Das Lehrstück vom Klubhaus – Brecht und der Verfremdungseffekt sozialer Medien

von Robert Heinze

 

Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen, dienen die Vorschläge, welche doch nur eine natürliche Konsequenz der technischen Entwicklung bilden, der Propagierung und Formung dieser anderen Ordnung.
(Bertolt Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, 1932)

 

The whole internet loves Milkshake Duck, a lovely duck that drinks milkshakes! *5 seconds later* We regret to inform you the duck is racist
@pixelatedboat, 12.6.2016

 

Bertolt Brechts kurze Rede über den „Rundfunk als Kommunikationsapparat“, 1932 verfasst, ist bis heute einer der klassischen Texte der Medientheorie. Darin problematisiert er das Radio als “distributives” Medium, in dem ein Sender viele Empfänger anspricht, und fordert, den Empfänger zum Sender und damit den Rundfunk zum Kommunikationsapparat zu machen, der die Masse sprechen lässt. Mit der Frage des Verhältnisses von Produzent*innen und Konsument*innen und der Frage nach dem emanzipatorischen Gehalt moderner Massenmedien, weist Brecht sowohl auf ein Grundproblem der Medienwissenschaft, als auch auf eines der Medientheorie hin. Die “Social Audio”-App Clubhouse scheint rein technisch die Erfüllung von Brechts Forderung: jede*r kann mitdiskutieren, alle sind verschaltet und reden. Trotzdem stellte sich schon eine Woche nach dem Deutschlandstart die Erkenntnis ein, die Brecht erst neun Jahre nach der Einführung des Radios formulierte: „Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen.“ [1]

Clubhouse, Mitte Januar die meist heruntergeladene App auf iOS, ermöglicht “Drop-In-Audio-Chats”: einmal eingeladen, können sich Teilnehmer*innen in “Räume” begeben, in denen zu vorher festgelegten Themen Diskussionen stattfinden. Während prominente Stimmen die “Sprecherbühnen” bilden, können alle Teilnehmer*innen auf Signal vom Moderator am Chat beteiligt werden. Da Zugang zur App nur mittels Einladung möglich ist, aber zur Einführung Einladungen an Influencer*innen, Journalist*innen und Politiker*innen gingen, war der hype quasi vorprogrammiert. Prompt setzte auch eine begeisterte Berichterstattung ein: ein “neuer Diskursraum” sei Clubhouse, der “viele Chancen für von Diskriminierung betroffene Menschen biete.” Schnell kam auch die These auf, Clubhouse ermögliche tatsächlich die in der “Radiotheorie” beschriebene hierarchiefreie Kommunikation aller mit allen.

Eine solche vollkommen affirmative Lesart von Brecht führte in den Medienwissenschaften schon in den 2000er Jahren zum hype ums Internet als Erfüllung seiner Idee: Jede*r könne jetzt Sender und Empfänger sein – „ein ungeheures Kanalsystem“, so die geradezu prophetisch klingende Forderung Brechts, in dem die Rezipient*innen nicht isoliert einer einzelnen Stimme lauschen würden, sondern selbst ihre Stimme gewännen: „prosumer“ also, Produzent*innen und Konsument*innen gleichzeitig. Die partizipativen Möglichkeiten schienen endlos. Zuerst hieß es, Blogs würden die Medienlandschaft revolutionieren und citizen journalists hervorbringen; nach dem Abflauen dieses hypes sollten plötzlich die vermeintlichen facebook revolutions in Ägypten, Tunesien, Iran oder der Ukraine das revolutionäre Potential des „Web 2.0“ im Real Life zeigen.

Dieser angeblich revolutionäre Charakter immer neuer Infrastruktur, Software und/oder Algorithmen ist längst Teil der Ideologie (und Marketingstrategien) monopolkapitalistischer Tech-Giganten in Silicon Valley, wie  erst vor kurzem der Literaturwissenschaftler Adrian Daub ausführte. [2] Ungeachtet dessen verkünden Ausstellungen und Theaterregisseure immer noch, dass Brecht „es feiern würde, wie wir heute in Kommunikation treten können.“ Gleichzeitig hat die Enttäuschung dieser Versprechen, die Erschöpfung angesichts immer neuer hype cycles zu einer abgeklärten Haltung geführt, mit der sich inmitten der Euphorie um Clubhouse die ZEIT schon müde in Richtung Brecht absicherte, die App sei die Erfüllung seiner Radiotheorie, „bloß als Networkingevent. Motto: Labern und labern lassen.“

Was all diese Interpretationen Brechts verbindet, ist, dass sie ausgerechnet ihn als einen rein mit technologischen Aspekten von Medien beschäftigten Theoretiker lesen, der der Technik selbst revolutionäres Potential zuschreibe, anstatt sich zu fragen, in welche gesellschaftlichen Zustände Medien eingebettet sind und wie diese Zustände Form und Inhalt der Medien bestimmen. Der entscheidende Schlusssatz seiner Rede weist schon darauf hin: „Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen…“ Gerade die in den fürs Radio geschriebenen „Lehrstücken“ im Vordergrund stehende Frage nach dem Verhältnis des Individuums zum Kollektiv und dem von Technik und Gesellschaft zeigt, dass Brecht sich keineswegs nur damit aufhielt, wie die Technik umzuorganisieren sei, um das Radio einem revolutionären Gebrauch zuzuführen. Die Rede vom „Rundfunk als Kommunikationsapparat“, geschrieben nach der Erfahrung des Scheiterns mit den Lehrstücken “Der Lindberghflug” und “Badener Lehrstück vom Einverständnis” und im Jahr der Rundfunkreform 1932, die das Weimarer Radio endgültig zentralisierte und verstaatlichte, ist bereits Ausdruck seiner Desillusionierung mit dem Medium und antizipiert darin auch die heutige Enttäuschung der an das Web 2.0 geknüpften Medienutopien nach dessen Monopolisierung. Darin griff Brecht auch Forderungen der Arbeiter-Radio-Klubs auf, die sich früh nach Einführung des Radios gebildet, aber radikalisiert hatten, und jetzt, statt Teilhabe der Arbeiter*innen am Radio zu fordern, auf „Demaskierung des Rundfunks als Instrument zur Absicherung von Herrschaft“ [3] setzten: „[E]s ist keineswegs unsere Aufgabe, die ideologischen Institute auf der Basis der gegebenen Gesellschaftsordnung durch Neuerungen zu erneuern, sondern durch unsere Neuerungen haben wir sie zur Aufgabe ihrer Basis zu bewegen.“ [4]

Die Freien Radios der 1970er und 80er Jahre traten noch einmal im Kleinen den Beweis an, dass und wie eine gesellschaftliche Um- und Selbstorganisation einen wesentlichen Beitrag dazu leisten kann, das Radio zum emanzipatorischen „Kommunikationsapparat“ und die Hörer zu selbstbestimmten Produzent*innen statt einfach geschickter kapitalistisch manipulierter „prosumern“ zu machen. Die Atemlosigkeit und unreflektierte Geschwätzigkeit einer App wie Clubhouse steht der aktiv teilnehmenden kritischen Reflexion, die Brechts episches Theater in der Zuschauer*in hervorbringen will, und die auch hinter seiner Vorstellung vom Radio als Kommunikationsapparat steht, jedenfalls diametral entgegen – mal ganz abgesehen vom kalkuliert elitären Rollout der App oder ihrer Datensaugerei.

Ironischerweise ist es genau der (noch) elitäre Charakter des sozialen Netzwerkes Clubhouse und seiner pseudo-intimen, aber trotz Zugangsbeschränkung natürlich öffentlichen Kommunikation in „Räumen“, der in Kombination mit der weiteren Öffentlichkeit aus (sozialen) Medien Verfremdungseffekte produziert, die Brechts Idee vom Theater als Instrument der Aufklärung vielleicht näher stehen als der vom „ungeheuren Kanalsystem“ der Kommunikation. Die Drohung in den AGB der App, Teilnehmer*innen dürften bei Strafe der Sperrung ihres Accounts keine Sprechenden aufnehmen, hat erwartungsgemäß nichts bewirkt. Innerhalb von einer Woche nach Beginn des Hypes lösten leaks einige peinliche Skandale um prominente Politiker aus.

Effektiver im Sinne des Brecht’schen Verfremdungseffekts dürften die vielen Tweets aus dem journalistischen Alltag auf Clubhouse sein, die die Beteiligten, wie es Johannes Grunert formulierte, „echt nicht gut aussehen“ lassen. Plötzlich können auch Nichtjournalist*innen die Mechanismen bürgerlicher Massenmedien im Internetzeitalter live verfolgen: ein Journalismus, der seine eigenen Prinzipien von Transparenz und Distanz, seine Rolle als „vierte Gewalt“ so offen für Exklusivität und Access aufgibt, wurde plötzlich selbst zum Objekt der Kritik, seine ideologischen Grundlagen hinterfragt. Die Gleichzeitigkeit von „Hinterzimmer“-Charakter und Öffentlichkeit, die Clubhouse in Verbindung mit Twitter und anderen Medien erzeugt, legt unfreiwillig offen, wie sozial nah und inhaltlich unkritisch viele Journalisten gegenüber dem Objekt ihrer Berichterstattung auftreten, wie wenig Schwierigkeiten sie selbst mit der Anwesenheit rechtsextremer Aktivist*innen in den doch angeblich so geschützten Räumen haben, und wie oberflächlich sie über die Funktionsweise von Medien, Politik und die eigene Rolle darin nachdenken. Auf entsprechende Kritik reagierten einige Journalist*innen empört – nicht über die kritisierten Sachverhalte, sondern darüber, dass Aufnahmen aus den als exklusiv und “geschützt” wahrgenommenen “Räumen” der App durchgestochen worden waren. Dass sich bereits in kurzer Zeit solche Risse im (Selbst-)bild des Journalismus als „vierte Gewalt“ offenbarten, zeigt die Uneinsichtigkeit und die hartnäckige Weigerung von Menschen, die hauptberuflich in Öffentlichkeiten unterwegs sind, sich dem Kontrollverlust zu stellen, den die sozialen Medien für sie mit sich bringen.

Es wird mit Clubhouse offensichtlich, wie sehr Habitus, Millieuzugehörigkeit und Elitendünkel die Arbeit prominenter und einflussreicher Journalist*innen beeinflussen, so dass zumindest ein wesentlicher Teil der Journalist*innen großer, diskursbestimmender Medien einfach als organische Intellektuelle für hegemoniale Zustände fungieren. Der Effekt ähnelt dem, was Brecht in Anspielung auf sein Konzept der “Verfremdung” im Theater in einem früheren Text zum Radio schrieb: „Nachkommende Geschlechter hätten dann die Gelegenheit, staunend zu sehen, wie hier eine Kaste [= die Bourgeoisie, RH] dadurch, dass sie es ermöglichte, das, was sie zu sagen hatte, dem ganzen Erdball zu sagen, es zugleich dem Erdball ermöglichte, zu sehen, dass sie nichts zu sagen hatte.“ [5]

Für Leser*innen bestimmter Zeitgenossen Brechts, zum Beispiel Antonio Gramsci oder Karl Kraus, ist das nichts Neues, und auch die Medienwissenschaft hat bereits tonnenweise beschriebenes Papier über die Rolle materieller Abhängigkeiten und sozialer Nähe von Journalist*innen zu Wirtschaft und Politik produziert. Episoden so offener Bloßstellungen sind allerdings seltener (wenn auch Twitter schon immer ein sehr geeignetes Medium dafür ist) und erreichen ein breiteres Publikum.

Es wäre natürlich allzu optimistisch, geradezu naiv, zu erwarten, dass sich allein aus diesem Verfremdungseffekt automatisch irgendeine Art emanzipatorisches Potential generiert. Jean Baudrillard kritisierte Brecht für seinen allzu optimistischen Glauben an den potentiell utopischen Charakter massenmedialer Technik. Er erkannte in dessen Utopie des Radios als Kommunikationsapparat eine marxistische Sehnsucht, „die Dinge ihrem Tauschwert (zu) entreißen, um sie ihrem Gebrauchswert zurückzugeben.“ Dabei verkenne Brecht, dass jedes Medium selbst durch seine Form Sender und Empfänger voneinander trenne und immer eine Asymmetrie der Kommunikation herstelle. Selbst im scheinbar allen Teilnehmenden offenstehenden Clubhouse-„Raum“ entwickeln sich Hierarchien des Sprechens, Panel-förmige Arrangements und Gesprächsleitungen. Statt symmetrischem Austausch bringen Medien eine Aufmerksamkeitsökonomie hervor.

Auch Baudrillard unterschätzte die sozialen Aspekte der Radiotheorie Brechts und fixierte sich zu sehr auf seine Aussagen über Technik. Die Freien Radios, die im Jahr von Baudrillards „Requiem für die Medien“ mit dem operaistischen Radio Alice in Bologna gestartet wurden, nahmen sich Brecht zum Vorbild, aber suchten nach einer politischen und sozialen Lösung für das technische Problem der Kommunikation: Es geht gar nicht darum, die reine Kommunikationssituation über das technische Medium symmetrisch zu gestalten, wenn Räume jenseits dieser geschaffen werden, die Teilhabe aller, Rollenwechsel, Sprechen über das Medium und den Aufbau von Gegenöffentlichkeiten ermöglichen.

In diesem Sinne kann man sich nicht auf einen rein medialen „Verfremdungseffekt“ verlassen; der atemlose Hype um die App wie die genauso atemlose Skandalisierung sind längst Teil der Baudrillard’schen Aufmerksamkeitsökonomie. Man muss aber auch nicht in deprimierende Diagnosen von der Welt als Simulacrum verfallen, wenn man Rezeption ernstnimmt und dort ansetzt, wo schon die Arbeiter-Radio-Klubs zu Brechts Zeit waren: soziale Organisation, um Medienrezeption bewusst zu gestalten, gegenzusteuern; Druck aufbauen nicht nur, um Repräsentation aller gesellschaftlichen Gruppen in Medien zu erreichen, sondern um damit die internen Widersprüche des Mediums in transformativer Absicht auf die Spitze zu treiben. Brecht wollte im Theater wie im Radio Rezipient*innen erzeugen, die aktiv am Geschehen auf der Bühne und im Lautsprecher teilnahmen und das Gesehene und Gehörte eigenständig kritisch reflektierten.  Für die Arbeiter-Radio-Klubs wie die Freien Radios war immer gesellschaftliche Transformation das Ziel; keiner (auch Brecht nicht) machte sich dabei die Illusion, das sei allein über Medien zu erreichen. „Einen Anschlag gestehe ich verübt zu haben: den Anschlag auf die Trennung des Lebens von den Wünschen“ sendet der Bologneser Aktivist „Biffo“ im Radio Alice, ungefähr zur selben Zeit als Baudrillard diese Trennung als unüberwindbar darstellt. [6]

 

[1] Brecht, Bertolt: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, in: ders.: Werke 21, Frankfurt am Main, S. 552.
[2] Daub, Adrian: Was das Valley Denken nennt: Über die Ideologie der Techbranche, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2020. E-book-Version (Kapitel: Disruption).
[3] Dahl, Peter: Arbeitersender und Volksempfänger: Proletar. Radio-Bewegung u. bürgerl. Rundfunk bis 1945, Frankfurt am Main: Syndikat 1978,  S. 97.
[4] Brecht: Rf. als Kommunikationsapparat, S. 557.
[5] Brecht: Radio – eine vorsintflutliche Erfindung, in: Werke Bd. 21, Schriften I, S. 218.
[6] Capelli, Luciano/Stefano Saviotti und Félix Guattari: Alice ist der Teufel: Praxis einer subversiven Kommunikation, Radio Alice (Bologna) (Internationale marxistische Diskussion 72), Berlin: Merve Verlag 1977.

Photo by William Krause on Unsplash

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