von Dorothee Elmiger
I.
Gleich zu Beginn hältst du fest, es handle sich um eine Situation, um Situationen. Du verstehst diese in diesem Moment hauptsächlich im räumlichen Sinn, als von ihrer Umgebung abgegrenzte Felder, als Gelände von spezifischer Beschaffenheit, umzäunte Ausschnitte, Ansiedlungen, Camps. Und tatsächlich: Noch bis ins 19. Jahrhundert bezeichnet der Ausdruck vor allem geographische Lagen, Ortsbeschaffenheiten; die Situation als ›site‹, als ›Terrain‹, nicht zuletzt im militärischen Sinn. Du siehst dich am unteren Rand einer erst leicht und dann steiler ansteigenden Landform, das Gebiet ist dir bekannt, hier, vor diesen Hügeln, hast du schon als Kind gestanden und in der Ferne die großen Ziffern gesehen:
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Gleich zu Beginn, während du nun durch die Fettwiese auf sie zugehst, schon dein Eindruck, du betretest zugleich ein zweites Feld von analoger oder ähnlicher Beschaffenheit; du meinst, das Vorliegende verweise womöglich von allein auf diese zweite Situation und ihren Zusammenhang.
II.
Müsstest du eine beispielhafte Gegebenheit finden, um über die symptomatische Anwesenheit des – europäischen, weißen – Menschen in der Natur nachzudenken, würdest du dich z. B. für diese Ziffern entscheiden, schwarze Ziffern auf weißem Grund, vor Jahrzehnten in irgendwelche Wiesen gerammt oder an Gerüsten vor einem niedrigen Erdwall installiert. Du kennst viele Beispiele, im Wald, an Waldrändern, auf Anhöhen, gerahmt von Laubbäumen, Sträuchern, von Kiefernartigen, kleine Bühnen in der freien Natur; manchmal gehst du von A nach B oder irgendwie ziellos umher, und plötzlich erscheinen sie dir vor Augen, ordentliche Reihen im Grün, scheinbar zwecklose Aufzählungen, die nichts zu markieren scheinen als die Präsenz eines alphabetisierten, zählenden Tiers: Als hätte es an diesen Stellen zu seiner eigenen Beruhigung demonstriert, dass es der scheinbaren Unordnung der Wälder ein System entgegenzusetzen hat, abstrakte Objekte, Zahlzeichen von 1 bis 10 oder 24 aus der Hand eines kolossalen ABC-Schützen.
Aber dies ist kein Denkmal für das friedliche Zählen und Beschreiben der Welt; es bleibt nicht bei den scheinbar zusammenhangslos in die Landschaft montierten Ziffern: Noch fehlen die darunter angebrachten Zielscheiben, um den Scheibenstand zu vervollständigen, es fehlen der Zeigergraben, der Kugelfang und schließlich das 300 Meter entfernte Schützenhaus. Jetzt, da du durch die Wiese auf die Schilder zugehst, erinnerst du dich an den Standort des Gebäudes und schaust über deine Schulter, aber du bist noch nicht hoch genug gestiegen, um es sehen zu können.
III.
In Wahrheit bist du seit Jahren nicht mehr über die Wiese unterhalb des Scheibenstands gegangen; es ist auch lange her, seit du zuletzt im vor dem Schützenhaus geparkten Mitsubishi deiner Eltern gewartet hast, während dein Vater Fleisch aus der Metzgerei deines Onkels abholte. Du weißt, dass man die Ziffern in Wahrheit bereits vor Jahren, als die Anlage stillgelegt wurde, abgenommen hat. Weil hier über Jahrzehnte direkt ins Erdreich geschossen wurde und der Untergrund der Anlage felsig war, trugen sich die Kugeln, die beim Aufprall barsten, als Splitter und Metallstäube in den Oberboden des Geländes ein, dazu kamen erratische Geschosse, Querschläger, Abwehungen. Dieses Gelände ist kontaminiert, der Standort belastet, 2793 Tonnen Erde werden nach der Stilllegung der Anlage abgegraben, um den Bleigehalt des steilen Wieslands auf unter 200 ppm pro Quadratmeter zu reduzieren.
IV.
Warum, fragt Thornton Wilder im Vorwort zu Gertrude Steins Die Geographische Geschichte von Amerika oder Die Beziehung zwischen der menschlichen Natur und dem Geist des Menschen, verweist der Titel dieses Werks auf die Naturgeschichte Amerikas, wenn es der Verfasserin doch in der Hauptsache um die »Psychologie des schöpferischen Akts« geht? Wilder: »Miss Stein, die im zeitweiligen Auftauchen des menschlichen Geistes und dessen Zeugnis in literarischen Meisterwerken die wichtigste Manifestation menschlicher Kultur sieht, hat beobachtet, dass dieses Auftauchen von der geographischen Situation abhängt, in der die Autoren leben.«[1] Wenn sich also, fragst du frei nach Stein, das Terrain, in dem sich eine wiederfindet, in der Struktur des Denkens oder des Texts zeigt – »Warum hat das Schreiben von heutzutage etwas zu tun mit der Landeslage wenn es besonders flaches Land ist das ist die Frage. So hängt ein Land mit dem Geist des Menschen zusammen nur flaches Land ein sehr großes flaches Land hängt mit dem Geist des Menschen zusammen und deshalb hängt Amerika mit dem Geist des Menschen zusammen […]«[2] bzw. »Hat der Geist des Menschen irgend etwas zu tun mit dem was er sieht. Ich glaube ja.«[3] – wenn sich in deinem Fall also die Streusiedlung, das Fragmentierte, in Parzellen Unterteilte, wenn auch im Großen und Ganzen Zusammenhängende, wenn sich die spezifischen Landformen und Auffaltungen in deiner Art zu folgern abbilden, sich als Prinzipien und Formen im Text manifestieren, wofür, fragst du, wofür steht dann der Schießplatz?
So denkst du eine Weile lang darüber nach: Du gehst herum in diesem Wiesland, wanderst ungestört durch die in unregelmäßigen Abständen von Lattenzäunen durchbrochene Hügellandschaft, quasi von Absatz zu Absatz, und weißt: Dort hinten liegt der Schießplatz, dort stehen die Ziffern im Hang, und 300 Meter entfernt liegt dein Schützenhaus ›of the mind‹. Was ist das also für eine Stelle oder Anlage, fragst du, und warum hat das Schreiben von heutzutage etwas zu tun mit der Landeslage, und hat der Geist des Menschen irgend etwas zu tun mit dem was er sieht. Ich glaube ja.
V.
Telefongespräch mit deiner Schwester, der Archäologin. Du erreichst sie in einem Pariser Wohnheim. Es ist ein Freitagabend Mitte Januar; es seien fast ausschließlich junge Männer aus verschiedenen afrikanischen Staaten, die hier wohnten und studierten, sagt sie; sie übe manchmal Klavier in der Bibliothek. Du stellst deine Fragen zu den ›golden spikes‹ der Geologie: Goldene Nägel, physische Markierungen, sagt sie, die eine Grenze im Sedimentgestein kennzeichnen, typischerweise anhand des ersten Auftretens eines Fossils. Die fünfte Stufe des Miozäns sei beispielsweise am Strand von Monte dei Corvi in Italien anhand eines kalkigen Nanofossils markiert. Sie spricht von der Stratigraphie, der Abfolge von Schichten im Gestein, und dann fragst du nach den Pfeilspitzen, versuchst von den Fossilien zu den Pfeilspitzen, von den Pfeilspitzen zu den Geschossen zu gelangen: Wird man nicht später einmal, fragst du, auf diese mit Blei belasteten Wiesen und Lichtungen stoßen, diese übers Land verteilten, kontaminierten Felder, unauffälligen Stellen.
VI.
Die Formen der Fossilisation, die heute in den Stätten des sogenannten Anthropozäns stattfinden: Abbau, Ausbeutung, Verwüstung, Auslöschung[4]. Zu keinem Zeitpunkt, schreibt Kathryn Yusoff, habe es sich bei der Geologie um eine neutrale Sprache der Steine gehandelt, nie sei sie gegen die Gewalt und die Enteignung im Zuge der Extraktion von Mineralien immun gewesen. Du liest Yusoff im Gespräch über die umstrittenen Anfänge des Anthropozäns: »Statt über diesen sehr maskulinen Prozess der Benennung des golden spike oder der Bestimmung einer materiellen Ökonomie ohne jegliche subjektive oder körperliche Auswirkungen begann ich darüber nachzudenken, wie diese Ereignisse in der Welt nicht nur als materielle Ereignisse, sondern als miteinander verbundene materiell-subjektive oder intrasubjektive Ereignisse gemacht werden.«[5] Die Anrufung des mythischen ›Anthropos‹ und der Bezug auf ein ›Wir‹, das Anspruch auf Universalität erhebt, verschleierten die Unterwerfungen und die rassifizierten Ungleichheiten, die den Praktiken der Geologie und des Anthropozäns zugrunde liegen, seit in der Mitte des 15. Jahrhunderts auf Madeira der Zucker-Sklaverei-Komplex begründet wird und »Man’s Others – als Materie und Energie – in das geologische Lexikon des Nicht-Menschlichen aufgenommen werden«[6] .
VII.
Wenn du mit Yusoff geologischen Ereignissen und Situationen eine Wirkung zuschreibst, die sich nicht auf die Materie beschränkt, sondern auch Subjekte, Körper unmittelbar betrifft, dann denkst du, wie hängt ein Land mit dem Geist des Menschen zusammen, oder wie hängt der Mensch mit dem Land zusammen und welcher Mensch, oder wer ist ein Mensch, also wie drängt sich ein Terrain auf, wem, denkst an die über das Land verteilten Schiessanlagen oder die Übungsgelände auf dem europäischen Kontinent, winzige Nebenschauplätze eigentlich angesichts der großen Minen, ›spills‹, petrochemischen Stätten, aber doch ganz reale Verwüstungen in der Landschaft und entsprechend, frei nach Stein, auch im Geist oder Text.
Und dann schlägt jemand Zelte darauf auf (Nördliche Ägäis, September 2020): Die Stätte, das Feld als Lager. Dies ist es, was du zu Beginn mit der Feststellung meintest, du würdest ja zwei Situationen zugleich betreten. Dieser Punkt, anders gesagt, an den du in dieser Gegenwart immer wieder gelangen musst: die doppelte Bedeutung und Funktion einer zufälligen Stelle, das Zusammentreffen des europäischen 1×1, der Beschriftung und Vermessung der Kontinente mit der Verwüstung, mit der Gefährdung der Körper jener, auf die das europäische ›man/Mensch‹ keine Anwendung findet. Stellen im europäischen Terrain, als sanierungsbedürftig im Kataster eingetragen, eingetragen auch in deinen Karten; da kommst du ja her.
[1] Thornton Wilder: Einführung, in: Gertrude Stein: Die geographische Geschichte von Amerika oder Die Beziehung zwischen der menschlichen Natur und dem Geist des Menschen, übers. v. Marie-Anne Stiebel, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1988, S. 12.
[2] Stein, S. 42.
[3] Ebd., S. 41.
[4] Kathryn Yusoff: A Billion Black Anthropocenes or None, Minneapolis (University of Minnesota Press) 2018, S. 62.
[5] Jennifer Gabrys et al.: Dinge anders machen. Feministische Anthropozän-Kritik, Dekolonisierung der Geologie und »sensing« in Medien-Umwelten, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft Jg. 12, 23 (2/2020), S. 138–151, hier S. 140f.
[6] Yusoff, S. 35 [Übersetzung der Autorin].
Dieser Text entstand im Rahmen des Festivals “Und seitab liegt die Stadt” 2021: Landschaft im LCB. Kuration und Moderation: Juan S. Guse und Kerstin Preiwuß mit Daniela Danz, Dorothee Elmiger, Ines Geipel, Esther Kinsky, Tanja Maljartschuk, Rudi Nuss, Kathrin Passig, Martin Pollack, Judith Schalansky und Levin Westermann mit Bilschirmtexten von Vera Sebert und Videoperformances vom Balik_Balik Kollektiv (Dagmara Kraus, Anne Munka, Kinga Tóth)
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