Die große Schwester – Wiederbegegnung mit „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“

 

„Irgendwann fing das Jahr 1977 an.“

Christiane F.

 

von Till Raether 

 

Es ist ungefähr vierzig Jahre her, dass ich Wir Kinder vom Bahnhof Zoo gelesen habe, den autobiographischen Bericht von Christiane F., einem heroinabhängigen Kind. Ein Buch, das mich wie kein zweites beeindruckt und geprägt hat. Was sicher daran lag, dass ich damals selbst ein Kind war. Aber auch an zwei, drei anderen Faktoren, die ich hier, durch eine Wiederlektüre, zu verstehen versuche.

Damals war ich in etwa elf, höchstens zwölf Jahre alt, es war kurz nach der Trennung meiner Eltern. Mein Übergang in die weiterführende Schule stand bevor (in Berlin-Zehlendorf fast automatisch ein Gymnasium), und ich nehme an, dass meine Mutter das Buch damals besorgte, weil es 95 Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste stand, also Gesprächsthema unter Bekannten und Schuleltern war, und weil sie vermutlich Sorge hatte, dass alle Kinder gefährdet sein könnten, den Weg von Christiane F. zu gehen, also auch meine Schwester und ich: Hasch mit zwölf, Heroin mit 13, Anschaffen am Bahnhof Zoo, im Hintergrund verzweifelte, hilflose Eltern. Das zeitspezifische Bild der gefährdeten Kindheit also, die im schlimmsten Fall mit dem „goldenen Schuss“ auf einer öffentlichen Toilette endete, und nur in Christianes Fall damit, mit 16 die ganze Geschichte zwei Stern-Reportern zu erzählen.

Ich denke, dass es einander chronologisch überlagernde Angst-Motive in der Bundesrepublik und West-Berlin gab, Kinder betreffend: die Kindsmörder in den Sechziger Jahren, die Anziehungskraft des Terrorismus in den Siebzigern, dann das Heroin, in den frühen Achtzigern, dann die „Sekten“: diffuse, medial und anekdotisch verbreitete Bedrohungsszenarien, auf die Eltern reagieren mussten. Und sei es, indem sie Wir Kinder vom Bahnhof Zoo kauften, um mit dem Schlimmsten rechnen zu können.

Ich erinnere mich, dass ich das Buch heimlich las. Ich hatte keine realistische Vorstellung von Sexualität, geschweige denn davon, dass es beinahe Gleichaltrige gab, die für Geld oder Heroin Sex mit Erwachsenen in Autos, auf Toiletten oder in Pensionszimmern auf Beistellbetten hatten (also, was niemand damals so nannte: systematisch vergewaltigt wurden). Drogen waren 1980 oder ‘81 ein permanentes Hintergrundrauschen. Der Alltagsdiskurs der Bundesrepublik und West-Berlins war nahtlos übergegangen von „aber die Terroristen“ zu „aber die Drogen“. Auf meinem Schulweg las ich mit Begeisterung die in den Händlerschürzen ausgestellten Titelseiten von Bild und BZ, auf denen von besonders jungen Drogentoten berichtet wurde. Mit Fotos, die in ihrer Ikonographie ganz ähnlich den Terror-Fahndungsplakaten waren: junge Menschen, gejagt oder betrauert mit gerasterten Fotos aus Personalausweisen, Polizeiakten oder Bewerbungsschreiben. An meiner Grundschule gab es einen Elternabend zum Thema weiterführende Schulen, und danach berichtete meine Mutter der Nachbarin Frau Hundt: Über die Schadow-Schule hinterm S-Bahnhof gäbe es das Gerücht, das sei eine „Drogenschule“. Auf den Toiletten würden Kinder aus den unteren Klassen „von Oberstüflern angefixt“. Man bekäme also gegen seinen Willen eine Heroinspritze und sei dann sofort süchtig (dies traf, zumindest ab August 1981, meiner Einschulung in die 7. Klasse, nicht zu).

Ich wusste also: Das Christiane-F.-Buch handelte von etwas, das Eltern beunruhigte, und ich sollte es nicht lesen, weil es, so meine Mutter, „noch nichts für mich wäre“. Als wäre das Buch nicht schon ohne diese zusätzliche Werbung unwiderstehlich genug gewesen. Das Cover der alten Ausgabe Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Nach Tonbandprotokollen aufgeschrieben ...zeigte den Eingang der Diskothek Sound, die ich vom Namen her kannte, weil diese Disko überall in der Stadt auf Plakaten warb, auch auf meinem Schulweg. Also bekam etwas mir Alltägliches eine wunderbar bedrohliche Note. Und hintendrauf war ein ganz nah aufgenommenes Porträt der 15-jährigen Christiane: die Haare glatt in der Mitte gescheitelt und eng anliegend nach hinten, die Augen dunkel geschminkt, ernst, fast madonnenhaft, für meine damaligen Begriffe fast überirdisch schön. Also las ich Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, sobald meine Mutter nicht da war, auf einem skandinavischen Esstischstuhl, den ich vors Regal schob, damit ich das Buch schnell unbemerkt zurückstellen konnte, wenn meine Mutter zurückkam.

Die Neuausgabe im Carlsen-Verlag, der das Buch seit einigen Jahren bizarrerweise als ganz normales Jugendbuch vermarktet, zeigt nicht mehr das Porträt von Christiane F. Ich vermute, weil sie sich irgendwann dagegen entschieden hat, ihr Buch mit einem Bild von sich als Kind vertreiben zu lassen. Aber in der Mitte sind immer noch die gleichen Schwarzweiß-Fotos aus der Originalausgabe, die damals beim Blättern meine erste Begegnung mit der Welt von Christiane F. waren. Porträts von Jugendlichen und Kindern, von denen einige im Buch auftauchen, und die alle so aussehen wie jene Jugendlichen, die im Schönower Park mit ihren Mofas auf dem sogenannten „Mäuerchen“ der „Festung“ standen und mit Verachtung auf uns Grundschüler runterschauten, wenn überhaupt. Oder wie die älteren Nachbarskinder, mit denen ich vor ein paar Monaten noch Fußball auf dem Wäscheplatz gespielt hatte. Nur, dass in den Bildlegenden meist steht, diese Kinder hier seien nun tot. Andere Bilder zeigen „Jugendliche Fixerinnen auf dem ‚Baby-Strich‘ an der Kurfürstenstraße‘“, offenbar heimlich aufgenommen, drei im Gespräch, eine steckt sich gerade die Haare hoch, eine Alltagsszene: Sie sehen von weitem aus, als kämen sie gerade vom Lippenstiftklauen im Woolworth. Die Fotos zeigen „die Wohnung eines Heroinabhängigen“ mit den Matratzen auf dem Fußboden und sonst nur Müll, was dann noch in den Neunzigern unsere Chiffre war für „neu in der WG und keine Kohle für Möbel“: wie in einer Fixerwohnung.

Es sind Bilder im journalistisch verbrämten Stern-Voyeurismus der damaligen Zeit, zu denen ich als Kind keinerlei kritische Distanz hatte. Die Pissflecken in der Unterhose eines Fixers, der sich vor Zivilpolizisten in einem gekachelten Raum ausziehen muss, waren für mich der Gipfel schonungsloser Wahrhaftigkeit; ebenso das Foto einer toten Achtzehnjährigen auf dem Boden einer öffentlichen Toilette, gegenüber eines Porträts von ihr lebendig im Blümchenkleid, barfuß, mit Zigarette und finster selbstbewusstem Gesichtsausdruck. Heute sehe ich das und denke: Wirklich? Das Bild einer Toten mit halb entblößter Brust, ultimativ handlungsunfähig, endgültig einwilligungsohnmächtig, in einem Carlsen-Jugendbuch? Und hinten im Buch dann Werbung für YA-Drogen- und Horrorthriller, als wäre Wir Kinder vom Bahnhof Zoo nichts anderes?

Es ist nicht der einzige Schock bei der Überprüfung der Lese-Erschütterung von damals. Die Wiederlektüre offenbart mir noch andere elementare Grenzüberschreitungen, die mir 1980/81 verborgen blieben. Vielleicht blieben sie mir damals auch verborgen, weil diese Lektüreerfahrung für mich als Kind eine einzige Grenzüberschreitung war. Wir Kinder vom Bahnhof Zoo lesend, bewegte ich mich über eine unsichtbare Linie, in eine komplett fremde und dennoch tief vertraute Welt, die nicht meine und eben doch meine war. Damals wie heute zeigt das Buch sozusagen eine Kippfigur meines damaligen West-Berlins: Vertraute Orte tauchen in Negativbildern wieder auf. 

Das beginnt natürlich mit dem Bahnhof Zoo, wo wir meine Großmutter vom Zug abholten, wenn sie aus Koblenz kam, und wo ich ausstieg, wenn ich mit dem Bus verträumt zwei Haltestellen zu weit fuhr, denn mein Vater arbeitete Uhlandstraße Ecke Kurfürstendamm. Der Bahnhof Zoo war gewissermaßen das Scharnier meiner West-Berlin-Erfahrung mit Christianes, denn meine Wahrnehmung deckte sich zumindest mit ihrer Beschreibung, wenn auch nicht mit ihrem Erleben. Was für sie Treffpunkt mit Freund*innen, Geldquelle und Drogenszene ist, erlebte ich beim Durchlaufen so, wie sie es beschreibt, aber ohne die Strukturen zu sehen: heruntergekommen, schmutzig, kriminell und unwirtlich. Alle anderen Orte im Buch aber gab es, so erlebte ich das damals, einmal in einer Christiane- und einmal in einer Till-Realität: Kurfürstenstraße Ecke Potsdamer Straße, für sie der so genannte „Babystrich“, für mich die Ecke, an der die Patentante meiner Mutter in einer Seniorenwohnanlage wohnte und Lord Extra rauchte. In der Neubausiedlung Gropius-Stadt, wo Christiane mit ihren Eltern im 11. Stock lebte und von ihrem Vater misshandelt wurde, hatten die Eltern einer Freundin von mir auf dem U-Bahnhof Lipschitzallee einen Imbiss. Abends brachten sie uns in Alufolie eingewickelte Currywurst mit Pommes mit nach Zehlendorf. 

Die U-Bahnstation Bülowstraße war Christianes liebste Anlaufstation zum Fixen, da die Toiletten vergleichsweise sauber waren, aber auch Todesort ihrer Freundinnen; für mich ein sonntägliches Vergnügen, wenn meine Eltern (vor der Trennung) mit uns den dort auf der Hochbahn zwischen Bülowstraße und Nollendorfplatz gelegenen Dauerflohmarkt besuchten, ein idyllisches Kitschfest erfundener West-Berliner Miljö-Gemütlichkeit. Bei „Synanon“ hätte Christiane gern ihren Entzug gemacht, einer besonders strengen Selbsthilfegruppe, deren Mitglieder kahlgeschorene Köpfe hatten, und die ihr Geld mit einer Spedition verdienten. Mein Vater zog mit den „Synanon“-Möbelpackern aus unserer Wohnung in Zehlendorf-Mitte aus. In der grauenvollen Deutschlandhalle hinterm Funkturm besuchten meine Familie und ich bis 1979 jedes Jahr das so genannte „British Tattoo“, für das mein Vater als Bundesbeamter Freikarten bekam. Angehörige der Britischen Streitkräfte führten dort Dudelsack-Choreografien, ihre Waffen und Sondereinsatzkommando-Spektakel vor, für mich berauschend. Christiane erlebt hier zur gleichen Zeit ihr David Bowie-Konzert und spritzt danach zum ersten Mal Heroin: „Das war am 18. April 1976, einen Monat vor meinem 14. Geburtstag. Ich werde das Datum nie vergessen“, schreibt sie, und eine Seite weiter: „Es gab Momente, wo ich mir etwa sagte: ‚Mensch, du bist 13 und warst schon einige Monate auf H. Ist doch irgendwie scheiße.‘ Aber das war dann sofort wieder weg.“

Und natürlich war das neben den geographischen Berührungspunkten und der Angstlust mein Portal in das Buch: die empfundene fast exakte Gleichaltrigkeit. Ich las das Buch in einem Alter, als für Christiane die weichen Drogen bereits in Reichweite waren. Ein bisschen schien die Lektüre, als würde ich in meine mögliche Zukunft blicken. Aber auch heute, beim Wiederlesen, kann ich mich dieser Gleichaltrigkeit in gewisser Weise nicht entziehen. Heroin ist zwar nicht mehr das gesellschaftlich befeuerte Angstthema wie vor vierzig Jahren; aber meine Kinder sind sozusagen 13 (nämlich zwölf und 15), und so, wie ich mich damals in Christiane sah und nicht sah, sehe ich heute flackernde Schatten ihrer potenziellen Lebensverläufe in Christianes Buch.

Wie aber konnte ich mich damals, als elf- oder zwölfjähriger Zehlendorfer Klein- oder Bildungsbürgersohn mit einer Sechzehnjährigen Erzählerin und ihren existenziell düsteren Erlebnissen identifizieren? Durch ein Gerichtsverfahren im Sommer 1978 wurden die Stern-Reporter Kai Hermann und Horst Rieck auf die verurteilte Christiane F. aufmerksam. „Nach Tonbandprotokollen aufgeschrieben“ , steht vorne im Buch. Tage- und wochenlang, während derer Christiane clean bei Verwandten in der norddeutschen Provinz lebte, erzählte sie ihnen ihre Geschichte. Kein Verlag interessierte sich für das Manuskript, einer empfahl, eine wissenschaftliche „case study“ daraus zu machen. Bis die Zeitschrift Stern kurzerhand einen eigenen Verlag gründete und das Buch, unterstützt durch eine große Serie im Heft, selbst auf den Markt brachte: ein unfassbarer Erfolg, von dem Christiane Felscherinow, wie sie es unter ihrem vollen Namen 2013 in einem weiteren Buch beschrieb, noch Jahrzehnte leben konnte, obwohl der Profit gedrittelt wurde.

Das Erstaunliche und Erfreuliche ist, beim Wiederlesen, und nachdem ich mich jahrelang als Redakteur selbst durch oft eher misslungene Protokolle gequält habe: Hermann und Rieck haben sicherlich die Chronologie der Erzählung strukturiert und hier und da Informationen eingefügt, aber sie lassen Christiane F. einen unverwechselbaren Ton. Da ist der „urische Horror“, den sie vorm Umzug nach Berlin hat, ihr Vater, der sie „vertrimmt“ oder von dem es „Kloppe gibt“, wenn die Nachbarskinder ihr Fahrrad kaputt machen oder sie und ihre Schwester das Zimmer nicht aufräumen. Die merkwürdigen Details: dass es das Schlimmste ist, wenn man den kleineren Kindern in der Gropius-Stadt die Kochlöffel wegnimmt, weil sie nur mit denen an die Fahrstuhlknöpfe kommen, ohne Kochlöffel müssen sie Dutzende Treppen steigen. Und für mich als Jungen, der sich für Sarah-Kay-Merchandise und Monchhichis interessierte und mit Elizabeth aus Die Waltons identifizierte, war das Buch voller faszinierender Einsichten, von denen ich immer noch denke, sie stammen nicht von Hermann oder Rieck: „Ich wurde zwölf, bekam ein bisschen Busen und begann, mich auf ganz komische Art für Jungen und Männer zu interessieren. Die waren für mich seltsame Wesen. Sie waren alle brutal. Die älteren Jungen auf der Straße genauso wie mein Vater … Ich hatte Angst vor ihnen. Aber sie faszinierten mich auch. Sie waren stark und hatten Macht. Sie waren so, wie ich gern gewesen wäre. Ihre Macht, ihre Stärke … zogen mich an.“

Auch Christianes scheinbar ziellose, aber tiefe Wut beeindruckte mich als braves Scheidungskind, das sich niemals Wut erlaubt hätte: „Was erzählen Sie uns hier bloß für eine Scheiße. Was heißt hier Umweltschutz?“, schreit die zwölfjährige Christiane einen Lehrer an. Für den zwölfjährigen Till, der es allen recht machen will, undenkbar: „Das fängt doch erst mal damit an, dass die Menschen lernen, miteinander umzugehen. Das sollten wir an dieser Scheißschule erst mal lernen. Dass der eine irgendein Interesse für den anderen hat. Dass nicht jeder versucht, das größte Maul zu haben und stärker zu sein als der andere, und dass sich jeder nur gegenseitig bescheißt und ablinkt, um bessere Noten zu bekommen.“ Mich zog das Pathos an, mit dem sie ihre Clique, ihre Leute beschreibt: „In der U-Bahn fand ich es an jeder Station geil, wie neue Leute einstiegen, denen man genau ansah, dass sie ins Sound wollten. Astrein in der Aufmachung, lange Haare und zehn Zentimeter hohe Stiefelsohlen. Meine Stars, die Stars des Sound.“ Meine U-Bahnfahrten führten mich im gleichen Alter zur Kleintierpraxis im Wedding, weil mein Kanarienvogel nicht fraß.

Nicht zuletzt ist das Buch voll von unvergesslichen Details. Das legendäre „Quarkfein“, das ihre Fixerfreundin in den Quark rührt. Die alte Fönverpackung an der Strippe, die Christiane einem ungeduldigen Freier vom elften Stock hinunterlässt, damit er ihr Heroin hinauf in den Hausarrest schickt, und sie ihm zum Preis ihre Unterhose hinunter , und Nachbarskinder angeln ahnungslos nach dem Transportsystem. Die Worte, die sie für ihre Beziehung zu ihrem Freund Detlef findet, und die mit elf oder zwölf womöglich meine Vorstellung von Partnerschaft mehr prägten, als mir bewusst war: „Wir schliefen Rücken an Rücken, die Hintern aneinandergeschmiegt.“ Und dann natürlich ihr Wissen, oder das, was ich dafür hielt: „Es war … nicht so, dass ich armes Mädchen von einem bösen Fixer oder Dealer bewusst angefixt wurde, wie man es immer in Zeitungen liest. Ich kenne niemanden, der gegen seinen Wunsch angefixt wurde. Die meisten Jugendlichen kommen ganz allein zum H, wenn sie so reif dafür sind, wie ich es war.“

Würde ich eines Tages reif dafür sein? Es machte mir keine Angst. Zum einen, weil ich, wie Christiane F. gesagt hätte, vor Spritzen „einen urischen Horror“ hatte und mich daher sicher wähnte. Zum anderen, weil mir beim Lesen etwas zu wachsen schien, was man heute Resilienz nennt: Es war und ist ein Ereignis, Christiane F., die Protagonistin, dabei zu verfolgen, wie sie einen Tiefpunkt nach dem anderen auslotet, sich davon aber nicht entmutigen lässt, und Christiane F., der Erzählerin, dabei zuzuhören, wie hellsichtig und klar sie das beschreibt, ohne mit 16 auf ihren eigenen Bullshit als 13- oder 14-Jährige hereinzufallen. Ich glaube, dass Christiane F. für mich als verwirrtes Scheidungskind, das sich seine Traurigkeit nicht eingestehen mochte und durfte, eine Art unmittelbares Vorbild war: wenn Christiane DAS durchgestanden hat, dann dürfte es dir bitte nicht schwerfallen, JENES HIER abzuwickeln.

Zum anderen kam mir als romantischem, melancholischem Vorpubertierendem das charakteristisch Diffuse von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo entgegen. Zwar bemühen sich die beiden Stern-Reporter, mit eingeschobenen Protokollen der Mutter, eines Jugendpfarrers und einer Kriminalpolizistin sowas wie erhellenden familiären und gesellschaftlichen Kontext zu schaffen, aber letztendlich war das aus meiner damaligen Sicht langweiliges und ist aus meiner heutigen Sicht formloses Geschwafel: Wir leben in einer Gesellschaft. Die hilflosen Ausführungen der Erwachsenen verstärken nur den Eindruck des scheinbar Unausweichlichen: „Die meisten Jugendlichen kommen von allein zum H, wenn sie so reif dafür sind, wie ich es war.“ Das klingt nach einem fast mystischen, fast unabwendbaren Prozess: keine Orte für Kinder und Jugendliche in den Trabantenstädten, verständnislose Lehrer, und Eltern, die mit sich selbst beschäftigt sind. Ergo, Heroin.

Man erfährt aus Wir Kinder vom Bahnhof Zoo nichts über die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Gründe der Drogenkrise Mitte, Ende der Siebzigerjahre. Das wäre auch zu viel verlangt. Aber worum es geht, versteckt das Buch direkt an der Oberfläche: Damals fiel es mir nicht auf, weil Christiane es so salopp beschreibt, aber heute scheinen mir die Auslöser ihrer eigenen Krise in der Gewalt und im Alkoholismus des Vaters und in der nachvollziehbaren Überforderung der Mutter zu liegen, eingebettet in ein Umfeld, das gesellschaftlich bedingt keine Mechanismen gegen und keine Sensibilität für die epidemische Gewalt von Männern gegen Kinder und Frauen hat. Das Buch handelt, ohne es zu analysieren, so sehr von der Gewalt des Vaters, dass sich Christiane Felscherinow Jahrzehnte später für diese eine Sache entschuldigt in ihrem zweiten Buch: dass sie den Vater so bloßgestellt hat.

Es ist eine schockierende Erfahrung, Wir Kinder vom Bahnhof Zoo wiederzulesen mit der Erkenntnis: Es stand doch immer da. Wie schlecht die Eltern sie behandelt haben, vor allem und ganz zuerst der Vater. Warum habe ich damals nur die fast barocke Zwangsläufigkeitserzählung wahrgenommen, Drogensucht als Station auf dem sich ewig drehenden Rad jugendlichen Lebens Ende der Siebziger, mal ist man drauf, mal entzieht man, dann ist man wieder drauf, und so weiter? Vielleicht waren mir die eigenen Eltern, die sich gerade anschickten, meine Schwester und mich auf viele Arten und Weisen im Stich zu lassen, noch zu heilig, als dass ich mir mit elf oder zwölf hätte eingestehen mögen, wie intensiv das Buch von vor allem väterlicher Vernachlässigung und Misshandlung spricht. Heute macht es mich traurig, viel trauriger als damals. Ein kleines bisschen, stellvertretend, für mich, und sehr für die anfangs auch nur zwölfjährige Christiane. Übrigens glaube ich, dass ich sie damals, als kindlicher Leser, geliebt habe. Nicht romantisch, geschweige denn erotisch, sondern wie eine große Schwester, die ich damals in vielem suchte, was ich las: eine, die mich versteht, und die mehr weiß als ich, die mich kennt, und die mir abnimmt, der große Bruder sein zu müssen.

Wegen eines anderen Punktes aber bin ich nun, 2020, beim Wiederlesen enttäuscht von dieser Erzählerin, die ich damals mit meiner Idealisierung übermalte. Darf ich das? Mit 51 enttäuscht sein von einer 16-Jährigen? Natürlich nicht. Aber es geht auch nicht um sie oder mich. Es geht eher um die Bundesrepublik wie sie war und wie sie ist. Christianes Welt in Wir Kinder vom Bahnhof Zoo ist beherrscht von Hierarchien: Da sind zuerst die Eltern und die Lehrer, gegen die die entrechteten Kinder sich auflehnen. Über den normalen Kindern stehen die coolen Kiffer aus dem Jugendzentrum. Über den Kiffern dann nach kurzer Zeit jene, die schon Erfahrungen mit Heroin haben. Hier stehen erst die, die Heroin nur „sniefen“, über denen, die „drücken“. Das ändert sich schnell, dann sind die Fixer die „Stars“. 

Als das Elend um sich greift, geht es schnell darum, wer noch weiter unter einem steht, dafür hat die Erzählerin einen präzisen Blick: Erst sind es die kaputten älteren Fixer, die, im Gegensatz zu ihr und ihrem Freund Detlef, schon richtig drauf sind und nur noch auf den „goldenen Schuss“ warten. Dann sind es die Freier: „Ich verachtete die Freier. Was für Idioten und perverse Säue mussten das sein, die da geil und feige durch die Bahnhofshalle schlichen und aus den Augenwinkeln nach frischem Kükenfleisch peilten.“ Und unter denen gibt es wiederum zwei Gruppen, die aus Sicht der jugendlichen Christiane ganz unten stehen: die besonders aufdringlichen schwulen Freier von Detlef, auf die sie eifersüchtig ist, und die sie deshalb an einigen Stellen schwulenfeindlich beschimpft: „Mensch, begreifst du nicht, Detlef gehört mir und sonst niemandem und schon gar keiner schwulen alten Sau.“ 

Noch allgemeiner und grundsätzlicher aber wird sie, wenn sie sich über als ausländisch markierte Männer äußert, die sie pauschal mit dem K-Wort belegt: „Als Detlef kurz mit einem anderen Jungen quatschte und ich einen Moment alleine stand, machten mich gleich irgendwelche K. an. Ich hörte nur ‚sechzig Mark‘ oder so was.“ Die Auslassung stammt von mir. Eine Errungenschaft der jüngeren Zeit. Christiane macht keinen Hehl daraus, sich vor allem dieser Gruppe von Freiern überlegen zu fühlen: „Die Freier machten mich anfangs noch wild. Vor allem die K. mit ihrem ewigen: ‚Du bumsen? … Du Pension gehen?‘ Zwanzig Mark boten manche. Nach kurzer Zeit machte es mir echt Spaß, die Typen anzumachen. Ich sagte: ‚He Alter, du spinnst wohl. Unter fünfhundert kommt einer wie du bei mir sowieso nicht ran.‘ … Das gab mir schon ein gutes Gefühl, wenn die geilen Säue dann die Schwänze einzogen und sich davonschlichen.“ 

Als sie ihren schlimmsten Rückfall hat, sind es keine Freier mehr, sondern Dealer, von denen sie sich mit dem K-Wort distanziert. Auf der Hasenheide, wohin sie aus dem Entzug ausgebüchst ist, trifft sie einen alten Bekannten. „Er brachte mich zu ein paar K. und ich kaufte ein halbes Halbes.“ Jetzt ändert sich ihre Wahrnehmung: „Auf der Hasenheide war es ganz egal, was für eine Droge man nahm. (…) Da waren Gruppen, die machten Musik auf Flöten oder Bongos. K. lagen da auch rum. Alle waren wie eine große, friedliche Gemeinschaft. Mich erinnerte das ganze Feeling hier an Woodstock, wo es ganz ähnlich gewesen sein musste. (…) Ich lernte dann auch den K. kennen, von dem ich am ersten Tag … das Dope gekauft hatte. Ich legte mich mal eben auf die Decke, auf der er mit ein paar anderen K. hockte. (…) Er hieß Mustafa und war Türke. Die anderen waren Araber. (…) Den Mustafa fand ich irgendwie sehr cool.“ Denn, wie sie wenig später beobachtet: „Ich merkte, dass diese K. echt mit Rauschgift umgehen konnten. (…) Ich lernte K. nun also mal ganz anders kennen. Nicht als Du-bumsen-Freier, die für Babsi, Stella und mich immer das Letzte gewesen waren. Mustafa und die Araber waren sehr stolz.“ Und so weiter. Bis zur Erkenntnis: „Ich kam drauf, dass K. den Deutschen irgendwo auch einiges vorhaushaben.“

Dieser Übergang von der tiefsten Verachtung zur faszinierten Idealisierung anhand gängiger Othering-Klischees (stolz, cool, beschützend), dem rassistischen Klischee vom edlen Wilden folgend, zieht sich bis in Christiane Felscherinows zweite Autobiographie von 2013, in der sie über einen griechischen Mann auf ähnlich exotisierende Weise schreibt. Und ohne irgendeine Reflexion ihrer damaligen Wortwahl. Die, so ergibt zumindest meine Suche in alten Rezensionen, auch damals, als Wir Kinder vom Bahnhof Zoo erschien, niemanden interessiert hat. Nicht genug, um Christianes Blick auf als ausländisch markierte Menschen zumindest nebenbei zum Thema zu machen. Auch in der ausführlichen aktuellen Analyse auf Wikipedia wird das Thema nicht aufgegriffen. Lediglich Tobias Rapp erwähnt den rassistischen Sprachgebrauch 2001 in einer kurzen taz-Kolumne, allerdings nur als fast nostalgisch wahrgenommenes Zeichen der Zeit.

Mir fällt es bei der Wiederlektüre 2020 auf, und es versetzt mir einen Stich, weil ich merke: die Christiane, die 1980 oder 81 meine Heldin war und die große Schwester, nach der ich mich sehnte, war ein ganz normales Kind ihrer Zeit, und ich auch. Man redete eben so, und es fiel niemandem auf. Wobei, meinen Eltern schon: Wenn meine Schwester oder ich berichteten, in der Schule sei das K-Wort gefallen, sagten meine Eltern, typische Liberale der See-No-Colours-Schule: Das dürfte man natürlich nicht sagen, und es sei, wenn man es sage, auch sinnlos, denn es bedeute „in der Südseesprache“ eh einfach „Mensch“, und Menschen seien wir ja alle. Ein Double-Bind, der mir als Kind nicht weiterhalf, bzw. mind-blown-Emoji: Man „darf“ es nicht sagen, aber „Menschen“, also K., sind wir alle, also hä?

Beim Wiederlesen von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo merke ich also nicht nur, dass es ein für meine Begriffe sehr gut protokollierter, mitreißender, anschaulich erzählter Text ist. Ich merke auch, was ich als überfordertes Scheidungskind bei dieser Heldin und dieser Erzählerin gesucht und gefunden habe, ihren Text damit überfordernd, und: mich und meinen Schmerz überhöhend. Und ich merke, wie sehr mich heute die rassistischen Diskurse der Bundesrepublik verstören, mit denen ich aufgewachsen bin, als wären sie das Normalste von der Welt. Letztendlich beschreibt Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, wie die Erzählerin aus einer als feindlich und eng empfundenen Welt in eine andere, idealisierte flieht, in der dann wieder nur Elend wartet. Dieses Elend besteht aber eben auch darin, dass in der Drogenwelt jene Diskurse und Machtstrukturen reproduziert werden, die die andere Welt überhaupt erst zur Hölle machen. Dass Rassismus ein fundamentaler Teil dieser Machtstrukturen ist, dafür hatten weder die Kinder, noch die Eltern, noch die Bestseller der Bundesrepublik eine Sprache.

 

Die Constantin Film hat für Amazon Prime “Wir Kinder vom Bahnhof Zoo” gerade als 8-teilige Serie verfilmt, angekündigt für 2021. Die Produktionsfirma bewirbt das in die Jetzt-Zeit versetzte Projekt mit den Worten: “Die Geschichte der Kinder vom Bahnhof Zoo bietet seit der Erstveröffentlichung des Buches im Jahr 1978 Stoff für Diskussionen. Die Serie ist eine moderne und zeitgenössische Interpretation, inspiriert von den packenden Memoiren von Christiane F. und folgt sechs Jugendlichen, die ungestüm und kompromisslos für ihren Traum vom Glück kämpfen. Sie sind keine Opfer, sondern jung, mutig und stark und ihre Geschichte ist absolut berührend und mitreißend. In acht Folgen zeichnet „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ dabei ein ebenso provokatives, kontroverses wie eindrückliches Bild der Berliner Drogen- und Clubszene.” 

Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, Stern-Buch, Hamburg 1978. Neuausgabe: Carlsen Verlag, Hamburg o.J.

Christiane V. Felscherinow, mit Sonja Vukovic: „Christiane F. – Mein zweites Leben”, Deutscher Levante Verlag, Berlin 2013

 

Photo by Mike Palmowski on Unsplash

 

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