Die Morgenroutine der Alphamenschen – Wie Influencer*innen Genie-Mythen aufleben lassen

von Katharina Walser

Ein kleines ruhiges Zimmer, spärlich eingerichtet, ein Schreibtisch oder eine Leinwand, Tinte und Feder oder Pinsel und Palette, ein Mann in seiner kreativen Versenkung und meist ein kleines Fenster zu der Welt, in der er sich im Angesicht der erhabenen Natur seine Inspiration sucht. Denkt man an das kreative Genie, tauchen unweigerlich diese Bilder der Stille und der künstlerischen Isolation auf, die wir mit den über-kanonischen malerischen Darstellungen von Goethe, Caspar David Friedrich oder Beethoven verbinden, die Künstler wie Otto Rasch, Georg Friedrich Kerstings oder Wilhelm Faßbender als Zeugnis der großen Künstler ihrer Zeit hinterließen.

Die Malerei um 1800 ist voll von dieser Dachstuhl-Romantik, in der es anscheinend nichts Friedlicheres und Stimmigeres gibt als den ungestört kunstvoll schaffenden Menschen, der natürlich fast ausschließlich ein Mann ist. Ein häufiger Impuls beim Betrachten dieser Bilder und der Begriffe, die mit ihnen verbunden sind, ist, sie als veraltet abzutun. “Das Erhabene” klingt nach Gemeinplätzen einer vergangenen Zeit, nach ausgedienten Bildern von Inspiration und Kreativität, mit lästig religiösem Beigeschmack. Doch die Idee des alleine produzierenden “Genies” wurde – wenn auch hier und da maskiert – als Galionsfigur herausragenden Schaffens bis in die Gegenwart erhalten. 

In diesen Bildern des still und alleine vor sich hin produzierenden Künstlers, kommt ein bestimmter Wendepunkt in einer langen Geschichte von Genievorstellungen zum Ausdruck. Diese Peripetie ist relevant, um genauer in den Blick zu nehmen, welche Idee des Genies in der Gegenwart ihr Echo findet. Die gemeinte relevante Wende bezeichnet die kulturgeschichtliche Entwicklung, die sich graduell vor 1800 vollzog, als man das Göttliche immer weiter von der Idee des Kreativen trennte und das Kunstschaffen nicht mehr als das göttliche Wirken durch ein Individuum verstanden, sondern als Schöpfung aus dem Individuum selbst neu verhandelt wurde. Relevant ist dieser Moment deshalb, da erst durch diese Trennung einer externen Quelle vom schöpferischen Künstler, Raum für die Überhöhung und Glorifizierung des Individuums selbst entstand.

Originalität und Autonomie als Maximen

Der künstlerisch Tätige war nun nicht mehr derjenige, der den schöpferischen Geist lediglich verkörperte und handwerklich ausführte, sondern wurde selbst zum Erzeuger des Schöpferischen, der aus einer inneren mystischen Quelle produziert. So wurden sowohl die Originalität als auch die Autonomie zu den Maximen erhoben, nach denen besonders herausragendes künstlerisches Schaffen zu bewerten ist und die beide maßgebend sind, um zu verstehen, wie die modernen Wiedergänger des aufklärerischen Genies heute auftreten. 

Entscheidend für die Rolle des Genies ist (spätestens seit Shakespeare und seinem Bruch mit dem aristotelischen Theater) das genuin Neue, das ein einzelnes Individuum alleine aus einer gänzlich intrinsischen Kraft heraus produziert, eine Kraft, die anderen versagt bleibt. Und auch wenn die Genieforschung nach Shakespeare wesentlich komplizierter und verzweigter ist, als es dieser kurze Abriss vermuten lässt, haben die meisten auf die Aufklärung folgenden Genie-Darstellungen diese Alleinstellungsposition gemeinsam. In ihr zeichnet sich das autonome Genie durch ein Übermaß an kreativem Vermögen aus, das ihn über diejenigen erhebt, die vermeintlich mit weniger Potenzial ausgestattet sind. 

Diese gesellschaftliche Überhöhung des künstlerischen Subjekts, ist es, die auch im modernen Geniebegriff tragend ist, auch wenn der insbesondere in den vergangenen Jahren häufig in die Kritik geriet. Das geschah nicht zuletzt durch die #metoo-Bewegung, die das Subjekt hinter einem künstlerischen Produkt an die Eingebundenheit in eine Wirklichkeit gemahnt hat, in der sich auch das Genie an ethische und gesetzliche Regeln zu halten hat. Aber auch andere kulturpolitische Diskurse der jüngeren Vergangenheit, wie feministische Fragestellungen nach der Verteilung von Care-Arbeit, nach dem Verhältnis von kreativer Arbeit und Lohnarbeit, oder aber die Einflüsse von KI auf unser Verständnis von Kreativität, nagen an dem Bild des alleinstehenden Alpha-Künstlers. 

Doch trotz dieser Arbeit am Abbau des Bildes des unantastbar Schaffenden, überdauert der Genie-Mythos, in den mit ihm konnotierten Wirkungsprinzipien. Denn selbst wenn die “klassischen” Genie-Darstellungen innerhalb des Kreativsektors an allen Seiten zu bröckeln beginnen, taugt diese Figur der radikalen Singularität, besonders gut für die Befeuerung marktwirtschaftlicher und neoliberaler Märchen von ungehindertem ökonomischen Erfolg. Ob in der Erzählung von unbegrenztem Wirtschaftswachstum oder der klassenblinden Idee von universeller Zugänglichkeit zu Wohlstand, die mit der Genie-Figur verbundenen Bilder und Rhetoriken des überdimensionalen Einzelgänger-Erfolgs sind fest mit dem spätkapitalistischen Ideal von ökonomischer Autonomie verstrickt.

Auch wenn das Genie nun also weniger im klassischen Bild des über die Maßen gefeierten Künstlers daher kommt, so stecken die Charakteristika und Funktionsweisen der Genie-Figur dennoch tief in der Rahmenerzählungen der Gegenwart und begegnen uns im Alltag in der Form verschiedener Wiedergänger des genialen Singularitätsmythos. 

Genie-Wiedergänger im ästhetischen Kapitalismus

Eine Form dieser Genie-Wiedergänger zeigt sich in einer Sphäre, die man als Selbstoptimierungskultur bezeichnen kann. Gerade in den visuellen sozialen Medien – also Instagram, Facebook und TikTok – tummeln sich die Propheten dessen, was Kreativitätsforscher*innen als ‘ästhetischen Kapitalismus’ bezeichnen. Es sind Vertreter*innen der New Work Culture, die in langen Posts oder Videos Anleitungen zu einem vermeintlich besseren Leben geben. Das Mittel, um so ein besseres Leben zu erreichen ist dabei grundsätzlich mehr Leistungsfähigkeit. Ihre Beiträge zeigen die erschreckende Nähe einer Entrepreneur-Sprache zu den klassischen Genie-Ideen, während beide postulieren, dass Erfolg rein aus dem Inneren produziert wird. Auch in diesem postmodernen Wiedergänger des Genies wird die Beziehung zwischen künstlerischem Produkt und seinem*r Hersteller*in glorifiziert, nur dass das Objekt nun nicht mehr ein außenliegendes Kunstwerk ist, sondern die eigene Lebensführung und die durch sie erreichte berufliche Leistung. 

Diesen Shift kann man, folgt man der Grundidee des ästhetischen Kapitalismus, als ästhetische Ausweitung bezeichnen. Die These: In einer Zeit, in der Arbeit selbstidentifikatorisches Potenzial erhält (und nichts anderes erzählt uns der Spätkapitalismus), wird ein zunächst rein ökonomisches Feld zu einem ästhetischen bzw. sinnstiftenden umgedeutet. Man könnte also sagen, dass der Kreativitätsimperativ der Gegenwart die Genievorstellung vom Stoff zum Leben hin bewegt – das Ideal ist nicht mehr nur das tätige Subjekt, das die Gesellschaft oder die Wissenschaft mit neuen Erkenntnissen und ausgezeichneter Kunst bereichert, sondern der Lebenskünstler, also derjenige, der es mehr als alles andere versteht, sein Leben nach den korrupten Idealen der Postmoderne zu leben. 

Beispiele aus genannten Selbstdarstellungen der Selbstoptimierer-Bubble zeigen, dass sich dieses Ideal noch über den beruflichen Erfolg hinaus erstreckt, denn der westliche Spätkapitalismus strebt nach nicht weniger als der geglückten Vereinbarkeit von Success und Wellbeing. So schallen einem in Beiträgen von Kanälen mit Namen wie 7millionairemiles oder entrepreneurshipfacts Sätze wie diese entgegen: 

Whatever you want from someone else – Give it to yourself first” / “this app helps u become ur perfect self by helping u making new habits I’m already feeling happier link in bio” / “Forget the money – How would you really enjoy spending your life”/ “Do these 7 things for 50 days to change your life” / “ELON MUSK IS A GENIUS! When Elon Musk was in college he turned his house into a nightclub to pay for rent. Entrepreneurship doesn’t choose you, you choose it!” / “Focus on you liking yourself – of being a good person yourself – on improving yourself – focus on yourself

Yourself, also das Selbst, ist der alleinige Protagonist dieser Optimierungsinhalte, die besonders oft in Form von Reels – also kurzen Videos – als sogenannte Vlogs daher kommen und in knappem Videomaterial den oder die Ersteller*in durch den Tag begleiten. Sie laufen so grundsätzlich gleich ab, dass sich darin ein eigenes Genre erkennen lässt. Das Script geht so: Protagonist*in wacht auf, macht quasi direkt danach in gut sitzender und offensichtlich teurer Yogakleidung ihre Sportroutine (Routine ist ohnehin das Stichwort), danach ein Kaffee – oder der ‘zeremonieller Kakao’ (yes it’s a thing), um danach in das ‘Journal’ zu schreiben (die hippe Version eines Tagebuchs, in dem Ziele für den Tag festgehalten werden), je nach Spiritualitätslevel folgt danach noch eine Meditation mit Manifestation dieser Ziele, danach wird das Bett akribisch gerichtet. Kurz zeigen die Videos den:die Protagonst*in am Laptop (doing whatever) bevor die Mittagsroutine startet (eine nur minimal abgewandelte Version der Morgenroutine). Das Konzept bleibt im Folgenden immer gleich.

Das Märchen der absoluten Autonomie

Die Kernprämisse dieser Selbstoptimierungsadvokat*innen lautet: Wenn du dich nur stark genug auf dein Innerstes konzentrierst und in dich hinein hörst, wirst du in der Lage sein, weniger Zeit tatsächlich mit Arbeit verbringen müssen und stattdessen mit mindfull Routinen (z.B. Yoga) dein volles Potenzial ausschöpfen. Das Ziel dieser Workwell-Anleitungen ist also nicht mehr aber auch nicht weniger als der ökonomische Erfolg, der unter absolutem Wohlbefinden stattfinden soll. Der vermeintliche Schlüssel dazu ist die absolute Konzentration auf das Selbst, das scheinbar – wie wir es von den klassischen Geniebildern bereits kennen – alle Ressourcen, die es für Herausragendes benötigt, bereits in sich trägt. Explizit formuliert sich diese Verschränkung von Entrepreneurgeist und Genie-Mythos unter anderem bei Autoren und ‘Life Coaches’ wie Maxim Menkevich, der Master-Klassen zu den Themen Geld, Berufung und Glück anbietet – buchen kann man eine solche Klasse auf seiner Webseite “Genie-Akademie”. 

Auf den ersten Blick wirken diese Erzählungen natürlich im Kern geradezu gegensätzlich. Das Genie, das mit einer gestalterischen Fähigkeit beschenkt wird, und das Individuum, das Arbeit investiert, damit ein herausragendes Lebenswerk Gestalt annehmen kann. In Zeiten der ästhetischen Ausweitung auf das Individuelle jedoch, im Zeitalter des “Lebenskünstlers”, rücken diese Erzählungen aneinander. Denn was sie beide teilen, ist das Bild vom Erschaffen ohne Fremdeinwirkung, das Gelingen ohne das Zutun Anderer, das Triumphieren als Einzelner. Wie in der korrupten Erzählung vom Tellerwäscher, die so tut, als sei es unabhängig von finanziellem und sozialem Hintergrund oder dem Bildungsstanding möglich überdurchschnittliche ökonomische Ziele zu erreichen, erzählen auch die Beiträge auf Social Media und Life Coaches wie Menkevich, das Märchen von der absoluten Autonomie des Selbst weiter. Denkt man an die malerischen Darstellungen von Goethe und anderen, ist es nicht verwunderlich, dass auch in der Gegenwart die Grundvoraussetzung für den angestrebten Erfolg in Arbeit und Wellbeing, in der Isolation von Anderen zu liegen scheint. 

Wenn nur die Gegebenheiten stimmen, so der Genie-Mythos der Postmoderne, kann man alles schaffen – ob kreatives, geniales Talent oder der harte Wille zur Arbeit, das Genie und der Entrepreneur, sind beides Figuren der absoluten und imaginären Autonomie. 

Imaginär ist diese Autonomie, da diese postmodernen Erzählungen über den beruflichen Erfolg, ebenso wie die klassischen Erzählungen des Genies nur über den Mechanismus der Verschleierung funktionieren. Worin das genaue Vermögen einer solchen radikalen Autonomie liegt, muss weiterhin im Dunkeln gelassen werden, sonst ginge sie nicht mehr auf, die Erzählung vom übermächtigen Inneren. Denn sonst müsste man darüber sprechen, dass diese Kraft aus privilegierten Strukturen entsteht, in denen Menschen überhaupt genug Platz zum Abschirmen haben, Zeit für das Journaling finden, Geld für schicke Yoga-Klamotten erübrigen können und einen Beruf ausüben, der einem das bequeme Laptop-Home-Office ermöglicht.

Dieser moderne Genie-Mythos des ökonomischen Lebenskünstlers verkennt in der Verschleierung dieser Privilegien darüber hinaus auch die Personen, die im Hintergrund der Produktionsarbeit die Care-Arbeit übernehmen. Die Hürden und Probleme der Umwelt bekommen so in der radikalen Einzelperspektive der Genie-Figur ebenso wie in seinem Wiedergänger im Entrepreneur-Lifestyle ihren strukturellen Charakter abgesprochen. Und so zeigt sich auch im modernen Wiedergänger des Genies, dass die Glorifizierung des Individuums oder eines Lebensideals unmittelbar an die Mystifizierung gebunden ist. Ob in der Logik der Gabe oder der Arbeitsleistung aus dem bloßen Inneren, das Genie als Topos versucht die Bedingungen für das (kreative) Schaffen und den Erfolg unkenntlich zu machen – was ein elementarer Kniff jedes gesellschaftlichen Ausschlussprinzips ist. Was im klassischen Genie durch die Gabe verschleiert wird, verschwindet im postmodernen Entrepreneur hinter seiner Produktivität – ein soziales Auffangnetz, Geld, Raum, zeitliche wie physische Ressourcen. Race, Class und Gender sind keine Kategorien im Märchen der triumphalen Produktivität – wo Leistung alles ist, werden die Realbedingungen der Herkunft negiert, ungleiche Verteilung von Vermögen legitimiert und das spätkapitalistische Versprechen erneuert. 

Was bleibt ist die Erkenntnis von der Fruchtbarkeit der Übertragung zwischen Diskursen des Kunstbetriebs und inklusiven, gesellschaftlichen Gerechtigkeitsbewegungen: Denn die Ausschlussprinzipien einer spätkapitalistischen Welt, arbeiten allen voran mit Narrativen und Figurenkonzeptionen, die sie schon immer aus Literatur und Kunst entlehnt haben und die sehr viel älter sind als die freie Marktwirtschaft. Es wäre an der Zeit den Spieß umzudrehen und die annektierten Bilder zu dekonstruieren. Aufzuzeigen, wie ihre Ideen hemmen, wo sie antiquierte Machtstrukturen beglaubigen und welche Bilder wir endlich über Bord werfen sollten, wenn wir ernsthaft an Kapitalismuskritik und inklusiven Lebens- wie Arbeitsbedingungen interessiert sind – das Bild des singulären Schöpfers allen voran. 

Photo von Content Pixie auf Unsplash

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