Im August 2016 startete die Belegschaft des US-Onlinemagazins “Slate” ein Experiment. Sechs ihrer Autor*innen sollten sich an der vermeintlich einfachsten aller literarischen Gattungen versuchen: Bilderbücher für Kinder. Als Vorgabe gab es ein Tier (Igel) und eine Moral (“Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere”) und einen zugegeben recht engen Zeitrahmen von einer Stunde, um das Buch zu schreiben und zu illustrieren. Die Ergebnisse wurden anschließend einer Fachjury aus Verlagsredakteur*innen vorgelegt und von diesen zerpflückt.
Das eindeutige Votum: “All of you should keep your day jobs.” Das Ziel des Hackathons erreichte das Team trotzdem: es hatte am Ende ein vages Gefühl dafür bekommen, was es alles braucht, um überhaupt ein Bilderbuch zu produzieren, geschweige denn ein gutes. Und ich fühle mit ihnen, denn ich habe zwar noch nie selbst versucht, ein Bilderbuch zu schreiben und zu zeichnen, aber ich habe sehr viele vorgelesen. Mindestens 100 Stück allein im letzten Jahr, um genau zu sein.
Wie bei vielen Kritiker*innen und Journalist*innen ist bei mir mit der Ankunft meines eigenen Kindes auch mein Interesse an den Medien erwacht, die es konsumiert. Es ist einfach eine faszinierende Welt, in die man eintaucht, und mit der man sich in der Regel vorher noch nie beschäftigt hat. Und wenn man, wie ich, sowohl die Art Kind zu Hause hat, für das Geschichten der vorrangige Zugang zur Welt sind (und dem man corona-bedingt sehr viel vorlesen musste), als auch eine der bestbestücktesten Kinderbibliotheken Berlins direkt vor der Tür hat, dann bekommt man viele verschiedene Facetten dieser Welt zu sehen.
Das Projekt
Daher entschied ich mich vor einem guten Jahr, mitten im zweiten Lockdown, dass ich 2021 jedes ausgeliehene und gekaufte Buch nicht nur vorlesen, sondern auch anschließend auf Goodreads mit einer Rezensionsnotiz versehen würde. So wollte ich mich dazu zwingen, die Bücher auch in einem breiteren Kontext zu betrachten, Muster und Motive besser zu erkennen. Und ich würde schließlich im Stande sein, diesen Artikel zu verfassen.
Viele Rezensions-Organe für Kinderbücher, das ist mir aufgefallen, betrachten diese selten im größeren Zusammenhang und schauen beim einzelnen Exemplar vor allem darauf, ob es ans Herz geht, die richtigen Rollenbilder transportiert und schöne Illustrationen hat (die für mich hier nicht die Hauptrolle spielen). Es gibt aber durchaus einen Erkenntnisgewinn, wenn man versucht – auch abseits einer reinen Marktlogik – Trends und Tendenzen freizulegen. Allein schon, weil das eventuell die eigenen Entscheidungen für zukünftige Bücher beeinflusst.
Immer die gleiche Geschichte
Wer viele Bilderbücher betrachtet, hat früher oder später ein Déja-vu. Bestimmte Motive tauchen einfach immer und immer wieder auf. Wenn man alle Kinderbücher, deren Klappentext sinngemäß mit “[Name des Tiers] ist anders als die anderen [Gattung der Tiere]” beginnt, aneinanderlegte, käme man vermutlich zum Mond und zurück. Gerade dieses Plots, in dem ein Einzelner sich nicht der Herdenmentalität seiner Artgenoss*innen anschließen will oder kann, scheinen Autor*innen einfach nicht müde zu werden.
Interessant ist dann vor allem, wie der Konflikt aufgelöst wird – meist läuft es entweder auf ein recht deterministisches “Jeder hat eine andere Aufgabe in der Gesellschaft” oder ein lapidar-versöhnliches “Wir können uns doch trotzdem vertragen” hinaus. Nur ein mir bekanntes Buch, Hier kommt Harry von Simon Philip (2020), wagt sich, explizit die Frage zu stellen, ob die vermeintliche Herde nicht vielleicht auch aus Individuen besteht und “die Anderen” eventuell keine hilfreiche Kategorisierung sein könnte. Das kleine Walhorn von Jessie Sima (2018) plädiert am Ende stattdessen auf wunderbare Weise dafür, dass man sich gar nicht immer für eine von zwei Welten entscheiden muss. Und Das NEINhorn (2019) von Känguru-Schöpfer Marc-Uwe Kling dreht das ganze Thema auf eine anarchistische Meta-Ebene, die auch nicht verkehrt ist. (Ich habe zu diesem Thema im Speziellen schon einmal einen ganzen Podcast aufgenommen.)
Andere Motive, die immer wieder auftauchen, und mehr oder weniger gut vermittelt werden: Ein unüberwindbar scheinendes Hindernis wird überwunden; etwas vermeintlich Fremdes und Feindliches, vor dem alle Angst haben, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Freund; ein guter Freund hält selbst in widrigen Umständen zu einem; folge deiner Fantasie und du kannst alles erreichen. Dabei zeigt sich auch, dass gerade Bilderbücher oft auch Zweckliteratur sind – manchmal für ganz banale Zwecke wie “Das Kind beruhigen, damit es gut einschlafen kann”, oft aber soll dem Kind natürlich auch etwas beigebracht werden.
Das Bild vom Kind
Bilderbücher gehen mit dem Zeitgeist, und das bedeutet auch, dass sie sich (im besten Fall) an aktuellen frühpädagogischen Erkenntnissen orientieren. Während es also vor vierzig Jahren noch total klar war, dass man Kinder früh formen und prägen muss, und ihnen deshalb beispielhafte Fabeln vorlegt, anhand derer sie lernen, was korrektes Verhalten ist und welche Konsequenzen Fehler haben (die Schnecke, die sich in Leo Lionnis Das schönste Haus der Welt ein besonders schönes Haus wachsen lässt, stirbt elendig, von ihrer Schneckenfamilie zurückgelassen), geht die heutige Pädagogik sehr vereinfacht gesagt viel stärker davon aus, dass man Kinder dort abholen sollte, wo sie sich gerade in ihrer Entwicklung befinden und ihnen Möglichkeiten anbietet, wie sie sich weiterentwickeln könnten. Den entscheidenden Schritt lässt man sie dann aber selbst machen und reflektieren. “Selbstwirksamkeit” lautet das Stichwort.
Viele der besten Bilderbücher schließen direkt an die Erlebniswelt der Kinder an. Ihre Protagonist*innen sind selbst Kinder, die Situationen erleben, wie sie die Rezipient*innen kennen, nur vielleicht etwas komprimierter oder fantastischer. Sie bieten Identifikationspotenzial, indem sie Kinder als vielschichtige Wesen zeigen, entweder durch Porträtierung einer Gruppe von Kindern etwa in einem Kindergarten (zum Beispiel seit 2009 in der Reihe Die wilden Zwerge des Autor*innenduos, das unter Meyer/Lehmann/Schulze firmiert oder dem Buch Waldtage! (2020) von Stefanie Höfeler) oder durch Bücher, in denen Kinder innerhalb einer Geschichte auch mal mehrere Gefühle durchleben dürfen, wie beim 2018 erschienenen Kalle und Elsa (und seinen bisher zwei Fortsetzungen) des schwedisch-spanischen Ehepaars Jenny und Jesús Westin Verona. Alltäglichkeit kann ein starker Anknüpfungspunkt sein, wie in Philip Waechters wunderbar unaufgeregtem Ein Tag mit Freunden (2021).
Viele noch immer populäre Kinderbuchklassiker weisen dieses Merkmal auf, von den Kindern von Bullerbü bis zu Petterson und Findus (auch wenn Findus kein Kind, sondern ein Kater ist). Sie erzählen Geschichten über echte Erlebnisse und Bedürfnisse und laden damit zur Reflexion ein. Das freilich müssen dann oft die Vorlesenden übernehmen, es gibt keine klaren Handlungsanweisungen mehr.
Wobei auch hier die Zweckliteratur nicht wegzudenken ist, in der parabelhaft aufgezeigt wird, was sich gegen Gefühle wie Langeweile, Wut oder Traurigkeit tun lässt. Diese Bücher sind mal besser, mal schlechter, meist ebenfalls in Abhängigkeit davon, ob sie einem echten kindlichen Bedürfnis auf den Grund gehen und Auswege aufzeigen, oder sich irgendwo ein*e Autor*in gedacht “Ich möchte Kindern Lehre X aufzeigen. Welche Geschichte könnte ich dazu erfinden?”
Dabei werden zunehmend auch Werke für Kinder geschaffen, deren Gefühle vielleicht nicht der erwarteten Norm entsprechen. Wer zum Beispiel eher introvertiert und deswegen auch gerne mal allein ist, dem zeigen Bücher wie Eine Maus namens Julian von Joe Todd-Stanton oder Benny auf dem Berg (Originaltitel: Alone!) von Barry Falls (beide 2021), dass man Freundschaften anders als überall sonst propagiert auch in kleinen Dosen genießen darf.
Dramaturgie is King
Die literarische Qualität auch von Bilderbüchern zeigt sich oft darin, wie sie aufgebaut sind. Es ist erstaunlich, wie oft sich schwächere Veröffentlichungen lange mit Exposition aufhalten, um dann zu merken, dass sie ja noch hastig eine Geschichte erzählen müssen. Bei den besten hingegen harmoniert der Rhythmus der Bilder perfekt mit dem der Handlung, Ereignisse passieren nicht plötzlich, sondern folgerichtig und motiviert, es gibt Überraschungen und zufriedenstellende Enden.
Wie vielfältig gutes Plotting bei Bilderbüchern sein kann, zeigt sich in sehr einfachen Geschichten wie Jon Klassens Wo ist mein Hut?, das einen Twist von der epischen Breite eines Sixth Sense enthält. Es kann aber bis zu Büchern wie Sven Nordqvists Klassiker Ein Feuerwerk für den Fuchs führen, das bei genauerem Hinsehen beinahe der Dramaturgie eines Heist-Movies folgt. Petterson schmiedet beiläufig einen immer komplexeren Plan, der sich dann überraschend auflöst. Bilderbücher befinden sich dabei auch deutlich in einem Austausch mit Comics. Gerade neuere Exemplare, zum Beispiel von Autor/Illustrator John Jory, setzen immer wieder auf Comic-Dramaturgie, in der Momente schnell oder langsam mit größeren oder kleineren Panels, manchmal auch ohne Sprache erzählt werden.
Wer Kinder hat, weiß allerdings, dass diese meist auch problemlos Geschichten akzeptieren, die mäandern und nicht vorgeplant sind, solange viele Elemente darin vorkommen, die sie lieben – etwa wenn die Eltern sich eine spontane Gute-Nacht-Geschichte ausdenken. Diese Tatsache scheint für manche Autor*innen aber auch Entschuldigung zu sein, Bücher zu schreiben, die ähnlich träge erscheinen, keinerlei innerer Logik oder Regeln für die ausgedachte Welt und ihre Charaktere folgen und sich per Deus-Ex-Machina auflösen. Aufgefangen werden solche Schwächen dann auch noch häufig mit einer Extraportion Kitsch, die über alles drüberkleistert wie Zuckerguss, der einen staubtrockenen Kuchen retten soll.
Ein Werk für zwei Nutzer*innen
Bilderbücher für Kinder im Kita- und Grundschulalter haben fast immer zwei Nutzer*innen, von denen eine*r vorliest und eine*r vorgelesen bekommt. Damit das Erlebnis für beide angenehm ist, muss das Vorlesen einfach sein und Spaß machen. Die besten Autor*innen wissen das. Sie schreiben so, dass die Vorlesenden Tempo und Stimme variieren können, ohne dabei über die eigentlichen Worte zu stolpern. Einer der Gründe für Astrid Lindgrens andauernde Wirkung dürfte sein, dass sich ihre Bücher sehr gut vorlesen lassen. Sie haben einen erstaunlich leichten Lesefluss, der aber nie langweilig oder flach wird. Gleiches gilt für Janosch, dessen schnodderiger Stil beinahe mehr für das Sprechen als das Lesen komponiert scheint.
Verlage haben damit begonnen, diesen Vorleseprozess in die Buchgestaltung miteinzubeziehen, indem sie typografisch einzelne Wörter oder transkribierte Laute hervorheben und den Text über die Seite tanzen lassen. Das funktioniert manchmal hervorragend, wird gelegentlich aber auch zum Gimmick. Ähnlich verhält es sich mit den für Kinderbüchern üblichen Wiederholungen von Szenen mit ähnlichen Satzabfolgen. Manche Autor*innen finden genau die richtige Balance aus Wiederholung und Variation, andere sorgen dafür, dass man irgendwann die Augen verdreht und ruft: “JA DOCH, WIR HABEN ES KAPIERT!”
Dass viele Bilderbücher in Reimen verfasst sind, kann Fluch oder Segen sein. Es ist mir ein Rätsel, wie gestandene Lektor*innen zulassen können, dass gereimte Bücher verlegt werden, in denen Versmaß und Reimschema in etwa sprachlich so rund sind, wie das Gedicht des Männergesangsvereins für Erwins 70. Geburtstag. Andererseits finden sich oft genug Beispiele, in denen gereimte Bücher spektakulär gut aus einer anderen Sprache ins Deutsche übertragen sind. Es geht also, man muss es nur für wichtig genug halten.
Ein einmaliger Blick
Für ein gelungenes Bilderbuch braucht es also ein Bild vom Kind als selbstständiges Wesen mit eigener Lebenswelt, echten Bedürfnissen und gerechtfertigten Gefühlen, gepaart mit einer gelungenen Dramaturgie, die sich in ihrer Auflösung nicht davor scheut, den Status Quo zu hinterfragen. Das Ganze zu Papier gebracht in einer Sprache, die Vorlesenden und Zuhörenden gleichermaßen Freude bereitet. Lässt sich das lernen?
Eine unfassbar erfolgreiche Autorin, die ich bisher noch nicht erwähnt habe, behauptet seit kurzem, dass es geht. Julia Donaldson, Autorin Grüffelo und vieler weiterer großartiger Bücher, hat sich von BBC Maestro zu einem Masterclass-Kurs überreden lassen und erklärt einem für 99 Pfund, wie man gute Bilderbücher für Kinder schreibt. Glücklicherweise hat sie ihre wichtigsten Erkenntnisse auch der “Daily Mail” erzählt, wo sie alle kostenlos lesen können. Vieles von dem, was sie sagt, leuchtet ein, ist aber auch wenig überraschend: sie erwähnt, wie wichtig gute Enden sind und dass in Versen verfasste Bücher etwas von einem Lied mit Kehrreimen haben sollten. Vor allem aber sagt sie, dass in ihren Texten sehr viel Arbeit, vor allem in den Details, steckt. Ihr Mann darf sie als erster laut vorlesen, und wenn er nicht sofort merkt, wie jede Zeile betont werden sollte, setzt sie sich wieder hin und feilt weiter.
Auf der anderen Seite erzählt Donaldson, wie wichtig ihr Originalität und Überraschung sind. Ihre Bücher sind selten banale Moralgeschichten, auch wenn sie nebenbei Werte wie Freundschaft, Zusammenhalt oder Abenteuerlust transportieren. “Voice is the first thing I look for”, sagt auch die Jurorin und Verlagsredakteurin Kat Brzozowski in ihrem Urteil zu den Produkten der “Slate”-Autor*innen vom Anfang. Wirklich gute Bilderbücher funktionieren am Ende wie jede gute Literatur. Sie verbinden einen einmaligen Blick auf die Welt mit solidem Handwerk, das niemals der Versuchung erliegt, sein Publikum zu unterschätzen. Über solche Werke freut man sich auch noch nach dem 200. Buch.