von Jonas Lübkert
Ich liebe Popkultur. Nur manchmal hab ich das Gefühl, Popkultur liebt mich nicht: Jedes mal wenn eine Person of Color aus einem Film gestrichen wird, Frauenfiguren ausschließlich als Blickfang dienen und queere Repräsentation höchstens am Rande eine Rolle spielt. Popkultur versucht oft eine maximale Anzahl von Menschen zu erreichen und bedient dabei leider viel zu oft den kleinsten gemeinsamen Nenner. Manchmal aber, in kuriosen Momenten, bröckelt die Fassade und ein erstaunlich innovativer Gedanke kommt durch. Dieser ist in der Regel hart erkämpft oder – noch seltener – unabsichtlich.
Über diese unabsichtlichen Momente möchte ich schreiben. Nicht weil es besonders lobenswert wäre, aus Versehen progressiv zu sein. Viele der im Folgenden genannten Institutionen haben das Leben mancher Menschen deutlich verschlechtert. Es ist allerdings auf eine Art erfreulich, dass sich Gutes in kleinen Portionen zuweilen durchsetzt. Große Film- und Gamingstudios überschlagen sich förmlich, damit niemand sorgfältig gepflegte Vorurteile hinterfragen muss. Wenn sich dann innerhalb dieser recht reaktionären Rahmenbedingungen fortschrittliche Repräsentation einschleicht, dann zeigt das deutlich, dass „politisch korrekte“ Darstellungsweisen eben nicht erzwungen sind, wie manche behaupten, sondern eine unvermeidliche Reaktion auf unsere komplexe Realität.
Queere Romantik bei Assassin‘s Creed
Für Fans der Computerspielreihe Assassin‘s Creed war 2020 ein ernüchterndes Jahr. Über das Entwicklerstudio Ubisoft, unter anderem bekannt für Rayman, Far Cry, Prince of Persia und The Divison, wurden einige abscheuliche Dinge bekannt: Sexuelle Übergriffe, systematische Vertuschungen, rassistisches und sexistisches Verhalten von Vorgesetzten weltweit. Einige Führungskräfte traten zurück und der Konzern musste öffentlich bekannt geben, die eigene Unternehmenskultur in Zukunft ändern zu wollen.
Die Diskussion über die toxische Männerkultur im Unternehmen brachte Fans dazu, sich auch mit der Darstellungsweise in ihren Lieblingsspielen auseinanderzusetzen. Einige journalistische Aufarbeitungen der Skandale erwähnten den Twitter-Hashtag #womenaretoohardtoanimate von 2014. Ein Mitarbeiter von Ubisoft begründete die Abwesenheit von weiblichen Assassinen in Assassin‘s Creed Unity damit, dass das die Arbeitszeit verdoppelt hätte. Viele Designer*innen wiesen darauf hin, dass solche nachträglichen Animationen maximal drei Tage dauern. Kritiker*innen und viele Fans waren sich einig, dass finanzielle Gründe außerdem, bei einem so riesigen Projekt, nicht über weibliche Repräsentation bestimmen sollten.
Im Jahr der Skandale kam außerdem heraus, dass Ubisofts Assassin‘s Creed Odyseey ursprünglich nur einen einzigen spielbaren Charakter hatte: die leichtfüßige, sarkastische Griechin Kassandra. Später musste das Entwickler*innenteam allerdings noch den männlichen, eher finster dreinschauenden Protagonisten Alexios hinzufügen, weil, so die Begründung von Vorgesetzten, „Frauen sich nicht verkaufen“. Das ist natürlich falsch. Lara Croft ist Protagonistin von allein zwölf Spielen in der Tomb Raider-Hauptreihe und The Last of Us 2 ist mit den beiden Hauptfiguren Ellie und Abby eins der meistverkauften Spiele auf der Playstation 4.
Es ist etwas unterhaltsam, wenn man bedenkt, dass auf den reaktionären Bedenken progressive Repräsentation gewachsen ist. Assassin‘s Creed Odysee hat als erstes Spiel in der Reihe sogenannte „Romantic Options“: weibliche und männliche NPCs (Non-Playable-Characters), die sich umwerben lassen. Weil man also bei Ubisoft darauf bestand, nachträglich einen männlichen Charakter hinzuzufügen, lassen sich sowohl Kassandra als auch Alexios „so lesbisch und schwul spielen, wie man möchte“, schreibt ein reddit User erfreut über das Spiel. In bestimmten Bereichen des Internets wurde Alexios zur schwulen Ikone. Tausende von schwulen Fanfiction-Texten wurden schon über Alexios geschrieben. Ein besonders erbauliches Beispiel, Forgiveness is Important von Jestana, endet mit dem Satz „Smiling fondly, Lykaon rested his cheek against Alexios‘ hair and drifted off to sleep as well.“ Dass ausgerechnet sexistische Creative Directors Grund für queere Repräsentation sind, schmälert die Freude daran nur begrenzt.
Mächtige Superheldinnen im X-Men Universum
Etwa 2010 saß ich mit einer Freundin in einer WG-Küche. Wir sprachen, wie so oft, über Superkräfte. Superheld*innen haben häufig stereotypisch männlich oder weibliche Kräfte, fiel uns auf. Der nordische Gott Thor schwingt seinen Hammer und ruft dabei Blitze herbei, die kenianische Prinzessin Storm manipuliert mit tänzerischen Bewegungen und Geisteskraft das Wetter. Während Benn Grimm von den Fantastic Four zum steinernen Monster mutiert, kann sich seine Kollegin Sue Storm unsichtbar machen, indem sie Lichtwellen manipuliert. Sehr häufig ist das weibliche Pendant zum betont körperlichen Superhelden die grazile Superheldin mit mentalen Kräften. In der über 90 Jahre langen Geschichte des Genres gibt es natürlich einige Ausnahmen. Batgirl, Batman und Batwoman haben die gleichen Fähigkeiten: Im Grunde keine. Supergirl ist im Wesentlichen als weibliche Kopie von Superman entstanden. Mittlerweile gibt es auch mehrere Comics mit Jane Foster als neue Thor. Wonder Woman verprügelt schon seit den Vierzigern Nazis. Treten allerdings zwei Geschwister unterschiedlichen Geschlechts auf (wie Wanda und Pietro Maximoff) und eine Person hat eine physische Superkraft wie Geschwindigkeit und die andere eine eher mentale wie Telekinese, dann ist klar, wer von den beiden welche Fähigkeit besitzt.
In X-Men #8 von 1963 Unus the Untouchable raufen sich drei der Protagonist*innen im Trainingsraum. Währenddessen stickt Jean Grey, die einzige Frau im Team, mit Gedankenkraft Kreuzstiche. „Exactly six seconds“ bemerkt ihr Teamchef Cyclops bewundernd. Ihre Rolle als hübsche Quotenfrau wird auf unangenehme Weise weiter verhärtet, als wir erfahren, dass er sich aufgrund Jeans „seidenen Haare“ und Lippen in sie verliebt hat. Doch die Geschichte von Jean Grey geht weiter. 17 Jahre nach X-Men #8 ist sie eine der mächtigsten Superheld*innen in der Geschichte von Marvel Comics. In einem klassischen Power-corrupts-Plot verstärkt eine Sonneneruption Jean Greys Kräfte so sehr, dass sie zur Bedrohung für die Menschheit wird, einen ganzen Planeten in sich aufnimmt und sich dann, wie weibliche Heldinnen so oft, in einem selbst bestrafenden Akt der Wiedergutmachung opfert.
Jetzt stellt sich die Frage: Wie kam es zu diesem Wandel? Wie wurde Jean Grey vom stickenden Mauerblümchen zur Naturgewalt? Neben vielen Faktoren wie der Sensibilisierung für feministische Themen und einen Autor*innenwechsel ist hierfür auch teilweise die eigentlich sexistische Kategorisierung von primär männlichen und weiblichen Superkräften verantwortlich. Die Tatsache, dass eine Gruppe von Männern in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gedacht haben, Frauen müssen Kräfte haben, bei denen sie sich nicht die Finger schmutzig machen, hat dafür gesorgt, dass aktuell Frauen wie Scarlett Witch als die mächtigsten Figuren im Marvel Cinematic Universe gelten. Physische Fähigkeiten wie Körperkraft lassen sich nur zu einem bestimmten Grad ausreizen. Mentale Fähigkeit sind fast grenzenlos. Auf dem Cover von Action Comics #1 hebt Superman ein Auto in die Höhe, im Film X-Men 3 – The Last Stand lässt eine junge Jean Grey die Autos in der gesamten Nachbarschaft fliegen.
Die Reiterinnen von Rohan
Weibliche Repräsentation bei Tolkien ist ein viel diskutiertes Thema. Tessa Andrews vertritt in The Lack of Women in The Lord Of The Rings Is Alarming. But Somehow, I’m Okay With It die Meinung, dass Herr der Ringe zwar wenige weibliche Repräsentation bietet, aber eigentlich nur drei mächtige Frauenfiguren braucht (Arwen, Galadriel und Eowyn), um jungen Mädchen erstrebenswerte Vorbilder an die Hand zu geben. Als Eowyn dem Fürst der Nazgûl gegenübersteht, ruft dieser „Hinder me? Thou fool. No living man may hinder me!“ Sie erschlägt ihn mit den Worten: „But no living man am I!” (Im Film: „You fool, no man can kill me“ und „I am no man!“).
Tolkien selbst gilt, was weibliche Repräsentation betrifft, trotz solcher Szenen als ziemlich umstrittener Autor. Im berüchtigten Brief 43 schreibt er seinem Sohn, dass die „sexuellen Impulse“ der Frau sie dazu befähigen sich „im Rahmen ihrer Möglichkeiten“ für die Interessen ihres Mannes zu begeistern. Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich, dass einige Filmszenen, die Arwen als mächtige Halbelbin zeigen, sich im Buch nicht finden lassen. „Tolkien himself, in reality, probably was the stodgy sexist Oxford professor that feminist scholars paint him out to be“, schreibt Melissa Hatcher in Finding Woman’s Role in The Lord of the Rings, in dem sie auch durchaus positiv über die Frauenrollen in den Büchern schreibt.
Umso mehr „fun“ ist ein bestimmter Funfact über den zweiten Herr der Ringe-Film Die zwei Türme. Etwa die Hälfte der Rohan-Männer wurden von Frauen gespielt, denen man Bärte angeklebt hatte, erzählt Aragorn-Schauspieler Viggo Mortensen in einem Making-Of. Es war schwierig am Drehort in Neuseeland männliche Reiter zu finden, also castete man weibliche Extras und präsentierte sie mithilfe von Maskenbildner*innen männlich. „Frauen können schließlich genauso gut reiten wie Männer; wenn nicht besser“, führt Mortensen aus.
Warum man dann nicht schlichtweg Frauen auf dem Schlachtfeld zeigt, statt auf ein vorwiegend männliches Heer zu bestehen, bleibt unbeantwortet. Das alles erinnert an frühes Theater, von dem Frauen ausgegrenzt wurden, und entsprechend alle weiblichen Charaktere von Männern gespielt wurden oder sogenannte Hosenrollen in Restaurationskomödien im späten 17. Jahrhundert: Frauenfiguren, die sich als Männer verkleideten, um die gleichen Freiheiten genießen zu können. Natürlich sind die bärtigen Rohirrim-Frauen bei Herr der Ringe keine wirkliche progressive Repräsentation. Aber sie lassen uns über klassische Präsentationen von Geschlechtern nachdenken. Für eine Szene, bei der Eowyn „I am no man“ ruft und hinter ihr zwei oder drei bärtige Rohan-Reiterinnen „me neither“ hinzufügen, hat es den Filmemacher*innen wohl an Mut oder Kreativität gefehlt. Verglichen mit dem queeren Alexios und der weltenverschlingenden Superheldin Jean Grey bieten die Reiterinnen Rohans nur für Eingeweihte eine Art progressive Ironie. Ein deutlich sichtbarer Effekt für einen Großteil der Zuschauer*innen fehlt.
Aus Versehen progressiv ist nicht progressiv genug
Das alles ist natürlich, wie gerade das letzte Beispiel zeigt, keine Lösung für fehlende Repräsentation. Neben eher unabsichtlich progressiven Beispielen sind die meisten positiven Veränderungen in medialer Darstellung argumentativ erkämpft. Das Entwicklerteam von Assassin‘s Creed muss sich trotz sexistischer Einflüsse ihrer Vorgesetzten zu einem bestimmten Zeitpunkt bewusst dafür entschieden haben, dass sich sowohl Kassandra als auch Alexios homo-, bi- und pansexuell spielen lassen. Jean Grey wurde auch deswegen so stark, weil Autor Chris Claremont sie in den Achtzigern so geschrieben hat. Leider können wir uns nicht darauf verlassen, dass im Mainstream unsere Realität so divers und komplex abgebildet wird, wie sie ist. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns nachdrücklich dafür einzusetzen und die wenigen Beispiele von unabsichtlich progressiver Repräsentation als Zeichen dafür zu sehen, dass positive Darstellung von Queerness, starken Frauenfiguren und eine Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen der zweifellos nächste Schritt sind.
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