhl gibt in seinem Blogbeitrag selbst zu, dass der experimentelle Strang vor allem in technisch relativ unaufwändigen Medien wie Radio und Internet immer da war und ist. Mastodon gibt es ja auch schon seit 2016, und es hat eine stabile, wenn auch kleine User*innenbase.

Mastodon ist dabei insofern weiterentwickelt, als es sehr bewusst so konstruiert wurde, dass bestimmte Dynamiken von Facebook oder Twitter unterlaufen werden. In seinem dezentralen und organisch entstehenden Ethos gleicht Mastodon früheren Alternativmedien, zum Beispiel den Freien Radios, die mehr auf Selbstermächtigung der Nutzenden zielten als auf Reichweite. Diese Selbstermächtigung, das zeigt eine Anekdote von Raul Zelik, konnte sogar über ihr üblicherweise offen erklärtes Ziel hinausgehen, marginalisierten Stimmen eine Öffentlichkeit zu verschaffen.

Medienproduktion als Medienkompetenztraining

In einer Favela in Caracas, so beschrieb es Zelik in einem Sammelband zur bolivarianischen Bewegung Anfang der 2000er in Venezuela, hatte sich im Zuge der Bewegung ein selbstorganisiertes Community-Radio gegründet. Sein Sender war nicht sehr stark und deckte nicht einmal die ganze Favela ab. Trotzdem arbeiteten viele aus der Favela im Radio mit. Es ging gar nicht darum, dass die Community ihr eigenes Medium hatte. Vielmehr stellte sich ein ganz anderer Effekt ein: Die im Radio arbeitenden Freiwilligen, die zum ersten Mal auf der anderen Seite der Medienproduktion – nämlich der redaktionellen, journalistischen und produzierenden – standen, begannen ihren eigenen Medienkonsum bewusster zu reflektieren. 

Die Beschäftigung mit und das Erlernen von Techniken der Informationsverarbeitung und -präsentation hatte ihnen viel bewusster gemacht, wie sehr die Medien, die sie konsumierten, ihre Weltsicht prägten. Sie hatten selbst das medial vermittelte Bild der Favela als Ort von Elend, Gewalt und Kriminalität internalisiert. Es war weniger die Bereitstellung alternativer Inhalte über ein populäres Medium als die eigene Arbeit daran, die den Effekt des Community Radios ausmachte.

Das hier Geschilderte ist kein einfacher Vorgang. Ich habe selbst in meiner Arbeit für Freie Radios erfahren, dass es etwas ganz anderes ist, sich auf einer akademischen Ebene mit Medien (-geschichte, -theorie usw.) zu befassen als in der Praxis zu arbeiten. Aktuell sehe ich in den Diskussionen um die „Migration“ von Twitter auf Mastodon, wie kompliziert der Vorgang eigentlich ist. Viele Twitteruser*innen bilden sich einiges auf ihre Medienkompetenz ein, denn sie sind in großer Zahl in Medien, der Akademie oder ähnlichen Bereichen tätig. Twittererfahrung und die besonders abgeklärte Beherrschung algorithmischer Dynamiken sind wichtige Distinktionsmerkmale auf der Plattform. 

Ich nehme mich da auch selbst gar nicht aus und musste schon ein paar Mal erkennen (nicht auf so spektakulär-virale Art wie Andere), dass ich selbst bei allem Bewusstsein über die algorithmischen Dynamiken von Twitter zu deren Opfer wurde. Umso erstaunlicher ist es, gerade dabei zuzuschauen, wie sich Veteran*innen von Twitter mühsam auf eine Plattform einstellen, die Twitter gerade ähnlich genug ist, dass man sein Medienerlebnis und seine Communities von dort übertragen will, aber gerade anders genug, dass sich dabei Reibungseffekte ergeben.

Mastodon und Twitter

Dabei besteht der Fehler schon darin, zu denken, Mastodon sei wie Twitter, nur unkommerziell. Mastodon ist auch nicht einfach ein „besseres“ oder „anderes“ Twitter, das auf bestimmte Aspekte von Twitter verzichtet und offen für Selbstverwaltung ist. Die Architektur von Twitter ist zu einem nicht geringen Teil bestimmt durch seine Funktion. Auf der Plattform sollen letztendlich möglichst viele Daten und ein möglichst großes Publikum gesammelt und gehalten werden. Das Ziel ist die Plattform profitabel zu machen, auch wenn Twitter dieses Ziel noch nie erreicht hat. Fällt dieses Ziel weg, ist die Form nicht nötig: Es braucht dann keine Strategien, um Nutzer*innen möglichst lange auf der Seite zu halten und die Plattform muss nicht um einen zentralen Algorithmus als Sortierfunktion gebaut werden, der diese Strategien ermöglicht bzw. geradezu erzwingt. 

Quote-Tweets, der Fokus auf Metriken in Form von Retweets und Likes, die ständigen Benachrichtigungen, an die wir uns gewöhnt haben, waren nicht von Beginn an Teil von Twitter, sondern wurden erst im Verlauf seiner Entwicklung hinzugefügt. Sie förderten nicht Gespräche, sondern Verbreitung und das Selbstmanagement von Verbreitung. Die Vorteile von Twitter – die Möglichkeit eines breiten Echoraums auch für marginalisierte Anliegen, die Möglichkeiten zum Aufbau und zur Pflege von Communities, die gegenseitige Kommunikation und Hilfe, der anarchische Witz – sind trotz und gegen diese zentrale Dynamik entstanden. Natürlich ist das Ziel bei Mastodon ein anderes. Aber Mastodon tut mehr: Indem es darauf verzichtet, die Beiträge der Timelines, Followempfehlungen und Hashtags algorithmisch nach Popularität zu sortieren, und eine föderierte, moderierte Struktur verschiedener Ebenen an Interaktion konstruiert, ermöglicht es seinen User*innen (zwingt sie aber auch), stärker selbst zu überlegen, wie, mit wem und über welche Inhalte sie miteinander interagieren wollen.

Open Source Traditionen

Mastodon reiht sich damit in eine Tradition des offenen, dezentralisierten Internets ein. Es wird oft (wegen der Art, wie Server miteinander kommunizieren) mit E-Mail verglichen, aber eigentlich kommt es eherden Blogs näher – zumal durch die höhere Zeichenanzahl der ursprünglich mal für Twitter gebrauchte Begriff „microblogging“ viel passender erscheint. Vor allem aber bringt mich Mastodon wie das kleine Radio in Caracas dazu, viel bewusster über meinen Gebrauch und Konsum von und mein eigenes Verhalten auf Twitter nachzudenken. Ich überlege genauer, wem ich folge und warum, in welche „Bubbles“ ich mich begebe, wenn ich mich auf bestimmten Instanzen anmelde. Selbst meine Kommunikation in den DMs ist eine ganz andere, weil ich mir viel bewusster darüber bin und es auf Mastodon auch klarer ausgesprochen wird, dass diese Gespräche nicht privat sind.

Das bedeutet auch: Arbeit. Wir müssen jetzt selbst miteinander absprechen, wie wir uns vernetzen; wir machen Listen, richten Gruppen ein, überlegen, auf welchen Instanzen wir uns anmelden, und wie, mit wem und über was wir kommunizieren. Das war auch auf Twitter immer schon Thema, aber lief dort häufig als eine Art konsequenzloser Nebendiskurs, während Likes, Retweets und „Ratios“ weiterhin selbstverständlich als Währung unserer Interaktionen anerkannt wurden. 

Ob dieses neue auf Mastodon geschaffene Bewusstsein Bestand hat, bleibt abzuwarten. Mastodon, mit seinen vielen einzelnen Admins, ist kein basisdemokratisches Medium. Sein Entwickler, Eugen Rochko behält weiterhin die Kontrolle und endgültige Entscheidungsmacht über neue Features – ein System, das in Open Source Kreisen als „Benevolent Dictator for Life“ (BDFL) beschrieben wird. Das führte bereits in der Vergangenheit zu viel Kritik. Den zentralen Konflikt, der innerhalb der Administratoren und Communities von Mastodon besteht, beschrieb die Journalistin Ana Valens schon 2019:

„One wants a community-driven government system to protect vulnerable users. The other believes only a BDFL can efficiently maintain Mastodon and promote its decentralized, open-source fediverse structure. Both are hopeful for Mastodon’s future, and yet, they represent diverging paths that Mastodon can take. […]Meanwhile, Mastodon’s users can’t even agree on how Mastodon should function, let alone whom it should serve. Figuring out an answer will decide Mastodon’s future—and whether its marginalized userbase has a place to call home.“

In diesen Konflikt kommt jetzt der Ansturm von Twitteruser*innen, die alle ihre Nutzungsgewohnheiten mitbringen. Das wird neue Probleme verursachen. Die Frage bleibt also, ob hier weiterhin eine technische Lösung für ein soziales Problem, nämlich wie wir uns und unsere Medien in einer kapitalistischen Gesellschaft eigentlich organisieren, gefunden werden soll.

Protokolle vs. Plattformen

Die aktuelle Begeisterung für „protocols over platforms„,  die auf die frühen Zeiten der Forenkultur des Usenet als Vorbild verweist, kann jedenfalls nur teilen, wer damals nicht die Kritik an der Organisation des Internets durch Protokolle verfolgte. Protokolle sind, abstrakt formuliert, Regelwerke, die das Verhalten der Teilnehmer an einem System festlegen – z.B. im Straßenverkehr, wo rote Ampeln, Stoppschilder usw. das Verhalten von Autofahrern bestimmen. Im Internet erhalten sie programmatischen Status: Protokolle wie TCP/IP und DNS regeln, wie Server untereinander kommunizieren und bestimmen so das physische Setup von Technologien bzw. „Hardware“. Alexander Galloway warnte bereits 2004, in Anschluß an Gilles Deleuze‘ bekannten Essay „Postscriptum über die Kontrollgesellschaften“, dass sich dadurch ganz neue, flexible und weniger transparenter Möglichkeiten der Kontrolle ergäben, die der Idee des Internet als „anarchischem“, „dezentralen“ und unkontrolliertem Ort entgegenstünden. Die Ironie des Internets sei, so Galloway, dass der gesamte web traffic, der eine anarchische und radikal horizontale Internetkultur ermöglicht, sich hierarchischen Strukturen in Form dominanter Protokolle wie TCP/IP und DNS unterwerfen müsse.

In Mastodon zu Zeiten der „Twittermigration“ stoßen also wieder einmal technische und soziale Organisation von Medien aufeinander. OpenSource heißt nämlich auch, dass zunächst einmal wirklich alle Zugang zur Software haben. Auch Rechtsextreme, wie beispielsweise die noch viel radikaler als Musk auf „free speech“ abzielende Plattform Gab und Trumps „TruthSocial“-Netzwerk, nutzen die Software – sind allerdings von praktisch allen anderen Instanzen „deföderiert“, also de facto geblockt und damit außerhalb des Netzwerks. Das deutet schon darauf hin, dass sich auf Mastodon durchaus auch Gedanken über die soziale Organisation des Mediums gemacht werden. Ein weiterer Beleg dafür sind die Anti-Harassment, antirassistischen, feministischen usw. Kommentarregeln, die sich die einzelnen Instanzen geben. Es wird sich zeigen, wie diese Reflexion der Nutzer*innen-Explosion standhält. 

Es ist außerdem fraglich, ob ein so arbeitsaufwendiges, von freiwilliger Arbeit und lokaler Infrastruktur abhängiges Medium global skalierbar ist. Bisher gibt es außerhalb der USA, Europa und Japan nur wenige Instanzen. Auch hier kann man auf Geschichten von Techies zurückgreifen, die z.B. in den 1980er Jahren in der Anti-Apartheid-Bewegung Masten und Sendegerät nach Südafrika brachten und dort halfen, diese aufzusetzen und zu betreiben; oder die GSM-Freaks, die heute noch helfen, im Ostkongo sichere Handynetzwerke aufzubauen. Zumindest befindet sich Mastodon in einer guten Tradition.

Foto von camilo jimenez

Social-Media-Benimmkolumne – Was soll das mit den Twitter Circles nun wieder?

von Franziska Reuter

Twitter hat ein neues Feature ausgerollt: Circles. Damit können Nutzer*innen bei ihren Tweets einen kleineren Personenkreis festlegen, der sie exklusiv sehen können soll. Dieses neue Feature hat weite Teile des Netzwerks in Aufregung versetzt, was für Außenstehende unter anderem deshalb schwer zu verstehen sein dürfte, weil Facebook schon seit mehr als zehn Jahren eine viel avanciertere Variante davon anbietet. Aber der Reihe nach: Wo ist das Problem? Und wozu das alles überhaupt?

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Bis zu 150 Menschen erlaubt Twitter in einem Circle. Dass die Tweets exklusiv sind, erkennt man sofort an einem grünen Zeichen und einem Texthinweis. Man muss nicht lange nachdenken, um auf sinnvolle Verwendungszwecke zu kommen: Wenn jemand etwa seine gesundheitlichen oder mentalen Probleme nur mit Vertrauten teilen möchte, wenn jemand über seinen Job schimpfen möchte, ohne dass der Arbeitgeber davon Wind bekommt, wenn jemand in einem Sorgerechtsstreit Unterstützung und Rat braucht – wirklich viele gute Gründe sprechen für die Nutzung dieses Features. 

Die Idee ist wie erwähnt nicht neu. Facebook bietet schon seit Ewigkeiten die Kategorien „Enge Freunde“, „Bekannte“ und „Eingeschränkt“ an und lässt Nutzer*innen weitere Gruppen selbst erstellen. Aber Facebook war auch schon immer ein soziales Höllenloch, das von privaten Details lebte und gleichzeitig dazu ermunterte, die Kontaktliste immer mehr zu erweitern. Als noch fast alle ihre Posts ausschließlich für „Freunde“ sichtbar gestellt hatten, ergab sich dadurch ein trügerisches Gefühl der Intimität.

Twitter hingegen lebt davon, dass die Nutzer*innen ihre Meinungen und Erlebnisse gar nicht laut genug in die Welt hinausschreien können. Privatheit ist eher nicht vorgesehen. Deshalb gibt es auf Twitter auch so kostbare Cringe-Momente – etwa wenn man jemandem gerade erst gefolgt ist und der plötzlich einen detaillierten Thread darüber absetzt, warum seine letzte Beziehung gescheitert ist. Das Circle-Feature stellt eine Abkehr von Twitters Cocktailparty-Prinzip dar, bei dem die Gäste durcheinander reden, mit Fremden ins Gespräch kommen und irgendwie alles von allen mitbekommen. So erklären sich auch die Nöte, in die manche Nutzer*innen nun gestürzt wurden. Zuvorderst: FOMO, fear of missing out. Was bekomme ich nun nicht mehr mit, ohne davon auch nur zu ahnen? Nutzt diese Person Circle einfach nur nicht oder gehöre ich nicht dazu?

Aber es stellen sich eben auch Fragen der Höflichkeit. Wenn mich jemand in seinen Circle aufnimmt, muss ich das dann umgekehrt auch tun? Kann ich jemandem sagen, dass ich nicht in seinem Circle sein möchte, weil mir das alles zu privat ist und wir uns so gut nun auch nicht kennen? Darf ich meine engeren Freund*innen fragen, ob sie das Feature nutzen, und dann nervös durch ihre Profile scrollen und schauen, ob ich ihre Circle-Tweets sehen kann?

Einfache Antworten gibt es auf diese Fragen nicht, komplizierte aber schon. Zu ersten Frage: Wenn wir davon ausgehen, dass ein Circle wirklich so etwas ist wie ein Freundeskreis, dann wissen die Personen, die darin sind, im Idealfall von dieser Freundschaft und empfinden sie ebenso. Darf man das Gegenüber dann ausschließen? Wir alle kennen Menschen, die nie etwas Persönliches von sich erzählen, sich aber gerne von anderen mit privaten Geschichten unterhalten lassen. Das finden ihre Gesprächspartner*innen auf Dauer meist unangenehm. Wenn man sieht, dass man bei jemandem im Circle gelandet ist, sollte man also zumindest in Erwägung ziehen, die Person auch in den eigenen aufzunehmen. Ein Vertrauensvorschuss von einer Seite bringt ja manchmal die schönsten Freundschaften hervor.

Der zweite Punkt, Oversharing im Circle, ist besonders knifflig. Es gibt wie immer die friedvolle Lösung, die Person einfach stumm zu schalten. Aber dann entgehen einem alle ihre Tweets. Den Kontakt weiter zu pflegen wird dadurch fast unmöglich. Deshalb ist es keine schlechte Option, anzusprechen, dass einem die Circle-Tweets zu intim sind. Der Inhalt der Tweets spielt hier eine große Rolle. Bei allem, was nach landläufiger Auffassung eine Triggerwarnung bräuchte, würde ich sogar dringend dazu raten, es zu artikulieren. Wir überfallen auch unsere Bekannten nicht mit Horrorgeschichten, bei denen wir keine Ahnung haben, ob sie alte Wunden aufreißen. Und so verständlich es ist, dass jemand etwa nach dem Tod von Angehörigen Trost auf Twitter sucht, so sehr braucht es den Konsens aller Beteiligten, mehrmals täglich mit medizinischen Details und Trauer konfrontiert zu werden. Vor allem, da sie einen beim Scrollen durch die Timeline völlig unvorbereitet treffen können.

Kommen wir zur dritten Frage: Darf ich auffällig-unauffällig recherchieren, ob meine engen Freund*innen mich womöglich nicht in ihren Circle aufgenommen haben? Ja, selbstverständlich darfst du das, aber bitte tu es trotzdem auf keinen Fall. Du rufst auch nicht deine Freund*innen zum Geburtstag an und fragst, ob sie wirklich nicht feiern oder dich nur nicht eingeladen haben. Freundschaften sollten nicht von der Angst geprägt sein, ausgeschlossen zu werden, und wenn sie das aus guten Gründen doch sind, ist es Zeit für ein ernstes Gespräch, in dem die Worte Twitter und Circle nicht vorzukommen brauchen. Wenn es sich hingegen nur um anlasslose Unsicherheit handelt, sollte man ihr nicht so viel Raum geben, sondern lieber mal wieder ein Treffen, ein Telefonat oder einen längeren Chat initiieren. Im Zweifelsfall fühlt man sich der Person danach deutlich näher, als ein Twitter Circle das jemals schaffen könnte.

Eine vierte Frage stellen sich vielleicht gerade nicht so viele, aber sie ist ausgesprochen wichtig: Was soll das überhaupt, was macht Twitter da? Zum einen scheint die Plattform endlich begriffen zu haben, dass ihre Nutzer*innen sich mehr Schutz wünschen. Noch vor ein paar Jahren wurde sogar strafrechtlich relevantes Verhalten auf Twitter kaum verfolgt, weil das Unternehmen die Ermittlungen nicht unterstützte. Dann kamen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz und mit ihm auch bessere Möglichkeiten, sich gegen Hassnachrichten zur Wehr zu setzen. Nur möchte man sich nicht immer zur Wehr setzen müssen. In der Hinsicht ist das neue Feature eine gute Sache für die Nutzer*innen.

Twitter selbst könnte jedoch auch tiefer liegende Interessen haben. Die Übernahme der Plattform durch Elon Musk wurde abgesagt, angeblich weil die Zahl der Nutzer*innenkonten und die Zahl der wahren Nutzer*innen zu weit auseinander lägen. Nun gibt es etliche Gründe, warum eine Nutzer*in mehrere Accounts haben könnte. Die meisten davon sind vollkommen ehrenwert und haben mit politischer Hetze oder Shitposting nichts zu tun. Viele Menschen unterhalten neben ihren Hauptaccounts kleine Dark Accounts, die mit einem Schloss versehen sind und nur eigens bestätigte Follower*innen aufnehmen. Ein solcher Dark Account ist nicht mehr nötig, wenn man den Circle einrichtet. Das bedeutet, Twitter könnte mit der Zeit mehr Überblick über die Anzahl seiner Nutzer*innen gewinnen. Gleichzeit erhöht es das Risiko für die Nutzer*innen im Fall eines Datenlecks: Die heiklen Tweets wären zweifelsfrei zuzuordnen. Ob das nur leicht peinlich wäre oder existenzbedrohend, und ob man der Datensicherheit genug vertraut, um das Risiko einzugehen, muss jede selbst entscheiden.

Foto von Wilhelm Gunkel auf Unsplash

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