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Der Weg aus dem Labyrinth: die interaktiven Hörspiele der ARD

von Alexander Matzkeit

Diese Geschichte beginnt mit Smart Speakern. Die kleinen Geräte, die per Sprachbefehl nicht nur Musik abspielen und das Wetter durchgeben, sondern große Teile unserer Wohnungen und des dort vorhandenen “Internet of Things” steuern, beschäftigen Medienmacher*innen seit Jahren. Sollte man sie nur als Eingabegerät für herkömmliche Mediennutzung behandeln, wie eine Fernseh-Fernbedienung? Oder eröffnen sie auch ganz neue Möglichkeiten, Medien zu gestalten?

Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten haben für solche Fragen Innovationsabteilungen eingerichtet. Sie sollen sich neue Technologien anschauen und Pilotprojekte entwickeln, die ihre Möglichkeiten ausloten. 2019 griff der BR mit seinem Innovationsteam BR Next erstmals auf eine eigentlich recht alte Idee zurück, um die Möglichkeiten von Smart Speakern für die Audio-Unterhaltung der Zukunft auszutesten. BR Next produzierte ein interaktives Hörspiel namens Tag X, in dem die hörende Person alle vier Minuten eine Entscheidung über den Fortgang der Handlung treffen muss.

Das Prinzip ist seitdem bis heute mehrfach variiert worden, von mehreren öffentlich-rechtlichen Sendern der ARD. Entstanden ist ein kleiner Pool an interaktiven Hörspielen, die interessierten Beobachtenden viel über die Möglichkeiten und Grenzen der Gattung verraten, neue Optionen und vor allem alte Probleme offenbaren. Im Kern steht dabei die Frage: Wie sehr wollen wir wirklich mit unserer Fiktion interagieren?

An den interaktiven ARD-Hörspielen Tag X, Tatort: Höllenfeuer und Schloss Einsteins Mission to Mars lässt sich diese Frage gut erkunden und zugleich zeigen, dass es verschiedene Arten gibt, interaktive Fiktion zu gestalten, die bei demjenigen, der sie hört und nutzt, auch unterschiedliche Erlebnisse hervorrufen. Der Begriff “interaktive Fiktion” jedoch bedarf zunächst etwas historischer Einordnung.

Was ist interaktive Fiktion?

In der Literaturwissenschaft ist er eigentlich relativ streng besetzt. Er bezieht sich auf die seit den 1970er Jahren existierenden Computeranwendungen, die landläufig als “Textadventures” bezeichnet werden. Sie gehen zurück auf den Prototypen Adventure (1975) und wurden vor allem durch Zork (1977) und seine Nachfolger bekannt. In diesen Anwendungen interagiert die Nutzerin oder der Nutzer über einfache Befehle (“Gehe nach Westen”, “Nimm Schwert”) mit einer Geschichte, die sich – auch wenn spätere Varianten sich an deutlich komplexeren Erzählungen versucht haben – vor allem in einer Abfolge von Räumen und dort zu lösenden Rätseln entfaltet. Der Autor des Interactive-Fiction-Standardwerks Twisty Little Passages (2005), Nick Montfort, sieht daher auch das literarische Rätsel als Urahn des Textadventures.

Vielleicht ist es daher besser, wie Espen Aarseth, der norwegische Grandseigneur der Game Studies, von “ergodischer Literatur” zu sprechen. Der aus der Naturwissenschaft entlehnte Begriff der “Ergodizität” bezeichnet, stark vereinfacht, einen dynamischen Prozess, in dem verschiedene physikalische Zustände gleichzeitig existieren. Aarseth überträgt dieses Prinzip auf eine Literatur, die in ihrem Urzustand noch keine Erzählung besitzt, sondern diese erst entwickelt, wenn mit ihr interagiert wird.

Aarseth führt dieses Prinzip zurück bis auf das I Ching bzw. I Ging, ein aus der chinesischen Antike stammendes Zeichensystem, das seine Erzählungen orakelhaft entfaltet. Spätere Beispiele finden sich in ähnlich bruchstückhaften experimentellen Texten wie Raymond Queneaus Zehntausend Milliarden Gedichte (Cent mille milliard de poèmes, 1961), das die 14 Zeilen eines Sonnets frei kombinierbar macht, und Marc Saportas Composition no. 1 (1961), das aus 150 losen Seiten besteht, welche die Nutzer*innen erst mischen, dann lesen sollen. Montford bezeichnet diese Werke auch als “literarische Maschinen”.

Du kannst die Heldin sein!

Deutlich populärer, und auch viel stärker als Vorgänger der hier besprochenen Hörspiele zu begreifen, wurde ergodische Literatur durch “Spielbücher”, die sich ab 1979 an ein junges und jugendliches Publikum richteten. Hier ist das Buch in eine meist dreistellige Zahl kurzer Leseabschnitte unterteilt, an deren Ende jeweils eine Entscheidung steht. Möchtest du links abbiegen, dann blättere zu Abschnitt 132, möchtest du rechts abbiegen, dann blättere zu Abschnitt 212. 

In den USA wurde das Prinzip vor allem durch die Serie Choose Your Own Adventure berühmt, ein Markenname, der irgendwann so in aller Munde war, dass er zum Sammelbegriff für jede Art von interaktiver Erzählung wurde. Aus Großbritannien stammen hingegen die Fighting Fantasy-Bücher. Sie ergänzen das Abschnittsystem um Begegnungen mit Monstern, mit denen sich die Lesenden wie in Dungeons & Dragons und anderen Rollenspielsystemen per Würfelwurf duellieren müssen.

Beiden Systemen war gemein, dass sie in den 1980er Jahren einen gigantischen Boom erfuhren. Viele Jugendfranchises sprangen auf den Zug auf und veröffentlichten eigene Spielbücher, die immer das gleiche versprachen: “Du kannst der Held/die Heldin sein! Du entscheidest, was passiert.” Entsprechend etablierte sich auch die Konvention, Spielbücher grundsätzlich in der zweiten Person Singular zu schreiben, mit der die lesende Person direkt angesprochen wird.

Der Tod der Spielbücher war Ende der 90er schließlich die Entwicklung immer aufwändigerer Computerspiele, die im Grunde das gleiche versprachen und auch halten konnten. Gerade Adventures wie The Secret of Monkey Island (1990) boten den Spielenden ähnlich wie ihre Vorgänger einen durch Rätsel unterbrochenen Plot, der Entscheidung und Interaktion enthielt. Spätere, nach dem “Open World” Prinzip gestaltete Spiele erhöhten die Möglichkeit für die Nutzenden noch weiter, sich notfalls auch völlig außerhalb des vorgesehenen Plots zu bewegen. Die meiste Forschung rund um interaktive Fiktion dreht sich heute um Computerspiele.

Der zentrale Konflikt der ergodischen Literatur

Die interaktiven Hörspiele der ARD sind insofern ein Rückgriff auf eine etwas primitivere Form der ergodischen Literatur, damit aber gleichzeitig auch etwas literarischer als moderne Spiele. Sie besitzen keine grafische Komponente, sondern bestehen aus einer Abfolge aus Erzählungs- und Dialogszenen, deren Reihenfolge durch regelmäßige Entscheidungen der oder des Hörenden bestimmt wird. Die Häufigkeit der Entscheidungen – spätestens alle vier Minuten – ist durch die Entwickler der Smart Speaker vorgegeben.

Ähnlich wie bei Spielbüchern lässt sich die Gesamtheit eines interaktiven Hörspiels am ehesten als eine Art Flussdiagramm darstellen, in dem jede Szene eine Wabe bildet und jede Entscheidung am Ende der Szene mit einer Linie zu einer neuen Wabe führt. Würde man sich vorstellen, dass man sich am Ende jeder Szene zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden kann und jede Entscheidung zu einer völlig neuen Szene führt, wäre man mit exponentiellem Wachstum sehr schnell bei einer unübersichtlichen Menge an Szenen und Handlungssträngen. Da Produktionsbudgets aber begrenzt sind und nur für eine endliche Zahl an Szenen reichen, müssen viele Entscheidungen entweder in einem Ende münden oder auf eine Szene zurückführen, die die Nutzenden auch durch andere Entscheidungen hätten erreichen können.

Darin liegt der zentrale Konflikt ergodischer Literatur dieser Spielart. Sie muss den Nutzenden gerade genug Interaktion überlassen, damit diese das Gefühl haben, ihre Entscheidungen bedeuten etwas. Dabei darf die Erzählung jedoch nicht so ausfransen, dass sie das befriedigende Gefühl eines echten Plots verliert und ohne erheblichen Ressourcenaufwand auch nicht mehr umgesetzt werden kann.

Es ist daher kein Zufall, dass das zentrale Bild, das für diese Art von interaktiver Literatur immer wieder genutzt wird, das eines Labyrinths ist. Schon in Jorge Luis Borges’ Kurzgeschichte “Der Garten der Pfade, die sich verzweigen” von 1941 dient das Labyrinth als Sinnbild für ein Buch, das viele verschiedene Ausgänge einer Geschichte enthält. Ein großer Teil der “Fighting Fantasy”-Bücher spielt in labyrinthartigen Verliesen, in denen hinter jeder Wegbiegung entweder ein Gegner oder ein Schatz warten könnte. Für die Lesenden, Hörenden, Nutzenden hingegen bedeutet jede Entscheidung für etwas auch eine Entscheidung gegen etwas anderes. Wie Espen Aarseth in Cybertext (1997) schreibt: “Jede Entscheidung macht einige Teile des Textes mehr, andere weniger zugänglich. Die genauen Folgen deiner Entscheidungen, was du genau verpasst hast, wirst du vielleicht nie erfahren.” (Meine Übersetzung)

Tag X: Flucht aus der verseuchten Stadt

Tag X, das erste, 2019 entstandene interaktive Hörspiel von BR Next, geschrieben von Daniel Wild (mit dem ich für diesen Artikel ein Hintergrundgespräch geführt habe) und inszeniert von Martin Heindel, folgt am ehesten dieser labyrinthinen Struktur. Es spielt während des unmittelbaren Fallouts eines Anschlags auf Berlin, in Anlehnung an die realen, von der “taz” enthüllten Pläne einer rechtsextremen Gruppe in der Bundeswehr, die sich auf einen solchen Tag vorbereitete. Die Stadt ist eine verseuchte Zone. Die aus dem Zoo entflohenen Tiere laufen auf den Straßen herum. Das Militär patrouilliert.

Der in der zweiten Person angesprochene Protagonist bzw. die Protagonistin wacht auf und hat Gedächtnis und Augenlicht verloren. Das verstärkt einerseits den Hörspiel-Faktor mit Ohren als primärem Sinnesorgan und erlaubt andererseits, dass die Hauptfigur keine Vorgeschichte und keine Persönlichkeit über die Projektion der Nutzenden hinaus haben muss. Sie versucht im Laufe des Spiels aus der verseuchten Zone zu entkommen und kann dafür im Wesentlichen zwei verschiedenen Wegen folgen. Einer führt in die Altbauwohnung von Erna, die sich der Evakuierung entzogen hat. Bei geschickten Entscheidungen erfährt man von ihr, was zuvor geschehen ist, bevor man am Ufer des Kanals vom Militär aufgegriffen wird. Beim anderen nimmt man sich eines Kindes namens Toni an, kämpft sich mit ihm durch einen von einem Eisbär bewohnten Spätkauf und ein Parkhaus, wird dort ebenfalls von Soldaten in Gewahrsam genommen und schließlich einem Verhör unterzogen, in dessen Verlauf man dafür sorgen kann, dass Toni in gute Hände kommt.

Tag X besitzt 13 verschiedene Enden, doch nur zwei davon enden nicht mit dem Tod der Spielenden und nur eins – das, in dem man die Toni-Mission erfolgreich zu Ende bringt – hat wirklich das befriedigende Gefühl eines abgeschlossenen Plots. Die meisten Enden töten die Nutzenden, zermalmt von herumlaufenden Tieren oder von Soldaten erschossen. Sie sind Enden nur in dem Sinn, dass die Handlung danach nicht mehr weitergeht, aber nicht, indem sie einen Spannungsbogen abschließen. Daher fühlt sich Tag X oft an wie ein Labyrinth mit vielen Sackgassen, von denen manche zwar hübscher sind als andere, aber nur ein oder maximal zwei Wege durch “korrekte” Entscheidungen wirklich aus dem Irrgarten herausführen. Es ist damit von allen hier beschriebenen Hörspielen am stärksten so strukturiert wie die erwähnten Spielbücher. Das Problem mit den Sackgassen-Enden ist, dass sie sich nicht wie alternative Ausgänge einer Geschichte anfühlen, sondern nur wir ein Scheitern an der vom Autor vorgesehenen Handlung. Wie von Aarseth beschrieben also keine Entscheidung für etwas, sondern gegen alles andere.

Höllenfeuer: Welche Polizistin willst du sein?

Das Nachfolgeprojekt des gleichen Teams, Tatort: Höllenfeuer von 2021, wählte, vielleicht auch aus diesen Gründen, einen völlig anderen Ansatz. Es verabschiedet sich zunächst von der direkten Ansprache der Nutzenden und hat eine klar umrissene Hauptfigur, die Kommissarin Mavi “Mav” Fuchs, die als neue Figur in das bereits etablierte Story-Universum des Münchner Tatort rund um die Kommissare Batic und Leitmayr eingeführt wird. An Entscheidungspunkten ringt Mav in Selbstgesprächen mit den Handlungsmöglichkeiten der Situation und überlässt dann jeweils den Nutzenden die Auswahl. Diese können somit auch entscheiden, welche Handlungen ihrer Meinung nach gut zur Figur passen. Die Konsequenzen der Entscheidungen entfalten sich dann innerhalb der Figurenmotivation – ein großer Unterschied zum reinen Platzhalter-Protagonisten in Tag X oder in klassischen Spielbüchern.

Der zweite wichtige Unterschied ergibt sich aus der Dramaturgie eines Kriminalfalls. In Höllenfeuer dreht sich alles um einen drohenden Terroranschlag auf das Oktoberfest, mit dem auch die Leiche eines Obdachlosen verknüpft ist, der von Jugendlichen angezündet wurde. Anders als in Tag X, wo die Handlung des Hörspiels auf klassisch ergodische Art oft durch die Aktionen der Hauptfigur überhaupt erst entsteht und Untätigkeit oder Entscheidungen “gegen” den vorgesehenen Plot in der tödlichen Sackgasse enden, wird Mav von dem Fall, den sie gemeinsam mit Kriminalassistent Kalli Hammermann lösen muss, einfach mitgerissen. Einmal deswegen, weil die Anschlagsbedrohung eine tickende Uhr ist, die abläuft, ganz egal, was sie tut, aber auch, weil die Ermittlungen in einem Mordfall eine klare Abfolge von Ereignissen (Leichenfund, Obduktion, Befragung von Verdächtigen) besitzen, denen man sich als Kommissarin nur schwer entziehen kann.

Autor Daniel Wild setzt daher in Höllenfeuer auf eine andere Entscheidungsmatrix, die nur noch wenig von einem Labyrinth hat. Er macht sich dafür die Technologie zunutze, welche die interaktiven Hörspiele des digitalen Zeitalters von früheren Inkarnationen (in denen man etwa auf einer CD von Track zu Track springen musste) und von Spielbüchern unterscheidet. Jede Entscheidung erlaubt es nicht nur, die Nutzenden anschließend zu einer von mehreren Szenen weiterzuschicken, sondern auch begleitende Zähler (“Variablen”) im Hintergrund mitlaufen zu lassen. Das Programm, das die Szenen ausspielt, kann sich also vergangene Entscheidungen merken und so an späteren Punkten auf der Basis von Variablenwerten nur bestimmte Entscheidungen anbieten. Der klassische Weg, diese Technologie zu nutzen, der auch vereinzelt in Tag X genutzt wird, ist der eines Inventars. Die Spielenden müssen sich an bestimmten Punkten entscheiden, ob sie einen Gegenstand mitnehmen oder nicht. Später benötigen sie diesen Gegenstand, etwa um eine Tür zu öffnen. Haben sie ihn nicht, können sie nicht durch die Tür gehen und müssen einen anderen Weg wählen oder zurückgehen.

Höllenfeuer nutzt die Variablen auf andere, soziale Art. Es merkt sich, wie die Hauptfigur, gesteuert durch die Entscheidung der Nutzenden, mit ihren Kolleginnen und Kollegen umspringt. Entscheidet man sich zu oft dafür, diese vor den Kopf zu stoßen oder anzulügen, kann Mavi Fuchs noch vor Ende der Ermittlungen gefeuert werden. Doch anders als in einem klassischen Erzählungs-Labyrinth fühlt sich dies weniger an, als hätte man einfach den falschen Weg genommen, sondern wie eine psychologisch folgerichtige Konsequenz aus vorhandenen Handlungen. Höllenfeuer dreht sich über einen großen Teil seiner Laufzeit weniger darum, wie man den Plot der Geschichte beeinflusst, sondern eher, welche Rolle man darin spielen möchte, welche Art von Polizistin man sein möchte. Fair oder unfair? Geduldig oder ungeduldig? Erst Fragen stellen und dann zuschlagen oder umgekehrt?

Erst zum Schluss, am dritten der drei Handlungstage, als die Konfrontation mit den antikapitalistischen Terroristen unausweichlich wird, teilt sich der Entscheidungsbaum wirklich auf und eröffnet den Spielenden mehrere mögliche Enden. Da diese aber nun bereits einige Zeit mit der Protagonistin verbracht haben und sich wahrscheinlich entschieden haben, welche Persönlichkeitsmerkmale sie stärker durch Handlungen ausdrücken wollen, fühlen sich diese Enden tatsächlich wie Alternativen zueinander an. In einem der Enden gelingt es Mav nicht, einen Münchner Komplett-Blackout zu verhindern, doch das wirkt nicht wie ein Scheitern am Spiel, sondern schlicht wie das Ende, das man durch seine Entscheidungen herbeigeführt hat. Ein deutlich befriedigenderes Gefühl als ein Tod im Kugelhagel, weil man sich bei der Wahl zwischen Pest und Cholera falsch entschieden hat.

Mission to Mars: Tanz der Variablen

Schloss Einsteins Mission to Mars (2022), bei dem Daniel Wild als Ko-Autor noch beteiligt war, das aber nicht mehr für den BR, sondern für MDR Next entstand, erscheint wie eine unbewusste Synthese und Weiterentwicklung seiner beiden Vorgänger. (Der WDR hatte dazwischen mit Wild noch ein weiteres interaktives Tatort-Hörspiel namens Lücken produziert, das ich in dieser Analyse allerdings ausklammere.) Ähnlich wie in Höllenfeuer liegt auch in Mission to Mars der Plot nur bedingt in der Hand der Spielenden, die an Bord eines Raumschiffs auf dem Weg zum Mars aufwachen, auf dem roten Planeten bruchlanden und sich gemeinsam mit ihrer restlichen Crew, allesamt ehemalige Protagonist*innen der MDR-Kinderserie Schloss Einstein, zur Mars-Basis durchschlagen. Da die Zielgruppe des Hörspiels Kinder sind und das Hörspiel in mehrere Episoden aufgeteilt ist, die anschlussfähig sein müssen, kann man nicht sterben. Mit anderen Worten: Die wichtigen Plotpunkte passieren, egal wie man sich verhält. Man kann nicht durch “falsches” Verhalten scheitern, weil man nicht korrekt vorhersieht, was die Autor*innen von ihren Spielenden erwarten.

Anders als in Höllenfeuer ist Mission to Mars aber erneut in der Du-Perspektive geschrieben, das heißt die Hauptfigur – ein*e “Weltraumtourist*in”, welche*r die Reise zum Mars gewonnen hat – ist erneut eine Leerstelle, um die sich der Rest des Hörspiels fügen muss. Um den damit verbundenen Schwierigkeiten entgegenzuwirken, nutzt das Autor*innen-Team (neben Daniel Wild waren Dana Bechtle-Bechtinger und Jörg Benne beteiligt) aber verstärkt Variablen, um aus den getätigten Entscheidungen der Spielenden passende Handlungsmöglichkeiten abzuleiten.

Dies beginnt schon vor Beginn der Handlung, wenn die Spielenden in einer Art Charakter-Generierung entscheiden dürfen, ob sie eher sportlich oder intellektuell geprägt sein wollen. Auf der Basis dieser anfänglichen Auswahl bekommen sie später unterschiedliche Optionen angeboten. Andere Konsequenzen ergeben sich in Form von alternativen oder “Bonus”-Szenen am Ende von Handlungsabschnitten. Hat man sich dafür eingesetzt, dass sich das zerstrittene Pärchen, mit dem man unterwegs ist, wieder verträgt, darf man auch Zeuge ihrer Versöhnung werden. Hat man sich in den zwischendurch eingestreuten Wissenstests als besonders verlässlich erwiesen, zollen einem die anderen Charaktere dafür Respekt. Mission to Mars hat wenige alternative Enden. Seine Handlung kann sich aber je nach Entscheidungen dennoch völlig anders anfühlen.

Mitglieder des Redaktionsteams von Mission to Mars haben in Gesprächen mit mir formuliert, dass sie dies als “nutzerzentrierte” Handlungsgestaltung empfanden, ein Begriff, der sonst vor allem aus der Software- und Interface-Entwicklung bekannt ist. Sie geben ihrem Publikum, was es will und kennt (einige der redaktionellen Entscheidungen, etwa welche Figuren zurückkehren sollten, wurden mit Hilfe der Instagram-Community der Serie getroffen), so dass es instinktiv die “richtigen” Entscheidungen trifft und das Ergebnis in jeden Fall interessant und relevant bleibt. Mission to Mars ist, von wenigen Szenen abgesehen, weniger ein interaktiver Text in dem oft begriffenen Sinn eines Irrgartens voller sich verzweigender Pfade. Es begreift vielmehr Handlung selbst als eine Art konstruktivistisches Gebilde, in dem verschiedene Personen die gleichen Momente unterschiedlich wahrnehmen und – als Erweiterung des Ansatzes von Filmen wie Rashomon (1950) – ihren Ausgang auf subtile Weise beeinflussen.

Die Angebote der Interaktion

Wenn wir uns also, wie am Anfang postuliert, tatsächlich fragen, wie wir mit unseren Fiktionen interagieren wollen, machen die interaktiven Hörspiele der ARD verschiedene Angebote. Wir können die eigenschaftslosen Schatten im Zentrum einer Handlung sein, durch die wir uns tasten müssen, bis wir aus dem Labyrinth herausgefunden haben (das erfolgreiche Konzept, das auch Escape Games prägt). Oder wir können die Protagonist*innen durch unsere Entscheidungen überhaupt erst mit Eigenschaften ausstatten und sehen, wie sich die Handlung im Spiegel dieser Eigenschaften entfaltet. (Oder beides.)

Obwohl wir im ersten Fall deutlich stärker an den Kontrollen stehen sollten, schließlich sind es unsere Entscheidungen, die den Fortgang der Erzählung steuern, befinden wir uns aufgrund der begrenzten Handlungsmöglichkeiten eigentlich sehr in der Hand der Autor*innen und ihrer Absichten. Im zweiten Fall haben wir weniger Freiheit, das Ruder unseres Handlungsschiffes wild herumzureißen, doch unsere Entscheidungen fühlen sich wichtiger dafür an, wie wir das Erzählte wahrnehmen. Die Ergodizität ist geringer aber signifikanter. Der Plot, das Syuzhet, bleibt von Nutzer*in zu Nutzer*in ähnlich, die Story, die Fabula aber, ist formbar, ist interaktiv.

Wie auch immer man sich entscheidet, die Smart Speaker, obwohl Ursprung der Projekte und Treiber ihrer Entwicklung, sind nicht das beste Medium dafür. Nicht nur beschreibt etwa Projektleiter Christoph Rieth von MDR Next, dass die junge Zielgruppe von Schloss Einstein sich von Hörspielen am liebsten beim Legobauen berieseln lässt. Deswegen findet sie es eher störend, das Spielen alle paar Minuten zu unterbrechen, um eine Anweisung zu geben, die manchmal vielleicht auch nicht sofort verstanden wird. Wer sich hingegen durch die Browserversionen der Werke klickt, hat auch eine größere Klarheit über seine Entscheidungen, mehr Übersicht über die Szenen sowie mehr Autonomie im Vor- und Zurückspringen während einer Szene. Diese Art von Interaktion ist dann doch irgendwie ganz angenehm.

Beitragsbild von Markus Winkler

Distinktion zum Frühstück – Über »Klassik–Pop–et cetera« als kulturellen Offenbarungsort

von Matthias Warkus

Eine der großen Radiotraditionen, vielleicht sogar die größte überhaupt, sind Sendungen, in denen Gäste eigene Musik mitbringen. Die älteste unter ihnen, »Desert Island Discs«, läuft im BBC-Radio seit über 80 Jahren und ist damit unter den ältesten Radiosendungen überhaupt, die noch regelmäßig ausgestrahlt werden. Im Deutschlandfunk gibt es mindestens zwei solcher Sendungen, und eine davon, »Klassik – Pop – et cetera« (im Folgenden »KP&c.«), ist ebenfalls ein Methusalem, mehr oder minder die älteste Sendung im deutschen Radio überhaupt, ausgestrahlt seit dem 7. Oktober 1974. Bis auf eine An- und Abmoderation wird die gesamte wöchentliche Sendung von dem Gast (manchmal auch: den Gästen) bestritten.

KP&c. hat sich in diesen fast 50 Jahren durchaus verändert, vor allem, was die Auswahl der Gäste angeht; darauf möchte ich nicht detailliert eingehen. Auf dem heutigen Stand ist die Zusammensetzung jedenfalls so, dass 43 % der Sendungen von Musiker*innen aus dem Bereich E-Musik (inklusive Jazz) moderiert werden, 25 % von Schriftsteller*innen, 18 % von Künstler*innen, Schauspieler*innen, Regisseur*innen usw., gut 8 % von Musiker*innen aus dem U-Bereich und der Rest von Wissenschaftler*innen bzw. sonstigen Intellektuellen. (Diese Verteilung wird möglicherweise später noch wichtig.)

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Das Lehrstück vom Klubhaus – Brecht und der Verfremdungseffekt sozialer Medien

von Robert Heinze

 

Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen, dienen die Vorschläge, welche doch nur eine natürliche Konsequenz der technischen Entwicklung bilden, der Propagierung und Formung dieser anderen Ordnung.
(Bertolt Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, 1932)

 

The whole internet loves Milkshake Duck, a lovely duck that drinks milkshakes! *5 seconds later* We regret to inform you the duck is racist
@pixelatedboat, 12.6.2016

 

Bertolt Brechts kurze Rede über den „Rundfunk als Kommunikationsapparat“, 1932 verfasst, ist bis heute einer der klassischen Texte der Medientheorie. Darin problematisiert er das Radio als “distributives” Medium, in dem ein Sender viele Empfänger anspricht, und fordert, den Empfänger zum Sender und damit den Rundfunk zum Kommunikationsapparat zu machen, der die Masse sprechen lässt. Mit der Frage des Verhältnisses von Produzent*innen und Konsument*innen und der Frage nach dem emanzipatorischen Gehalt moderner Massenmedien, weist Brecht sowohl auf ein Grundproblem der Medienwissenschaft, als auch auf eines der Medientheorie hin. Die “Social Audio”-App Clubhouse scheint rein technisch die Erfüllung von Brechts Forderung: jede*r kann mitdiskutieren, alle sind verschaltet und reden. Trotzdem stellte sich schon eine Woche nach dem Deutschlandstart die Erkenntnis ein, die Brecht erst neun Jahre nach der Einführung des Radios formulierte: „Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen.“ [1]

Clubhouse, Mitte Januar die meist heruntergeladene App auf iOS, ermöglicht “Drop-In-Audio-Chats”: einmal eingeladen, können sich Teilnehmer*innen in “Räume” begeben, in denen zu vorher festgelegten Themen Diskussionen stattfinden. Während prominente Stimmen die “Sprecherbühnen” bilden, können alle Teilnehmer*innen auf Signal vom Moderator am Chat beteiligt werden. Da Zugang zur App nur mittels Einladung möglich ist, aber zur Einführung Einladungen an Influencer*innen, Journalist*innen und Politiker*innen gingen, war der hype quasi vorprogrammiert. Prompt setzte auch eine begeisterte Berichterstattung ein: ein “neuer Diskursraum” sei Clubhouse, der “viele Chancen für von Diskriminierung betroffene Menschen biete.” Schnell kam auch die These auf, Clubhouse ermögliche tatsächlich die in der “Radiotheorie” beschriebene hierarchiefreie Kommunikation aller mit allen.

Eine solche vollkommen affirmative Lesart von Brecht führte in den Medienwissenschaften schon in den 2000er Jahren zum hype ums Internet als Erfüllung seiner Idee: Jede*r könne jetzt Sender und Empfänger sein – „ein ungeheures Kanalsystem“, so die geradezu prophetisch klingende Forderung Brechts, in dem die Rezipient*innen nicht isoliert einer einzelnen Stimme lauschen würden, sondern selbst ihre Stimme gewännen: „prosumer“ also, Produzent*innen und Konsument*innen gleichzeitig. Die partizipativen Möglichkeiten schienen endlos. Zuerst hieß es, Blogs würden die Medienlandschaft revolutionieren und citizen journalists hervorbringen; nach dem Abflauen dieses hypes sollten plötzlich die vermeintlichen facebook revolutions in Ägypten, Tunesien, Iran oder der Ukraine das revolutionäre Potential des „Web 2.0“ im Real Life zeigen.

Dieser angeblich revolutionäre Charakter immer neuer Infrastruktur, Software und/oder Algorithmen ist längst Teil der Ideologie (und Marketingstrategien) monopolkapitalistischer Tech-Giganten in Silicon Valley, wie  erst vor kurzem der Literaturwissenschaftler Adrian Daub ausführte. [2] Ungeachtet dessen verkünden Ausstellungen und Theaterregisseure immer noch, dass Brecht „es feiern würde, wie wir heute in Kommunikation treten können.“ Gleichzeitig hat die Enttäuschung dieser Versprechen, die Erschöpfung angesichts immer neuer hype cycles zu einer abgeklärten Haltung geführt, mit der sich inmitten der Euphorie um Clubhouse die ZEIT schon müde in Richtung Brecht absicherte, die App sei die Erfüllung seiner Radiotheorie, „bloß als Networkingevent. Motto: Labern und labern lassen.“

Was all diese Interpretationen Brechts verbindet, ist, dass sie ausgerechnet ihn als einen rein mit technologischen Aspekten von Medien beschäftigten Theoretiker lesen, der der Technik selbst revolutionäres Potential zuschreibe, anstatt sich zu fragen, in welche gesellschaftlichen Zustände Medien eingebettet sind und wie diese Zustände Form und Inhalt der Medien bestimmen. Der entscheidende Schlusssatz seiner Rede weist schon darauf hin: „Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen…“ Gerade die in den fürs Radio geschriebenen „Lehrstücken“ im Vordergrund stehende Frage nach dem Verhältnis des Individuums zum Kollektiv und dem von Technik und Gesellschaft zeigt, dass Brecht sich keineswegs nur damit aufhielt, wie die Technik umzuorganisieren sei, um das Radio einem revolutionären Gebrauch zuzuführen. Die Rede vom „Rundfunk als Kommunikationsapparat“, geschrieben nach der Erfahrung des Scheiterns mit den Lehrstücken “Der Lindberghflug” und “Badener Lehrstück vom Einverständnis” und im Jahr der Rundfunkreform 1932, die das Weimarer Radio endgültig zentralisierte und verstaatlichte, ist bereits Ausdruck seiner Desillusionierung mit dem Medium und antizipiert darin auch die heutige Enttäuschung der an das Web 2.0 geknüpften Medienutopien nach dessen Monopolisierung. Darin griff Brecht auch Forderungen der Arbeiter-Radio-Klubs auf, die sich früh nach Einführung des Radios gebildet, aber radikalisiert hatten, und jetzt, statt Teilhabe der Arbeiter*innen am Radio zu fordern, auf „Demaskierung des Rundfunks als Instrument zur Absicherung von Herrschaft“ [3] setzten: „[E]s ist keineswegs unsere Aufgabe, die ideologischen Institute auf der Basis der gegebenen Gesellschaftsordnung durch Neuerungen zu erneuern, sondern durch unsere Neuerungen haben wir sie zur Aufgabe ihrer Basis zu bewegen.“ [4]

Die Freien Radios der 1970er und 80er Jahre traten noch einmal im Kleinen den Beweis an, dass und wie eine gesellschaftliche Um- und Selbstorganisation einen wesentlichen Beitrag dazu leisten kann, das Radio zum emanzipatorischen „Kommunikationsapparat“ und die Hörer zu selbstbestimmten Produzent*innen statt einfach geschickter kapitalistisch manipulierter „prosumern“ zu machen. Die Atemlosigkeit und unreflektierte Geschwätzigkeit einer App wie Clubhouse steht der aktiv teilnehmenden kritischen Reflexion, die Brechts episches Theater in der Zuschauer*in hervorbringen will, und die auch hinter seiner Vorstellung vom Radio als Kommunikationsapparat steht, jedenfalls diametral entgegen – mal ganz abgesehen vom kalkuliert elitären Rollout der App oder ihrer Datensaugerei.

Ironischerweise ist es genau der (noch) elitäre Charakter des sozialen Netzwerkes Clubhouse und seiner pseudo-intimen, aber trotz Zugangsbeschränkung natürlich öffentlichen Kommunikation in „Räumen“, der in Kombination mit der weiteren Öffentlichkeit aus (sozialen) Medien Verfremdungseffekte produziert, die Brechts Idee vom Theater als Instrument der Aufklärung vielleicht näher stehen als der vom „ungeheuren Kanalsystem“ der Kommunikation. Die Drohung in den AGB der App, Teilnehmer*innen dürften bei Strafe der Sperrung ihres Accounts keine Sprechenden aufnehmen, hat erwartungsgemäß nichts bewirkt. Innerhalb von einer Woche nach Beginn des Hypes lösten leaks einige peinliche Skandale um prominente Politiker aus.

Effektiver im Sinne des Brecht’schen Verfremdungseffekts dürften die vielen Tweets aus dem journalistischen Alltag auf Clubhouse sein, die die Beteiligten, wie es Johannes Grunert formulierte, „echt nicht gut aussehen“ lassen. Plötzlich können auch Nichtjournalist*innen die Mechanismen bürgerlicher Massenmedien im Internetzeitalter live verfolgen: ein Journalismus, der seine eigenen Prinzipien von Transparenz und Distanz, seine Rolle als „vierte Gewalt“ so offen für Exklusivität und Access aufgibt, wurde plötzlich selbst zum Objekt der Kritik, seine ideologischen Grundlagen hinterfragt. Die Gleichzeitigkeit von „Hinterzimmer“-Charakter und Öffentlichkeit, die Clubhouse in Verbindung mit Twitter und anderen Medien erzeugt, legt unfreiwillig offen, wie sozial nah und inhaltlich unkritisch viele Journalisten gegenüber dem Objekt ihrer Berichterstattung auftreten, wie wenig Schwierigkeiten sie selbst mit der Anwesenheit rechtsextremer Aktivist*innen in den doch angeblich so geschützten Räumen haben, und wie oberflächlich sie über die Funktionsweise von Medien, Politik und die eigene Rolle darin nachdenken. Auf entsprechende Kritik reagierten einige Journalist*innen empört – nicht über die kritisierten Sachverhalte, sondern darüber, dass Aufnahmen aus den als exklusiv und “geschützt” wahrgenommenen “Räumen” der App durchgestochen worden waren. Dass sich bereits in kurzer Zeit solche Risse im (Selbst-)bild des Journalismus als „vierte Gewalt“ offenbarten, zeigt die Uneinsichtigkeit und die hartnäckige Weigerung von Menschen, die hauptberuflich in Öffentlichkeiten unterwegs sind, sich dem Kontrollverlust zu stellen, den die sozialen Medien für sie mit sich bringen.

Es wird mit Clubhouse offensichtlich, wie sehr Habitus, Millieuzugehörigkeit und Elitendünkel die Arbeit prominenter und einflussreicher Journalist*innen beeinflussen, so dass zumindest ein wesentlicher Teil der Journalist*innen großer, diskursbestimmender Medien einfach als organische Intellektuelle für hegemoniale Zustände fungieren. Der Effekt ähnelt dem, was Brecht in Anspielung auf sein Konzept der “Verfremdung” im Theater in einem früheren Text zum Radio schrieb: „Nachkommende Geschlechter hätten dann die Gelegenheit, staunend zu sehen, wie hier eine Kaste [= die Bourgeoisie, RH] dadurch, dass sie es ermöglichte, das, was sie zu sagen hatte, dem ganzen Erdball zu sagen, es zugleich dem Erdball ermöglichte, zu sehen, dass sie nichts zu sagen hatte.“ [5]

Für Leser*innen bestimmter Zeitgenossen Brechts, zum Beispiel Antonio Gramsci oder Karl Kraus, ist das nichts Neues, und auch die Medienwissenschaft hat bereits tonnenweise beschriebenes Papier über die Rolle materieller Abhängigkeiten und sozialer Nähe von Journalist*innen zu Wirtschaft und Politik produziert. Episoden so offener Bloßstellungen sind allerdings seltener (wenn auch Twitter schon immer ein sehr geeignetes Medium dafür ist) und erreichen ein breiteres Publikum.

Es wäre natürlich allzu optimistisch, geradezu naiv, zu erwarten, dass sich allein aus diesem Verfremdungseffekt automatisch irgendeine Art emanzipatorisches Potential generiert. Jean Baudrillard kritisierte Brecht für seinen allzu optimistischen Glauben an den potentiell utopischen Charakter massenmedialer Technik. Er erkannte in dessen Utopie des Radios als Kommunikationsapparat eine marxistische Sehnsucht, „die Dinge ihrem Tauschwert (zu) entreißen, um sie ihrem Gebrauchswert zurückzugeben.“ Dabei verkenne Brecht, dass jedes Medium selbst durch seine Form Sender und Empfänger voneinander trenne und immer eine Asymmetrie der Kommunikation herstelle. Selbst im scheinbar allen Teilnehmenden offenstehenden Clubhouse-„Raum“ entwickeln sich Hierarchien des Sprechens, Panel-förmige Arrangements und Gesprächsleitungen. Statt symmetrischem Austausch bringen Medien eine Aufmerksamkeitsökonomie hervor.

Auch Baudrillard unterschätzte die sozialen Aspekte der Radiotheorie Brechts und fixierte sich zu sehr auf seine Aussagen über Technik. Die Freien Radios, die im Jahr von Baudrillards „Requiem für die Medien“ mit dem operaistischen Radio Alice in Bologna gestartet wurden, nahmen sich Brecht zum Vorbild, aber suchten nach einer politischen und sozialen Lösung für das technische Problem der Kommunikation: Es geht gar nicht darum, die reine Kommunikationssituation über das technische Medium symmetrisch zu gestalten, wenn Räume jenseits dieser geschaffen werden, die Teilhabe aller, Rollenwechsel, Sprechen über das Medium und den Aufbau von Gegenöffentlichkeiten ermöglichen.

In diesem Sinne kann man sich nicht auf einen rein medialen „Verfremdungseffekt“ verlassen; der atemlose Hype um die App wie die genauso atemlose Skandalisierung sind längst Teil der Baudrillard’schen Aufmerksamkeitsökonomie. Man muss aber auch nicht in deprimierende Diagnosen von der Welt als Simulacrum verfallen, wenn man Rezeption ernstnimmt und dort ansetzt, wo schon die Arbeiter-Radio-Klubs zu Brechts Zeit waren: soziale Organisation, um Medienrezeption bewusst zu gestalten, gegenzusteuern; Druck aufbauen nicht nur, um Repräsentation aller gesellschaftlichen Gruppen in Medien zu erreichen, sondern um damit die internen Widersprüche des Mediums in transformativer Absicht auf die Spitze zu treiben. Brecht wollte im Theater wie im Radio Rezipient*innen erzeugen, die aktiv am Geschehen auf der Bühne und im Lautsprecher teilnahmen und das Gesehene und Gehörte eigenständig kritisch reflektierten.  Für die Arbeiter-Radio-Klubs wie die Freien Radios war immer gesellschaftliche Transformation das Ziel; keiner (auch Brecht nicht) machte sich dabei die Illusion, das sei allein über Medien zu erreichen. „Einen Anschlag gestehe ich verübt zu haben: den Anschlag auf die Trennung des Lebens von den Wünschen“ sendet der Bologneser Aktivist „Biffo“ im Radio Alice, ungefähr zur selben Zeit als Baudrillard diese Trennung als unüberwindbar darstellt. [6]

 

[1] Brecht, Bertolt: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, in: ders.: Werke 21, Frankfurt am Main, S. 552.
[2] Daub, Adrian: Was das Valley Denken nennt: Über die Ideologie der Techbranche, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2020. E-book-Version (Kapitel: Disruption).
[3] Dahl, Peter: Arbeitersender und Volksempfänger: Proletar. Radio-Bewegung u. bürgerl. Rundfunk bis 1945, Frankfurt am Main: Syndikat 1978,  S. 97.
[4] Brecht: Rf. als Kommunikationsapparat, S. 557.
[5] Brecht: Radio – eine vorsintflutliche Erfindung, in: Werke Bd. 21, Schriften I, S. 218.
[6] Capelli, Luciano/Stefano Saviotti und Félix Guattari: Alice ist der Teufel: Praxis einer subversiven Kommunikation, Radio Alice (Bologna) (Internationale marxistische Diskussion 72), Berlin: Merve Verlag 1977.

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