Autor: Robert Heinze

Von Twitter zu Mastodon – Gedanken über Medienaneignungen

von Robert Heinze

Twitter ist ein schnelllebiges Medium. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass man dort die fünf Phasen der Trauer angesichts der Übernahme der Plattform durch Elon Musk innerhalb von sieben Tagen durchlief, teilweise gleichzeitig. Gut, die Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens dauerte eigentlich schon an, seit der Kauf von Twitter  im April das erste Mal angekündigt worden war. Im Frühjahr war es nur eine kleine gallische Vorhut, die sich vorsichtig in Richtung Mastodon bewegte. Nachdem „Apartheid Clyde“ (Azealia Banks über Musk) mit einem Waschbecken ins Twitter-Hauptquartier (als Spiel mit dem Pun „Let that sink in“) gelatscht war, wurde die Flucht von der Plattform zu einer Welle, die die Server vieler größerer Mastodon-Instanzen überlastete, ebenso wie ihre Administrator*innen. Eugen Rochko, Entwickler der Software, die Mastodon zugrunde liegt, und Administrator der größten Instanz mastodon.social, berichtete in seinem letzten Update von gut einer Million aktiver Nutzer*innen insgesamt im letzten Monat, einer halben Million neuer Nutzer*innen und dazu mehr als tausend neu aufgesetzten Servern.

Gleichzeitig entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit auf Twitter ein Metadiskurs, ob Mastodon wirklich eine Alternative zu Twitter sei, was daran gut (nicht vom Marsdiktator in spe kontrolliert), schlecht (von niemandem kontrolliert), ganz nett (Verhaltensregeln, Atmosphäre), unbrauchbar (Usability) sei. Diskutiert wird, ob man trotz Gewohnheit und der Follower*innen, die man zusammengetragen hat, wirklich die „Höllenseite“ (Twitter über Twitter) verlassen solle. Daneben gibt es Anleitungen, Bekundungen, dass man bloß nicht denken solle, Mastodon sei wie Twitter, freundliche Mahnungen, geduldig zu sein und etwas zu erkunden, und die üblichen Witze über den Cringe der neuen Plattform (Tweeten heißt beispielsweise auf Mastodon auf Englisch „Toot“, was im Alltag eher Furzen als Tröten bedeutet). 

Metadiskurse über Medien

Im Ernst: Als Medienhistoriker beobachtet man die Entwicklung gerade mit einer gewissen Faszination. Metadiskurse über Medien sind schließlich nichts Neues. Der Radiohistoriker Andy Kelleher Stuhl hat in einem Blogbeitrag auch schon eine historische Einordnung versucht. Der Metadiskurs reiht sich in eine lange Geschichte der Medienaneignung ein, die vor allem seit dem Aufkommen technologisch komplexerer Massenmedien nach Stuhls explorativem Modell in ziemlich ähnlicher Weise verläuft: Bei der Einführung eines neuen Mediums gibt es eine relativ offene Experimentierphase, in der noch unklar ist, welche soziotechnische Form es eigentlich annehmen wird. Diese stabilisiert sich irgendwann – ein Medium etabliert sich (z.B. als „Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk“ oder als Internet mit Standards wie TCP/IP-Protokollen, HTML als Programmiersprache für Websites und Institutionen, die sie durchsetzen und pflegen); dann automatisieren sich Prozesse und werden kapitalistisch verwertbar. 

Diese kapitalistische Verwertung höhlt sie irgendwann aus und verflacht die sinnhafte Ausdifferenzierung einzelner Kanäle, die ein Identifikationsangebot an Nutzer*innen machten. Darauf reagieren Nutzer*innen, indem sie sie zunehmend verlassen. Mit Verbreitung der Technologien und der „Protokolle“ (also Regelwerke) ihrer Nutzung werden aber auch die Möglichkeiten kreativer und neu konfigurierter Aneignung mehr, und das geringer werdende Interesse kapitalistischer Betreiber lässt den Medien wieder mehr Platz für explorative, experimentelle Nutzung. Am Beispiel des Web 2.0 wäre die Blogkultur ein Phänomen der frühen Phase, als noch relativ offen war, wie sich das interaktive Web entwickeln würde; die sozialen Medien sind ihre kapitalistische Weiterentwicklung, die jetzt in eine Stagnationsphase eintritt. 

Die aktuelle Beliebtheit von Mastodon wäre in diesem Modell die Reaktion auf diese Stagnation – Twitter zum Beispiel hatte bereits vor der Übernahme durch Musk Probleme. Dieses Entwicklungsszenario ist ein grobes Schema, und Stuhl gibt in seinem Blogbeitrag selbst zu, dass der experimentelle Strang vor allem in technisch relativ unaufwändigen Medien wie Radio und Internet immer da war und ist. Mastodon gibt es ja auch schon seit 2016, und es hat eine stabile, wenn auch kleine User*innenbase.

Mastodon ist dabei insofern weiterentwickelt, als es sehr bewusst so konstruiert wurde, dass bestimmte Dynamiken von Facebook oder Twitter unterlaufen werden. In seinem dezentralen und organisch entstehenden Ethos gleicht Mastodon früheren Alternativmedien, zum Beispiel den Freien Radios, die mehr auf Selbstermächtigung der Nutzenden zielten als auf Reichweite. Diese Selbstermächtigung, das zeigt eine Anekdote von Raul Zelik, konnte sogar über ihr üblicherweise offen erklärtes Ziel hinausgehen, marginalisierten Stimmen eine Öffentlichkeit zu verschaffen.

Medienproduktion als Medienkompetenztraining

In einer Favela in Caracas, so beschrieb es Zelik in einem Sammelband zur bolivarianischen Bewegung Anfang der 2000er in Venezuela, hatte sich im Zuge der Bewegung ein selbstorganisiertes Community-Radio gegründet. Sein Sender war nicht sehr stark und deckte nicht einmal die ganze Favela ab. Trotzdem arbeiteten viele aus der Favela im Radio mit. Es ging gar nicht darum, dass die Community ihr eigenes Medium hatte. Vielmehr stellte sich ein ganz anderer Effekt ein: Die im Radio arbeitenden Freiwilligen, die zum ersten Mal auf der anderen Seite der Medienproduktion – nämlich der redaktionellen, journalistischen und produzierenden – standen, begannen ihren eigenen Medienkonsum bewusster zu reflektieren. 

Die Beschäftigung mit und das Erlernen von Techniken der Informationsverarbeitung und -präsentation hatte ihnen viel bewusster gemacht, wie sehr die Medien, die sie konsumierten, ihre Weltsicht prägten. Sie hatten selbst das medial vermittelte Bild der Favela als Ort von Elend, Gewalt und Kriminalität internalisiert. Es war weniger die Bereitstellung alternativer Inhalte über ein populäres Medium als die eigene Arbeit daran, die den Effekt des Community Radios ausmachte.

Das hier Geschilderte ist kein einfacher Vorgang. Ich habe selbst in meiner Arbeit für Freie Radios erfahren, dass es etwas ganz anderes ist, sich auf einer akademischen Ebene mit Medien (-geschichte, -theorie usw.) zu befassen als in der Praxis zu arbeiten. Aktuell sehe ich in den Diskussionen um die „Migration“ von Twitter auf Mastodon, wie kompliziert der Vorgang eigentlich ist. Viele Twitteruser*innen bilden sich einiges auf ihre Medienkompetenz ein, denn sie sind in großer Zahl in Medien, der Akademie oder ähnlichen Bereichen tätig. Twittererfahrung und die besonders abgeklärte Beherrschung algorithmischer Dynamiken sind wichtige Distinktionsmerkmale auf der Plattform. 

Ich nehme mich da auch selbst gar nicht aus und musste schon ein paar Mal erkennen (nicht auf so spektakulär-virale Art wie Andere), dass ich selbst bei allem Bewusstsein über die algorithmischen Dynamiken von Twitter zu deren Opfer wurde. Umso erstaunlicher ist es, gerade dabei zuzuschauen, wie sich Veteran*innen von Twitter mühsam auf eine Plattform einstellen, die Twitter gerade ähnlich genug ist, dass man sein Medienerlebnis und seine Communities von dort übertragen will, aber gerade anders genug, dass sich dabei Reibungseffekte ergeben.

Mastodon und Twitter

Dabei besteht der Fehler schon darin, zu denken, Mastodon sei wie Twitter, nur unkommerziell. Mastodon ist auch nicht einfach ein „besseres“ oder „anderes“ Twitter, das auf bestimmte Aspekte von Twitter verzichtet und offen für Selbstverwaltung ist. Die Architektur von Twitter ist zu einem nicht geringen Teil bestimmt durch seine Funktion. Auf der Plattform sollen letztendlich möglichst viele Daten und ein möglichst großes Publikum gesammelt und gehalten werden. Das Ziel ist die Plattform profitabel zu machen, auch wenn Twitter dieses Ziel noch nie erreicht hat. Fällt dieses Ziel weg, ist die Form nicht nötig: Es braucht dann keine Strategien, um Nutzer*innen möglichst lange auf der Seite zu halten und die Plattform muss nicht um einen zentralen Algorithmus als Sortierfunktion gebaut werden, der diese Strategien ermöglicht bzw. geradezu erzwingt. 

Quote-Tweets, der Fokus auf Metriken in Form von Retweets und Likes, die ständigen Benachrichtigungen, an die wir uns gewöhnt haben, waren nicht von Beginn an Teil von Twitter, sondern wurden erst im Verlauf seiner Entwicklung hinzugefügt. Sie förderten nicht Gespräche, sondern Verbreitung und das Selbstmanagement von Verbreitung. Die Vorteile von Twitter – die Möglichkeit eines breiten Echoraums auch für marginalisierte Anliegen, die Möglichkeiten zum Aufbau und zur Pflege von Communities, die gegenseitige Kommunikation und Hilfe, der anarchische Witz – sind trotz und gegen diese zentrale Dynamik entstanden. Natürlich ist das Ziel bei Mastodon ein anderes. Aber Mastodon tut mehr: Indem es darauf verzichtet, die Beiträge der Timelines, Followempfehlungen und Hashtags algorithmisch nach Popularität zu sortieren, und eine föderierte, moderierte Struktur verschiedener Ebenen an Interaktion konstruiert, ermöglicht es seinen User*innen (zwingt sie aber auch), stärker selbst zu überlegen, wie, mit wem und über welche Inhalte sie miteinander interagieren wollen.

Open Source Traditionen

Mastodon reiht sich damit in eine Tradition des offenen, dezentralisierten Internets ein. Es wird oft (wegen der Art, wie Server miteinander kommunizieren) mit E-Mail verglichen, aber eigentlich kommt es eherden Blogs näher – zumal durch die höhere Zeichenanzahl der ursprünglich mal für Twitter gebrauchte Begriff „microblogging“ viel passender erscheint. Vor allem aber bringt mich Mastodon wie das kleine Radio in Caracas dazu, viel bewusster über meinen Gebrauch und Konsum von und mein eigenes Verhalten auf Twitter nachzudenken. Ich überlege genauer, wem ich folge und warum, in welche „Bubbles“ ich mich begebe, wenn ich mich auf bestimmten Instanzen anmelde. Selbst meine Kommunikation in den DMs ist eine ganz andere, weil ich mir viel bewusster darüber bin und es auf Mastodon auch klarer ausgesprochen wird, dass diese Gespräche nicht privat sind.

Das bedeutet auch: Arbeit. Wir müssen jetzt selbst miteinander absprechen, wie wir uns vernetzen; wir machen Listen, richten Gruppen ein, überlegen, auf welchen Instanzen wir uns anmelden, und wie, mit wem und über was wir kommunizieren. Das war auch auf Twitter immer schon Thema, aber lief dort häufig als eine Art konsequenzloser Nebendiskurs, während Likes, Retweets und „Ratios“ weiterhin selbstverständlich als Währung unserer Interaktionen anerkannt wurden. 

Ob dieses neue auf Mastodon geschaffene Bewusstsein Bestand hat, bleibt abzuwarten. Mastodon, mit seinen vielen einzelnen Admins, ist kein basisdemokratisches Medium. Sein Entwickler, Eugen Rochko behält weiterhin die Kontrolle und endgültige Entscheidungsmacht über neue Features – ein System, das in Open Source Kreisen als „Benevolent Dictator for Life“ (BDFL) beschrieben wird. Das führte bereits in der Vergangenheit zu viel Kritik. Den zentralen Konflikt, der innerhalb der Administratoren und Communities von Mastodon besteht, beschrieb die Journalistin Ana Valens schon 2019:

„One wants a community-driven government system to protect vulnerable users. The other believes only a BDFL can efficiently maintain Mastodon and promote its decentralized, open-source fediverse structure. Both are hopeful for Mastodon’s future, and yet, they represent diverging paths that Mastodon can take. […]Meanwhile, Mastodon’s users can’t even agree on how Mastodon should function, let alone whom it should serve. Figuring out an answer will decide Mastodon’s future—and whether its marginalized userbase has a place to call home.“

In diesen Konflikt kommt jetzt der Ansturm von Twitteruser*innen, die alle ihre Nutzungsgewohnheiten mitbringen. Das wird neue Probleme verursachen. Die Frage bleibt also, ob hier weiterhin eine technische Lösung für ein soziales Problem, nämlich wie wir uns und unsere Medien in einer kapitalistischen Gesellschaft eigentlich organisieren, gefunden werden soll.

Protokolle vs. Plattformen

Die aktuelle Begeisterung für „protocols over platforms„,  die auf die frühen Zeiten der Forenkultur des Usenet als Vorbild verweist, kann jedenfalls nur teilen, wer damals nicht die Kritik an der Organisation des Internets durch Protokolle verfolgte. Protokolle sind, abstrakt formuliert, Regelwerke, die das Verhalten der Teilnehmer an einem System festlegen – z.B. im Straßenverkehr, wo rote Ampeln, Stoppschilder usw. das Verhalten von Autofahrern bestimmen. Im Internet erhalten sie programmatischen Status: Protokolle wie TCP/IP und DNS regeln, wie Server untereinander kommunizieren und bestimmen so das physische Setup von Technologien bzw. „Hardware“. Alexander Galloway warnte bereits 2004, in Anschluß an Gilles Deleuze‘ bekannten Essay „Postscriptum über die Kontrollgesellschaften“, dass sich dadurch ganz neue, flexible und weniger transparenter Möglichkeiten der Kontrolle ergäben, die der Idee des Internet als „anarchischem“, „dezentralen“ und unkontrolliertem Ort entgegenstünden. Die Ironie des Internets sei, so Galloway, dass der gesamte web traffic, der eine anarchische und radikal horizontale Internetkultur ermöglicht, sich hierarchischen Strukturen in Form dominanter Protokolle wie TCP/IP und DNS unterwerfen müsse.

In Mastodon zu Zeiten der „Twittermigration“ stoßen also wieder einmal technische und soziale Organisation von Medien aufeinander. OpenSource heißt nämlich auch, dass zunächst einmal wirklich alle Zugang zur Software haben. Auch Rechtsextreme, wie beispielsweise die noch viel radikaler als Musk auf „free speech“ abzielende Plattform Gab und Trumps „TruthSocial“-Netzwerk, nutzen die Software – sind allerdings von praktisch allen anderen Instanzen „deföderiert“, also de facto geblockt und damit außerhalb des Netzwerks. Das deutet schon darauf hin, dass sich auf Mastodon durchaus auch Gedanken über die soziale Organisation des Mediums gemacht werden. Ein weiterer Beleg dafür sind die Anti-Harassment, antirassistischen, feministischen usw. Kommentarregeln, die sich die einzelnen Instanzen geben. Es wird sich zeigen, wie diese Reflexion der Nutzer*innen-Explosion standhält. 

Es ist außerdem fraglich, ob ein so arbeitsaufwendiges, von freiwilliger Arbeit und lokaler Infrastruktur abhängiges Medium global skalierbar ist. Bisher gibt es außerhalb der USA, Europa und Japan nur wenige Instanzen. Auch hier kann man auf Geschichten von Techies zurückgreifen, die z.B. in den 1980er Jahren in der Anti-Apartheid-Bewegung Masten und Sendegerät nach Südafrika brachten und dort halfen, diese aufzusetzen und zu betreiben; oder die GSM-Freaks, die heute noch helfen, im Ostkongo sichere Handynetzwerke aufzubauen. Zumindest befindet sich Mastodon in einer guten Tradition.

Foto von camilo jimenez

True Crime als Gesellschaftsanalyse – Stuart Hall und der Trojan Horse Skandal

von Robert Heinze

Ich habe ein eher gespaltenes Verhältnis zu Serial. Ein True Crime-Podcast aus dem Umfeld der berühmten NPR-Radiosendung This American Life, der Fixpunkt des liberalen Medienkonsums in den USA. Der Podcast schien mir immer zwei schlechte journalistische Traditionen miteinander zu verbinden, nämlich die inhaltsleer-investigative Suche nach einer Täterperson mit einer Erzähltechnik, die politische Themen auf individuelle Erfahrungen herunterbricht und ganz auf die „Story“ fokussiert. Eine Erzählweise, die sich darauf verlässt, dass diese Story aus sich selbst heraus weitergehende Erkenntnisse hervorbringt.

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Das Lehrstück vom Klubhaus – Brecht und der Verfremdungseffekt sozialer Medien

von Robert Heinze

 

Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen, dienen die Vorschläge, welche doch nur eine natürliche Konsequenz der technischen Entwicklung bilden, der Propagierung und Formung dieser anderen Ordnung.
(Bertolt Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, 1932)

 

The whole internet loves Milkshake Duck, a lovely duck that drinks milkshakes! *5 seconds later* We regret to inform you the duck is racist
@pixelatedboat, 12.6.2016

 

Bertolt Brechts kurze Rede über den „Rundfunk als Kommunikationsapparat“, 1932 verfasst, ist bis heute einer der klassischen Texte der Medientheorie. Darin problematisiert er das Radio als “distributives” Medium, in dem ein Sender viele Empfänger anspricht, und fordert, den Empfänger zum Sender und damit den Rundfunk zum Kommunikationsapparat zu machen, der die Masse sprechen lässt. Mit der Frage des Verhältnisses von Produzent*innen und Konsument*innen und der Frage nach dem emanzipatorischen Gehalt moderner Massenmedien, weist Brecht sowohl auf ein Grundproblem der Medienwissenschaft, als auch auf eines der Medientheorie hin. Die “Social Audio”-App Clubhouse scheint rein technisch die Erfüllung von Brechts Forderung: jede*r kann mitdiskutieren, alle sind verschaltet und reden. Trotzdem stellte sich schon eine Woche nach dem Deutschlandstart die Erkenntnis ein, die Brecht erst neun Jahre nach der Einführung des Radios formulierte: „Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen.“ [1]

Clubhouse, Mitte Januar die meist heruntergeladene App auf iOS, ermöglicht “Drop-In-Audio-Chats”: einmal eingeladen, können sich Teilnehmer*innen in “Räume” begeben, in denen zu vorher festgelegten Themen Diskussionen stattfinden. Während prominente Stimmen die “Sprecherbühnen” bilden, können alle Teilnehmer*innen auf Signal vom Moderator am Chat beteiligt werden. Da Zugang zur App nur mittels Einladung möglich ist, aber zur Einführung Einladungen an Influencer*innen, Journalist*innen und Politiker*innen gingen, war der hype quasi vorprogrammiert. Prompt setzte auch eine begeisterte Berichterstattung ein: ein “neuer Diskursraum” sei Clubhouse, der “viele Chancen für von Diskriminierung betroffene Menschen biete.” Schnell kam auch die These auf, Clubhouse ermögliche tatsächlich die in der “Radiotheorie” beschriebene hierarchiefreie Kommunikation aller mit allen.

Eine solche vollkommen affirmative Lesart von Brecht führte in den Medienwissenschaften schon in den 2000er Jahren zum hype ums Internet als Erfüllung seiner Idee: Jede*r könne jetzt Sender und Empfänger sein – „ein ungeheures Kanalsystem“, so die geradezu prophetisch klingende Forderung Brechts, in dem die Rezipient*innen nicht isoliert einer einzelnen Stimme lauschen würden, sondern selbst ihre Stimme gewännen: „prosumer“ also, Produzent*innen und Konsument*innen gleichzeitig. Die partizipativen Möglichkeiten schienen endlos. Zuerst hieß es, Blogs würden die Medienlandschaft revolutionieren und citizen journalists hervorbringen; nach dem Abflauen dieses hypes sollten plötzlich die vermeintlichen facebook revolutions in Ägypten, Tunesien, Iran oder der Ukraine das revolutionäre Potential des „Web 2.0“ im Real Life zeigen.

Dieser angeblich revolutionäre Charakter immer neuer Infrastruktur, Software und/oder Algorithmen ist längst Teil der Ideologie (und Marketingstrategien) monopolkapitalistischer Tech-Giganten in Silicon Valley, wie  erst vor kurzem der Literaturwissenschaftler Adrian Daub ausführte. [2] Ungeachtet dessen verkünden Ausstellungen und Theaterregisseure immer noch, dass Brecht „es feiern würde, wie wir heute in Kommunikation treten können.“ Gleichzeitig hat die Enttäuschung dieser Versprechen, die Erschöpfung angesichts immer neuer hype cycles zu einer abgeklärten Haltung geführt, mit der sich inmitten der Euphorie um Clubhouse die ZEIT schon müde in Richtung Brecht absicherte, die App sei die Erfüllung seiner Radiotheorie, „bloß als Networkingevent. Motto: Labern und labern lassen.“

Was all diese Interpretationen Brechts verbindet, ist, dass sie ausgerechnet ihn als einen rein mit technologischen Aspekten von Medien beschäftigten Theoretiker lesen, der der Technik selbst revolutionäres Potential zuschreibe, anstatt sich zu fragen, in welche gesellschaftlichen Zustände Medien eingebettet sind und wie diese Zustände Form und Inhalt der Medien bestimmen. Der entscheidende Schlusssatz seiner Rede weist schon darauf hin: „Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen…“ Gerade die in den fürs Radio geschriebenen „Lehrstücken“ im Vordergrund stehende Frage nach dem Verhältnis des Individuums zum Kollektiv und dem von Technik und Gesellschaft zeigt, dass Brecht sich keineswegs nur damit aufhielt, wie die Technik umzuorganisieren sei, um das Radio einem revolutionären Gebrauch zuzuführen. Die Rede vom „Rundfunk als Kommunikationsapparat“, geschrieben nach der Erfahrung des Scheiterns mit den Lehrstücken “Der Lindberghflug” und “Badener Lehrstück vom Einverständnis” und im Jahr der Rundfunkreform 1932, die das Weimarer Radio endgültig zentralisierte und verstaatlichte, ist bereits Ausdruck seiner Desillusionierung mit dem Medium und antizipiert darin auch die heutige Enttäuschung der an das Web 2.0 geknüpften Medienutopien nach dessen Monopolisierung. Darin griff Brecht auch Forderungen der Arbeiter-Radio-Klubs auf, die sich früh nach Einführung des Radios gebildet, aber radikalisiert hatten, und jetzt, statt Teilhabe der Arbeiter*innen am Radio zu fordern, auf „Demaskierung des Rundfunks als Instrument zur Absicherung von Herrschaft“ [3] setzten: „[E]s ist keineswegs unsere Aufgabe, die ideologischen Institute auf der Basis der gegebenen Gesellschaftsordnung durch Neuerungen zu erneuern, sondern durch unsere Neuerungen haben wir sie zur Aufgabe ihrer Basis zu bewegen.“ [4]

Die Freien Radios der 1970er und 80er Jahre traten noch einmal im Kleinen den Beweis an, dass und wie eine gesellschaftliche Um- und Selbstorganisation einen wesentlichen Beitrag dazu leisten kann, das Radio zum emanzipatorischen „Kommunikationsapparat“ und die Hörer zu selbstbestimmten Produzent*innen statt einfach geschickter kapitalistisch manipulierter „prosumern“ zu machen. Die Atemlosigkeit und unreflektierte Geschwätzigkeit einer App wie Clubhouse steht der aktiv teilnehmenden kritischen Reflexion, die Brechts episches Theater in der Zuschauer*in hervorbringen will, und die auch hinter seiner Vorstellung vom Radio als Kommunikationsapparat steht, jedenfalls diametral entgegen – mal ganz abgesehen vom kalkuliert elitären Rollout der App oder ihrer Datensaugerei.

Ironischerweise ist es genau der (noch) elitäre Charakter des sozialen Netzwerkes Clubhouse und seiner pseudo-intimen, aber trotz Zugangsbeschränkung natürlich öffentlichen Kommunikation in „Räumen“, der in Kombination mit der weiteren Öffentlichkeit aus (sozialen) Medien Verfremdungseffekte produziert, die Brechts Idee vom Theater als Instrument der Aufklärung vielleicht näher stehen als der vom „ungeheuren Kanalsystem“ der Kommunikation. Die Drohung in den AGB der App, Teilnehmer*innen dürften bei Strafe der Sperrung ihres Accounts keine Sprechenden aufnehmen, hat erwartungsgemäß nichts bewirkt. Innerhalb von einer Woche nach Beginn des Hypes lösten leaks einige peinliche Skandale um prominente Politiker aus.

Effektiver im Sinne des Brecht’schen Verfremdungseffekts dürften die vielen Tweets aus dem journalistischen Alltag auf Clubhouse sein, die die Beteiligten, wie es Johannes Grunert formulierte, „echt nicht gut aussehen“ lassen. Plötzlich können auch Nichtjournalist*innen die Mechanismen bürgerlicher Massenmedien im Internetzeitalter live verfolgen: ein Journalismus, der seine eigenen Prinzipien von Transparenz und Distanz, seine Rolle als „vierte Gewalt“ so offen für Exklusivität und Access aufgibt, wurde plötzlich selbst zum Objekt der Kritik, seine ideologischen Grundlagen hinterfragt. Die Gleichzeitigkeit von „Hinterzimmer“-Charakter und Öffentlichkeit, die Clubhouse in Verbindung mit Twitter und anderen Medien erzeugt, legt unfreiwillig offen, wie sozial nah und inhaltlich unkritisch viele Journalisten gegenüber dem Objekt ihrer Berichterstattung auftreten, wie wenig Schwierigkeiten sie selbst mit der Anwesenheit rechtsextremer Aktivist*innen in den doch angeblich so geschützten Räumen haben, und wie oberflächlich sie über die Funktionsweise von Medien, Politik und die eigene Rolle darin nachdenken. Auf entsprechende Kritik reagierten einige Journalist*innen empört – nicht über die kritisierten Sachverhalte, sondern darüber, dass Aufnahmen aus den als exklusiv und “geschützt” wahrgenommenen “Räumen” der App durchgestochen worden waren. Dass sich bereits in kurzer Zeit solche Risse im (Selbst-)bild des Journalismus als „vierte Gewalt“ offenbarten, zeigt die Uneinsichtigkeit und die hartnäckige Weigerung von Menschen, die hauptberuflich in Öffentlichkeiten unterwegs sind, sich dem Kontrollverlust zu stellen, den die sozialen Medien für sie mit sich bringen.

Es wird mit Clubhouse offensichtlich, wie sehr Habitus, Millieuzugehörigkeit und Elitendünkel die Arbeit prominenter und einflussreicher Journalist*innen beeinflussen, so dass zumindest ein wesentlicher Teil der Journalist*innen großer, diskursbestimmender Medien einfach als organische Intellektuelle für hegemoniale Zustände fungieren. Der Effekt ähnelt dem, was Brecht in Anspielung auf sein Konzept der “Verfremdung” im Theater in einem früheren Text zum Radio schrieb: „Nachkommende Geschlechter hätten dann die Gelegenheit, staunend zu sehen, wie hier eine Kaste [= die Bourgeoisie, RH] dadurch, dass sie es ermöglichte, das, was sie zu sagen hatte, dem ganzen Erdball zu sagen, es zugleich dem Erdball ermöglichte, zu sehen, dass sie nichts zu sagen hatte.“ [5]

Für Leser*innen bestimmter Zeitgenossen Brechts, zum Beispiel Antonio Gramsci oder Karl Kraus, ist das nichts Neues, und auch die Medienwissenschaft hat bereits tonnenweise beschriebenes Papier über die Rolle materieller Abhängigkeiten und sozialer Nähe von Journalist*innen zu Wirtschaft und Politik produziert. Episoden so offener Bloßstellungen sind allerdings seltener (wenn auch Twitter schon immer ein sehr geeignetes Medium dafür ist) und erreichen ein breiteres Publikum.

Es wäre natürlich allzu optimistisch, geradezu naiv, zu erwarten, dass sich allein aus diesem Verfremdungseffekt automatisch irgendeine Art emanzipatorisches Potential generiert. Jean Baudrillard kritisierte Brecht für seinen allzu optimistischen Glauben an den potentiell utopischen Charakter massenmedialer Technik. Er erkannte in dessen Utopie des Radios als Kommunikationsapparat eine marxistische Sehnsucht, „die Dinge ihrem Tauschwert (zu) entreißen, um sie ihrem Gebrauchswert zurückzugeben.“ Dabei verkenne Brecht, dass jedes Medium selbst durch seine Form Sender und Empfänger voneinander trenne und immer eine Asymmetrie der Kommunikation herstelle. Selbst im scheinbar allen Teilnehmenden offenstehenden Clubhouse-„Raum“ entwickeln sich Hierarchien des Sprechens, Panel-förmige Arrangements und Gesprächsleitungen. Statt symmetrischem Austausch bringen Medien eine Aufmerksamkeitsökonomie hervor.

Auch Baudrillard unterschätzte die sozialen Aspekte der Radiotheorie Brechts und fixierte sich zu sehr auf seine Aussagen über Technik. Die Freien Radios, die im Jahr von Baudrillards „Requiem für die Medien“ mit dem operaistischen Radio Alice in Bologna gestartet wurden, nahmen sich Brecht zum Vorbild, aber suchten nach einer politischen und sozialen Lösung für das technische Problem der Kommunikation: Es geht gar nicht darum, die reine Kommunikationssituation über das technische Medium symmetrisch zu gestalten, wenn Räume jenseits dieser geschaffen werden, die Teilhabe aller, Rollenwechsel, Sprechen über das Medium und den Aufbau von Gegenöffentlichkeiten ermöglichen.

In diesem Sinne kann man sich nicht auf einen rein medialen „Verfremdungseffekt“ verlassen; der atemlose Hype um die App wie die genauso atemlose Skandalisierung sind längst Teil der Baudrillard’schen Aufmerksamkeitsökonomie. Man muss aber auch nicht in deprimierende Diagnosen von der Welt als Simulacrum verfallen, wenn man Rezeption ernstnimmt und dort ansetzt, wo schon die Arbeiter-Radio-Klubs zu Brechts Zeit waren: soziale Organisation, um Medienrezeption bewusst zu gestalten, gegenzusteuern; Druck aufbauen nicht nur, um Repräsentation aller gesellschaftlichen Gruppen in Medien zu erreichen, sondern um damit die internen Widersprüche des Mediums in transformativer Absicht auf die Spitze zu treiben. Brecht wollte im Theater wie im Radio Rezipient*innen erzeugen, die aktiv am Geschehen auf der Bühne und im Lautsprecher teilnahmen und das Gesehene und Gehörte eigenständig kritisch reflektierten.  Für die Arbeiter-Radio-Klubs wie die Freien Radios war immer gesellschaftliche Transformation das Ziel; keiner (auch Brecht nicht) machte sich dabei die Illusion, das sei allein über Medien zu erreichen. „Einen Anschlag gestehe ich verübt zu haben: den Anschlag auf die Trennung des Lebens von den Wünschen“ sendet der Bologneser Aktivist „Biffo“ im Radio Alice, ungefähr zur selben Zeit als Baudrillard diese Trennung als unüberwindbar darstellt. [6]

 

[1] Brecht, Bertolt: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, in: ders.: Werke 21, Frankfurt am Main, S. 552.
[2] Daub, Adrian: Was das Valley Denken nennt: Über die Ideologie der Techbranche, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2020. E-book-Version (Kapitel: Disruption).
[3] Dahl, Peter: Arbeitersender und Volksempfänger: Proletar. Radio-Bewegung u. bürgerl. Rundfunk bis 1945, Frankfurt am Main: Syndikat 1978,  S. 97.
[4] Brecht: Rf. als Kommunikationsapparat, S. 557.
[5] Brecht: Radio – eine vorsintflutliche Erfindung, in: Werke Bd. 21, Schriften I, S. 218.
[6] Capelli, Luciano/Stefano Saviotti und Félix Guattari: Alice ist der Teufel: Praxis einer subversiven Kommunikation, Radio Alice (Bologna) (Internationale marxistische Diskussion 72), Berlin: Merve Verlag 1977.

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