Fantasie oder ein voller Kühlschrank – Armut in aktueller Kinderliteratur

von Julia Bousboa

 

Lena sitzt in ihrem neu renovierten Zimmer auf dem Dachboden und ist überrascht, dass sie plötzlich mit ihrer Katze sprechen kann. Jonas holt abends gern sein Teleskop hervor und betrachtet Sternenbilder. Mia trifft sich am liebsten mit ihrer besten Freundin im Baumhaus und Ben sucht mit seinen Brüdern eine neue Wohnung, weil der Informatiker-Papa seinen Laptop in der Küche aufklappen muss. Alltag in deutschen Kinderbüchern.

Dass Mia irgendwann auch mal Merve heißen wird und Ben vielleicht Omar, darin besteht kein Zweifel. Auch wenn es nach den Bestrebungen der sogenannten Gastarbeiterliteratur viel zu lange gedauert hat, findet momentan, verstärkt durch die Fluchtbewegungen seit 2015 und die Black Lives Matter-Proteste 2020, ein Umdenken in den Kinderbuchverlagen statt. Mia und Ben als Hauptprotagonist*innen überwiegen noch, Geschichten, in denen „das Andere“ „integriert“ werden muss, ebenfalls – doch wir sind auf einem guten Weg. Zuversicht ist durchaus angebracht.

Ebenso wichtig wie eine größere Diversität bei den literarischen Figuren wäre eine größere Bandbreite der dargestellten ökonomischen Realitäten. Schaut man sich die erzählerisch vermittelten Lebensumstände der Protagonist*innen in aktueller Kinderliteratur einmal genauer an, erkennt man: Abenteuer werden in deutschen Kinderbüchern in der Regel vom Einfamilienhaus aus erlebt. Dort werden Baumhäuser gebaut, dort wird Klavierspielen geübt, dort ziehen Wichtel ein, dort kann man plötzlich mit Tieren sprechen. Im Einfamilienhaus hat jedes Kind sein eigenes Zimmer, Papa und Mama verwirklichen sich in überwiegend akademischen Berufen, abends gibt es Biogemüse und Tofu-Bratlinge, die zwar nicht den Geschmack von allen treffen, aber na gut. Mittelstandsidylle eben.

Gleichzeitig lebt in Deutschland jedes fünfte Kind in Armut. Es wäre vermessen und würde diesen Kindern nicht gerecht, sie im Hinblick auf Leseförderung bei der üblichen Aufteilung in „leseferne“ und „leseaffine“ Kinder automatisch der ersten Gruppe zuzuordnen. Doch welche Lektüre steht leseaffinen Kindern zu Verfügung, für deren Eltern der Job nicht Selbstverwirklichung, sondern Broterwerb bedeutet, die sich ihr Zimmer teilen müssen und deren Umfeld keine Reihenhaussiedlung ist? Kaum eine Lektüre, in der sie ihre Lebenswirklichkeit wiederfinden, mit Protagonist*innen, die dieselben Reifeprozesse wie sie erleben oder Entwicklungen durchmachen, an denen sie sich messen und wachsen können. Denn man wird anders groß, wenn man im Mangel aufwächst.

Was braucht man zum Großwerden?

Das stellt Frauke Angel in ihrem 2017 erschienenen Kinderroman Mama Mutsch und mein Geheimnis bereits im allerersten Absatz klar. „Fantasie braucht man um groß und stark zu werden!“ betont Lelios Lehrerin immer wieder. Doch das hält Lelio für Quatsch: „Um groß und stark zu werden, braucht man was zu essen, das ist alles. Aber leider ist unser Kühlschrank leer.“

Mama Mutsch und mein Geheimnis ist eines der wenigen deutschsprachigen Kinderbücher, das sich mit Armut, Mangel und Vernachlässigung beschäftigt. Es erzählt die Geschichte des achtjährigen Halbwaisen Lelio, der von seinem Vater immer mehr im Stich gelassen wird und Hilfe von seiner Nachbarin erhält, einer alleinstehenden Biologie-Professorin, genannt Mama Mutsch.

Zwar kommt hier noch eine Suchtproblematik hinzu, doch finanzielle Not und Abstiegsangst sind in Mama Mutsch und mein Geheimnis allgegenwärtig. „Im Plattenbau sind nur Arbeitslose und Idioten,“ konstatiert Lelios Vater, der seine kleine Familie fast ruiniert, aber nicht merkt, dass ein Umzug in den Plattenbau ihr geringstes Problem wäre. Und auch Klassenkameradin Kimberley gibt aus Scham vor, Lelio nicht mehr zu kennen, als ihre Familie auseinander bricht und sie mit ihrer Mutter in eben jenen Plattenbau umziehen muss. Dabei hat Lelio längst festgestellt, dass das mit den Idiot*innen im Plattenbau nicht stimmen kann: Seine Freundin Marilyn, die dort lebt, interessiert sich schließlich genau wie er für die Kieselalgen-Geschichten, die Mama Mutsch ihm erzählt.

Corona im Plattenbau

Direkt im Plattenbau spielt Das stumme Haus von Uticha Marmon, es ist der erste deutschsprachige Corona-Kinderroman. Nikosch und seine Freund*innen leben im sogenannten „Kaninchenbau“, einem Hochhauskomplex mit vielen, vielen Wohnungen und noch mehr Bewohner*innen. Als Deutschland in den Lockdown geht, wird es eng im Kaninchenbau. Es gibt zu wenige Endgeräte, die Kinder hocken mit ihren Geschwistern in ihren Zimmern, die Eltern arbeiten im Supermarkt oder im Krankenhaus. Hier gibt es keine Idylle, kein gemeinsames Basteln, Lesen oder Lernen am großzügigen Esstisch, wie Stockfotos uns im letzten Jahr gern weismachen wollten. Uticha Marmon zeigt gnadenlos, wie Familienalltag in Millionen von Familien während eines Lockdowns tatsächlich aussieht. Doch das heißt nicht, dass ihre Protagonist*innen Opfer sind, ganz im Gegenteil.

Nikosch und Co werden zu Detektiv*innen, sind clever und gewitzt und retten am Ende ein Kind aus den Einfamilienhäusern von gegenüber. Übrigens eine interessante Parallele zu Mama Mutsch: Wo eng gewohnt wird, sieht man, was um sich herum geschieht, das kennen wir auch von Andreas Steinhöfels Rico und Oskar-Reihe.

An Fantasie mangelt es den Kindern nicht (obwohl es mit den immer häufiger werdenden Streitereien im Haus schwieriger wird, sich zu konzentrieren), nur ist es natürlich eine andere als die eines Jungen, der aus seinem Zimmer heraus die Sterne beobachtet oder die zweier Mädchen im Baumhaus. Wie weit diese Welten voneinander entfernt sind, bringt Nikosch auf den Punkt: „Warum ist jemand in Not, der in so einem schicken Haus wohnt? Bei uns, okay. Da könnte es ja sein. Der Tafelladen hat zu, Jans Vater hat im Moment keinen Job mehr, die Steins gehen sich in ihrer Wohnung an die Kehle, selbst bei Ebo ist es nicht mehr schön Zuhause.“ Parallelwelten – Uticha Marmon hat in Das stumme Haus das zusammengebracht, was in Kinderbüchern und auch in unserer Gesellschaft kaum noch aufeinander trifft.

Stigmatisierung und Scham

Von diesem Gegensatz zwischen Ober- und Unterschicht erzählt Irgendwo ist immer Süden, erschienen 2020 bei Woow Books und für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Sechstklässlerin Ina landet nach mehreren Umzügen mit ihrer alleinerziehenden Mutter im Wohnhauskomplex „Tyllebakken“, kein Plattenbau, aber: „Erst hinterher wurde mir klar, dass man niemals Tyllebakken antworten darf, wenn jemand fragt. Mehrere in der Klasse kicherten, und dann hörte ich es. Zum allerersten Mal. Den Spitznamen meines neuen Zuhauses. Güllebakken“.

In Tyllebakken wird auch ohne Lockdown gestritten und gekeift, es hängen Wolldecken statt Gardinen vor den Fenstern, die Briefkästen sind verbeult, die Lampen im Treppenhaus flackern. Anders als die Kinder aus dem Kaninchenbau schämt sich Ina für ihr Zuhause, ihre ewig müde Mutter, die chronische Geldnot, den leeren Kühlschrank, „den hässlichsten Hinterhof Norwegens“. Sie blickt sehnsüchtig auf das Leben der anderen: „Mathilde wohnt in einem weißen Haus. Mit Garten und Büschen und großen Fenstern, offenen Gardinen und einer Mutter, die in der Tür steht und jeden begrüßt.“

Inas einziges Ziel ist es, Freundinnen zu finden, die sie „nach oben ziehen“ und nicht „noch weiter runter“ und so verstrickt sie sich in immer größere Lügengeschichten, die sie am Ende fast eine echte Freundschaft kosten – nämlich die zu Vilmer, der ebenfalls in Tyllebakken lebt, aber im Gegensatz zu Ina kein Problem damit hat, in unmodernen T-Shirts vor der Klasse zu sagen, dass seinem Vater das Geld für Urlaub fehle. Gemeinsam bauen sie sich in einer alten Hausmeisterwohnung ihren ganz persönlichen „Süden“, voller Fantasie und Enthusiasmus. Erst als Ina diesen Süden durch die Augen ihrer Mitschülerinnen betrachtet, droht ihre Scham alles zu zerstören.

Diese Scham haben alle Protagonist*innen gemeinsam, bei Lelio und Ina ist sie stärker ausgeprägt als bei Nikosch oder Vilmer, doch sie zieht sich wie ein roter Faden durch alle drei Bücher – kein Wunder, ist doch in unserer Gesellschaft kaum etwas so schambehaftet wie Armut, werden ganze Wohnviertel stigmatisiert.

Mit Diversität zu nachhaltiger Leseförderung

Die große Frage lautet also: Wie bekommen wir die Kieselalgen-Geschichten in den Plattenbau? Nicht, indem die Kinder dort über Kinder in Einfamilienhäusern mit aufwändigen Hobbys und selbstverwirklichten Eltern lesen. Diversität in Kinderbüchern bedeutet, dass sich die erzählten Geschichten an den unterschiedlichen Lebensrealitäten ihrer potentiellen jugendlichen Leser*innen orientieren. Nachhaltige Leseförderung kann nur gelingen, wenn man Kindern eine möglichst vielfältige Lektüre anbietet, sodass für alle passende Rollenvorbilder dabei sind. Christine Nöstlinger hat dies in ihren Werken auf eine unnachahmliche Art und Weise zusammengebracht, überhaupt hat man den Eindruck, dass die Kinderliteratur der 1970er bis 1980er auf diesem Gebiet wesentlich weiter war als heute; stark beeinflusst durch die damals aufkommende sozialkritische Kinderliteratur mit Werken wie Hans-Georg Noacks Rolltreppe abwärts von 1970 oder Peter Härtlings Fränze aus dem Jahr 1989.

Doch es ist wichtig, dass Armutserfahrung und mit (Geld-)Sorgen belastete Eltern auch in Erzählungen des Mainstreams auftauchen. Gerade Grundschüler*innen, die erst die Freude am Selberlesen entdecken, sollten in populären Kinderbüchern ihre Lebenswelten wiederfinden und die Erfahrung machen, dass auch diese Protagonist*innen spannende Abenteuer erleben und mit Witz und Fantasie meistern können. So wie eben Rico und Oskar oder die „schöne Melanie“ in Cornelia Funkes Die wilden Hühner oder ganz aktuell in der erfolgreichen Buchreihe Die Schule der magischen Tiere von Margit Auer: Im dritten Band (Licht aus!) stellt sich heraus, dass die arrogante Helene ähnlich wie Melanie nach dem Jobverlust ihres Vaters die Fassade des reichen Mädchens nur noch mühsam aufrecht erhält; im elften Band Wilder, wilder Wald wird es sogar noch realitätsnaher: Elisa, die sich freut, auf einer Klassenfahrt ins Wildniscamp dem Stress Zuhause zu entgehen, wo ihr Bruder ihrer alleinerziehenden Mutter Geld stiehlt, erhält in diesem Band eine Wölfin als magisches Tier, das sie unterstützt. Wenn man jedoch bedenkt, dass zwischen Die wilden Hühner und Die Schule der magischen Tiere siebzehn Jahre und wenige Kinderbücher mit ähnlichen Protagonist*innen liegen, ist da noch viel Luft nach oben.

Im Leben und für Bücher gilt: Eine Mama Mutsch allein reicht nicht aus. Der Lebensweg eines Kindes darf nicht von einer einzigen engagierten Person abhängen und vereinzelte Kinderromane, die sich mit Armut befassen und von der Kritik gelobt werden, können nichts gegen Scham und Stigmatisierung ausrichten. Echte Teilhabe an einer Gesellschaft und ihren kulturellen Erzeugnissen, Selbstwirksamkeit und eben Fantasie (da hat Lelios Lehrerin vollkommen Recht) sind die besten Voraussetzungen für einen selbstbestimmten Lebensweg – und letztendlich auch für einen in Zukunft gefüllten Kühlschrank.

Frauke Angel: Mama Mutsch und mein Geheimnis. Jungbrunnen 2017, ab 8 Jahren, 14,00 €.

Uticha Marmon: Das stumme Haus. Sauerländer 2021, ab 9 Jahren, 14,00 €.

Marianne Kaurin: Irgendwo ist immer Süden. Woow Books 2020, ab 10 Jahren, 15,00 €.

Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und die Tieferschatten. Carlsen 2016, ab 10 Jahren, 16,00 €

Cornelia Funke: Die wilden Hühner. Oetinger 2018 (neu illustriert), ab 9 Jahren, 15,00 €.

Margit Auer: Die Schule der magischen Tiere – Wilder, wilder Wald. Carlsen 2020, ab 8 Jahren, 12,99 €.

 

Photo by Jon Tyson on Unsplash

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