Warum Superheld:innen Spaß machen – Absurdität, Ermächtigungsfantasie, Mitreden

 von Jonas Lübkert

 

Superheld:innen sind allgegenwärtig. Zum ersten Mal seit 2008 erschien 2020 kein Film der Marvel Studios. Das Superheld:innenthema blieb allerdings präsent; dafür sorgten Birds of Prey und Wonder Woman 2 aus dem DC Extended Universe, Netflixserien wie Umbrella Academy, die Amazonserien The Boys und Spiele wie Marvel´s Spider-Man: Miles Morales die von der Games Community mittlerweile nicht mehr als Wegwerf-Merchandiseprodukte wahrgenommen werden, sondern sich zwischen den Klassikern der Branche einordnen. Selbst wenn man alle Comics aus demselben Genre ignoriert, was in Deutschland auch häufig geschieht, fliegen einem Personen mit Superkräften teils wortwörtlich in allen anderen Bereichen um die Ohren.

Diese Tatsache hat einige kulturkritische Essays mit jeweils demselben Inhalt hervorgebracht: Geschichten mit Superkräften dominieren unsere Kinos und unsere Kultur, verdrängen innovatives Storytelling und schaffen eine homogene Masse an sich wiederholenden Epen mit grellen Farben und flachen Charakteren; noch ein wenig Adornozitate über die Kulturindustrie reinstreuen, umrühren und fertig. Prominentester Text dieser Art (wenn auch ohne Adorno-Zitat):  Martin Scorseses Meinungsstück von 2019 in der New York Times. Marvelfilme seien mehr Freizeitparks als Filme und deswegen keine Kunst  wie die Werke von Ingmar Bergman und Jean-Luc Godard. Mit dem arbiträr eingesetzten Kunstbegriff und den elitären Gatekeeperallüren liest sich die unsauber argumentierte Analyse wie die wiedergekäute Kritik am Fernsehen in den 1990er Jahren von ähnlich renommierten Herren, die die Fernsehkritikerin Emily Nussbaum in ihrer Anthologie I like to Watch spöttisch als „the sweater vests“ bezeichnet.

Konkreter und konstruktiver ist die Kritik am Superheld:innenformat bei Menschen , die tatsächlich schon in dem Bereich gearbeitet haben. Edgar Wright, bekannt für die Cornetto-Trilogie, beendete die Arbeit an dem Marvel Film Ant-Man vorzeitig, weil er sich in seiner kreativen Freiheit eingeschränkt fühlte. Avengers-Regisseur Joss Whedon postete zeitgleich auf Twitter ein Selfie mit dramatisch erhobenem Cornetto-Eis. Der Post ist inzwischen gelöscht. Produzent:innen haben im Franchise-Kino tatsächlich mehr Mitspracherecht als es den meisten Regisseur:innen lieb ist. Zum einen aus finanziellen Gründen, zum anderen aber, weil alle Filme ineinanderfließen und die jeweils nächsten vorbereiten. Das führt wiederum auch zu langfristigen Verträgen, die Schauspieler:innen und Regisseur:innen die Möglichkeit nehmen, sich anderen Projekten zuzuwenden. Aus Angst einen großen Teil des wenig progressiven Publikums abzuschrecken kommt es bei den großen Studios außerdem dazu, dass fragwürdige Entscheidungen getroffen werden. US-Militärverherrlichung und Whitewashing sind teilweise die Folgen. All das ist problematisch und muss selbstverständlich benannt werden. Aber dazu braucht es keine alten Herren, die ihren Filmgeschmack zuletzt vor 20 Jahren aktualisiert haben.

Neben der Fülle an Kritik, die das Superheld:innenengenre hervorruft, bleibt eine offensichtliche Frage allerdings vergleichsweise unbeantwortet. Warum sprengen Marvelfilme und -serien regelmäßig Zuschauer:innenrekorde, warum sind Filme aus dem DC Universum finanziell so erfolgreich, obwohl sie (zu recht) regelmäßig von Kritiker:innen verrissen werden? Warum machen Superheld:innen Spaß?

I have nothing to prove to you

Etwa 18 Jahre ist es her, dass ich den ersten Spider-Man von Sam Raimi im Kino gesehen habe. Seitdem denke ich in regelmäßigen Abständen darüber nach, wie es wohl wäre mit Spinnennetzschnüren von Gebäude zu Gebäude zu schwingen. Wenn ich Schwierigkeiten habe aus dem Bett zu kommen, stelle ich mir vor, wie ich mich mithilfe von den seidenen Fäden nach oben schleudere. Die Frage, warum solche Vorstellungen so dominant in unseren Köpfen verankert sind, war für mich schon immer eine persönliche. Ausgehend von meinen Erfahrungen glaube ich, dass die folgenden Aspekte maßgeblich daran beteiligt sind, warum Superheld:innengeschichten mir und anderen so große Freude bereiten: Absurdität, Ermächtigungsfantasie und Mitreden.

Why so serious?

Superheld:innen stehen in der Tradition des Groschenromans, aus dem sich in den Dreißigern das klassische 25-Seiten-Comicheft entwickelt hat. Von Anfang an richteten sich diese Geschichten primär an Kinder – und wer sich an Kinder richtet, so stellt Philip Pullman, Autor der His Dark Materials-Trilogie, in seinem Vortrag Children‘s Literature without Borders fest, wird für manche Augen unsichtbar. Unter diesem Tarnumhang ist das Superheld:innengenre frei von den Ernsthaftigkeitsansprüchen einer vermeintlich erwachsenen Welt und wird Spielplatz für die abwegigsten Ideen. Die Art von Erzählung, der Scorsese fehlende Innovation unterstellt, hat die Idee eines laufenden Baums mit begrenztem Wortschatz, einen Lügendetektor-Lasso, einen Planeten für verlorene und vergessene Dinge und eine genderqueere Straße populär gemacht. Es wird erzählt, der Comicautor Garth Ennis habe seinem Verlag die Idee für Preacher gepitcht, indem er etwas von Western mit Engeln und Teufeln gemurmelt habe. Aus Preacher wurde eine Serie mit Millionen von Zuschauer:innen und bisher vier Staffeln. Ein Publikum mit hoher Absurditätstoleranz und niedrige Produktionskosten machen es möglich, Geschichten an Comicleser:innen auszutesten. Die bereits erwähnte Serie The Boys, über eine Gruppe Männer, die sich auf die Jagd nach faschistischen Superheld:innen machen, war ebenfalls eine von Ennis geschriebene Comicreihe, bevor sie bei Amazon als Serie zu einem international erfolgreichen Phänomen wurde.

In my world it means hope

Wenn ich aufwache und mir vorstelle, wie ich mich mit Spider-Mans Spinnweben aus dem Bett schwinge, dann ist das mehr als ein Mittel, um mich von der Realität meiner Depression abzulenken. Es ist eine Fantasie, die mich ermächtigt, zumindest für einen kurzen Moment optimistisch zu sein – eine Ermächtigungsfantasie. Das Superheldengenre ist voll von solchen erbauenden Szenarien. 1941 lässt der jüdische Comicautor Joe Simon zusammen mit Zeichner Jack Kirby Captain America Hitler auf die Nase hauen; zehn Monate vor Pearl Harbor und dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Luke Cage hebt 2004 mit bloßen Händen Donald Trumps Limousine auf die anderen Straßenseite, weil der keinen Platz für ein Feuerwehrauto machen wollte. In der ersten X-Men-Trilogie haben mehrere Teenager mit angeborenen Superkräften ein eindeutig queergecodetes „Coming Out“.  Superheld:innen waren nie so unpolitisch, wie oft behauptet wird, sondern schon immer ein Werkzeug, um einem Ohnmachtsgefühl entgegenzutreten. Hier werden Bedürfnisse nach Hoffnung und Gerechtigkeit bedient, die in vielen Medien nicht berücksichtigt werden, aus Angst, für infantil oder banal gehalten zu werden.

Home is where you make it

Als sich die Plattform Disney+ dazu entschieden hat, dass ihre Serie WandaVision wöchentlich erscheint, statt die vollständige Staffel zur freien Verfügung hochzuladen, reagierten Fans zunächst mit Unmut. Nach einer Weile bemerkte das Publikum allerdings einen angenehmen Effekt des Erscheinungsrhythmus: Jede Woche waren alle regelmäßigen Zuschauer:innen in etwa auf demselben Stand und viele von ihnen hatten Redebedürfnis. Youtuber:innen wie Emergency Awesome und Tiktoker:innen wie @jstoob und @straw_hat_goofy sezierten und kuratierten regelmäßig Inhalte zu WandaVision. Es wurden Hinweise auf Marvelfilme gesucht, darüber spekuliert, wie es weitergeht und Leseempfehlungen für die jeweils passenden Comics ausgesprochen. Dabei transportierten sie soviel Begeisterung, dass man einiges tun würde, um Teil dieser Blase zu sein. Viele schlechte Superheld:innengeschichten habe ich nur deshalb konsumiert, um mitreden und am Prozess des Miteinanderredens teilnehmen zu können, denn Weniges begeistert so sehr wie begeisterte Menschen. Trotz einiger toxischer Auswüchse des Fandoms hat dieses weitestgehend unprätentiöse, bunte Netzwerk schon immer eine magische Anziehungskraft auf mich gehabt. Eine Welt, in der ich mich einnisten kann, die mich aufbaut und mir Werkzeuge gibt, mit denen ich mich durch die „Realität“ navigiere.

Das alles sind Aspekte von Superheld:innenenfilmen, die im kulturkritischen Lamento nicht vorkommen, weil sie in der bildungsbürgerlichen Vorstellung, wie man Kunst konsumieren sollte, keinen Platz haben. Die meisten hochkulturellen Kulturgüter inspirieren nicht (mehr) regelmäßig Millionen von Menschen dazu, sich wie ein Lieblingscharakter aus dem Buch zu schminken und anzuziehen und konkurriert deswegen auch nicht mit depressiven Hexen und laserstrahlenschießenden Robotern. Das Superheld:innengenre möchte nicht Bergmann- und Godardfilme ersetzen, sondern befriedigt die Bedürfnisse, die viele haben und, trotz ausgiebiger Suche, in anderen Formen der Kultur nicht finden können. 

 

Photo by Ali Kokab on Unsplash

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner