Die Möglichkeit einer Micky Maus – Über den unwillkürlichen Abschied

von Frank Witzel

Im Sommer 1995 fuhr ich nach Zürich, um mir dort die große Retrospektive des Fotografen Robert Frank anzusehen. Mir ist aus dieser Ausstellung eine einzige Fotografie in Erinnerung geblieben, ein Bild mit dem Titel Sick of Goodby’s. Um es genau zu sagen: Mir ist der Titel dieses Bildes in Erinnerung geblieben und die Tatsache, dass sich der Titel auch auf der Fotografie selbst wiederfindet. Das Foto stammt aus dem Jahr 1978, also aus einer Periode, in der Robert Frank eine neue Art des Fotografierens entwickelte, die mit collagierten Bildmotiven, Wörtern und Sätzen arbeitete, die oft in das Negativ selbst eingekratzt wurden, um sich untrennbar mit der Aufnahme zu verbinden. Ich erinnere mich, dass mir diese Fotografie seinerzeit nicht besonders gefiel, wohl, weil ich die Aussage als zu direkt und aufdringlich empfand. Als ich im Frühjahr dieses Jahres eingeladen wurde, einen kurzen Text zum Thema Abschied zu verfassen und zusammen mit anderen Autoren bei den Salzburger Festspielen vorzutragen, war es jedoch genau dieses Bild, das mir als erstes einfiel.

Ich nahm den Katalog, den ich mir damals gekauft hatte, aus dem Bücherregal und suchte das Foto heraus, das in der oberen Hälfte einen unscharf abgelichteten Arm vor einem schrägen Horizont zeigt, der zwischen Daumen und Zeigefinger eine kleine Puppe am Kopf hält, sowie in der unteren Hälfte einen Spiegel, in dem ein zweiter Spiegel zu sehen ist. Der Titel Sick of Goodby’s steht mit tropfender Farbe über beide Bildteile geschrieben und verbindet sie zu einer Einheit. Die Trennlinien zwischen Fotografie und Zeichnung sind verwischt, das an den Seiten ausgefranste Negativ bearbeitet, Frank hatte nicht nur die Distanz gegenüber seinen Motiven aufgegeben, das eigentliche Motiv wurde in der Dunkelkammer überhaupt erst erstellt. Ich schrieb ein paar erste Gedanken über Franks Arbeitsweise, spekulierte über die Bedeutung seines in diesem Bild verewigten Überdrusses an Abschieden und versuchte eine zaghafte Verbindung zur aktuellen politischen Situation herzustellen, in der erneut Millionen von Menschen Abschiede aufgezwungen wurden, weil sich die Länder, in die sie zufällig hineingeboren wurden, im Kriegszustand befanden. Diese Abschiede wurden so gut wie nie als Einzelschicksale thematisiert, sondern gingen in einer undefinierbaren und unüberschaubaren Menge von Toten, Traumatisierten und Vertriebenen unter. Anstatt in einer solchen Situation die Zufluchtsmöglichkeiten zu erweitern und unbeteiligte Länder mit Friedensverhandlungen zu beauftragen, wurde selbst in der Schweiz das Prinzip der Neutralität als unzeitgemäß infrage gestellt. Allerdings wies diese sprichwörtliche Grundlage der Schweizer Verfassung bereits während des Nationalsozialismus Lücken auf, denn Robert Frank, obwohl 1920 in Zürich als Sohn einer Schweizerin geboren und dort aufgewachsen, wurde 1941 durch eine erneute Verschärfung des Reichsbürgergesetzes der Nationalsozialisten als Jude zusammen mit seinem deutschen Vater und seinem Bruder für staatenlos erklärt. Einem Antrag auf Schweizer Staatsbürgerschaft wurde erst 1945 stattgegeben. 1947 wanderte Frank in die USA aus.

Ich versuchte in meinem Nachdenken über die Ambivalenzen der Neutralität eine Unterscheidung auszumachen zwischen individueller Neutralität, die womöglich, wie Robert Frank es in seinen Arbeiten zeigt, weder praktizierbar noch sinnvoll ist, und einer staatlichen Neutralität, die genau darum, weil sie dem Individuum verschlossen bleibt, eine wichtige Funktion einnimmt. Hatte mich die fehlende Distanz des 58-jährigen Robert Frank damals in Zürich gestört, so war gerade sie, wie ich nach beinahe drei Jahrzehnten feststellen musste, in meiner Erinnerung präsent geblieben. Nun sah ich in dem Foto auch die politische Neutralität symbolisiert, deren Wert als kulturelle Errungenschaft mir seinerzeit beim Betrachten des Bildes nicht in den Sinn gekommen war: Sie wurde durch das unscharfe Püppchen verkörpert, das vor dem schrägen Horizont eines Meeres in der Luft baumelte, aus der es jeden Augenblick fallengelassen werden konnte.

Bereits am nächsten Tag war ich jedoch mit dem Notierten nicht mehr zufrieden. Mich beschlich der Verdacht, einige allzu naheliegende Gedanken aneinandergereiht zu haben, die auf diese Weise schon tausendmal gedacht und dargelegt worden waren. Deshalb versuchte ich einen neuen Zugang, indem ich mich stärker auf das künstlerische Element in Franks Arbeit konzentrierte, die sich in den 1970er Jahren mit den Möglichkeiten bildlicher Darstellung und der Bedeutung von Titeln und Inschriften – in der Tradition von Magrittes Ceci n’est pas une pipe – in Bezug auf das Dargestellte beschäftigte. Doch meine Unzufriedenheit verstärkte sich, da ich auch über dieses Thema bereits mehrfach nachgedacht und geschrieben hatte.

Am Abend blätterte ich im New Yorker und stieß auf einen Artikel, in dem die Autorin Jiayang Fang über Krankheit und Tod ihrer Mutter schrieb. What am I without you?, lautete die Überschrift, die mit der Genrebezeichnung Personal History überschrieben war und den Untertitel trug: Two lives merged by immigration and illness. Erneut war ich auf eine Verbindung von Privatem und Politischem und den daraus sich entwickelnden Spannungen gestoßen. Der Text war durchaus gelungen, doch störte mich auch hier, wie bei dem, was ich gerade selbst zu schreiben versuchte, dass ich ihn lesen konnte, ohne an irgendeiner Stelle zu stolpern oder aus dem Tritt zu geraten. Ich musste an eine Anekdote denken, in der Morton Feldman in den 1950er Jahren seinen Studenten zuerst eine Komposition von Pierre Boulez, dann eine von John Cage vorspielt und sie nach ihrer Meinung fragt. Als er mehrheitlich die Antwort bekommt, die Musik von Boulez sei interessant, die von Cage hingegen unverständlich, bemerkt er: »Das liegt daran, dass ihr das, was Boulez schreibt, schon hundertmal zuvor von anderen Komponisten gehört habt, das von Cage hingegen noch nie.«

Für den Essay „Die Möglichkeit einer Micky Maus“ erhält Frank Witzel den WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis. Dieser erscheint als Band 5 der WORTMELDUNGEN-Reihe im Verbrecher Verlag.

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