von Shida Bazyar und Emma Braslavsky
Emma: Als Kind dachte ich, Zukunft sei ein ferner Ort, so wie ein Briefkasten auf dem Mond, an den ich meine Träume und Sorgen adressieren konnte. Ich empfand Zukunft als Wohltat, weil ich dort oft meinen Kram loswurde, mit dem ich mich gerade nicht beschäftigen wollte. Zukunft war mir mehr Trost als Herausforderung, mehr Abenteuer als Vision. Das änderte sich, als ich im Teenager-Alter war. Plötzlich wurde Zukunft für mich immer dort sichtbar, wo Menschen scheiterten.
Ich spürte ihre Abwesenheit, die einzige Möglichkeit, in der ich bis heute Zukunft »wahrnehmen« kann, denn sie existiert als Zeitraum in unserer physischen Welt nicht, sie ist nur das Labor, die Erzählung, in der sich der Mensch noch nicht zurechtfindet. Sie »existiert« erst, seit Menschen ein Zeitverständnis entwickelt haben, das über ihr Leben hinausgeht, seit sie theologisch denken, d. h. mit sich als Mittelpunkt einer universellen Geschichte. Seit sie aufgehört haben, nur in natürlichen Zyklen zu denken, und sich einredeten, dass sie und ihr Leben einzigartig sind. Zukunft ist immer bloß eine Keimzelle, wenn wir ihr begegnen. Und wenn sie sich entwickelt, dann wird sie Gegenwart und schnell zur Geschichte.
Shida: Wenn man mich als Kind gefragt hätte, was die Zukunft ist, hätte ich vermutlich geantwortet, das ist der Ort, an dem Marty McFly mit einem fliegenden Skateboard unterwegs ist. Die Zurück in die Zukunft-Filme waren der einzige Kontext, in dem mir der Begriff begegnete. Ich frage mich, ob das an dem allgemeinen Privileg einer mehr oder weniger sorglosen Kindheit lag oder daran, dass niemand mir so recht vorleben konnte, was die Zukunft sein könnte. Die individuelle Ebene meines Elternhauses war zu eng gekoppelt an eine politische und diese ließ wenig Raum zum Träumen oder Planen oder sagen wir einfach mal: zum Vorausdenken. Während es als Kind ein Privileg ist, sich keine Vorstellung von einer Zukunft zu machen, ist es als Erwachsene wiederum eines, sich überhaupt eine Vorstellung machen zu dürfen. Sich selbst als Mittelpunkt zu begreifen, sich der Illusion des Einzigartigen hinzugeben – welchen gesellschaftlichen Gruppen steht das zu? Wenn einzelnen Gruppen auf unterschiedlichen Ebenen die Partizipation und Verantwortung für eine Gesamtgesellschaft verwehrt bleibt, macht man dann nicht zwangsläufig unmündige, ungewollte Kinder aus ihnen? Und mit denen will man dann trotzdem zusammen eine Zukunft gestalten, wie soll das eigentlich gehen?
Emma: Mein Zukunftsgefühl wurde stark vom sogenannten real existierenden Sozialismus geprägt, der die Utopie als Endzeitmodell wollte. Nach dem Sozialismus oder Kommunismus kam da nichts mehr, dort sollte die Ziellinie sein, dort war die Zeit des Strebens und der gesellschaftlichen Entwicklung zu Ende. Dagegen rebellierte ich als Teenager im Staatsbürgerkundeunterricht, als ich mich mit dem Kapitalismus, insbesondere der sozialen Marktwirtschaft, als dynamischem gesellschaftlichem Kontinuum beschäftigte. Ich lehnte mich natürlich ideologisch an Lenins NÖP an, auch um zu verhindern, dass sie mich als unbelehrbar abstempelten. Da ich stereo aufgewachsen bin – d. h. meine Cousins und Cousinen in Hessen schickten mir über meine Großmutter eine Zeit lang ihre Schulbücher –, habe ich gelernt, wie stark die Sicht auf die Gegenwart und Zukunft von der gelenkten Sicht auf die Vergangenheit abhängt, welche Rolle dabei Begriffe spielen, die den Blick kanalisieren, und wie stark Formulierungen das Lebensgefühl prägen können, wie sie zu Architekten der Welt werden, in der ein Mensch zu leben glaubt.
Von heute aus in die Vergangenheit geblickt könnte man vereinfachend sagen: Unser Leben ist immer besser geworden. Linear gedacht hieße das: Unser Leben wird in der Zukunft immer besser werden. Beim genaueren Hinschauen erkennen wir aber: Unser Leben ist zwar besser, friedlicher, aber immer komplizierter und komplexer geworden. Wir sind kreativ und finden Lösungen, aber wir verursachen gleichzeitig enorme Kollateralschäden. Dieser in der Zukunft ansteigenden Komplexität unseres besseren Lebens werden sogenannte reine Dystopien oder Utopien nicht mehr gerecht. Wenn wir uns und unsere Umgebung nicht zerstören wollen, müssen wir uns technologisch entwickeln und gleichzeitig die Nebenwirkungen dieser Entwicklungen bekämpfen, wir müssen gesellschaftlich in Bewegung bleiben, wollen aber unseren Wohlstand nicht gefährden. Reine Zustandserhaltung oder apokalyptische Zustandsbeschreibungen sind unterkomplex und oft kontraproduktiv, haben aber leider als Kampfmittel um eine bessere Zukunft nicht ausgedient.
Shida: Als ich in Hildesheim angefangen habe, Kreatives Schreiben zu studieren, war ich ziemlich perplex über die Texte der anderen. Nicht über deren Qualität (ich war lediglich perplex, nicht arrogant), sondern über deren selbstbewusstes, unverhohlenes Apolitisch-sein. Ich wertete das nicht einmal, ich nahm es zur Kenntnis, und Popliteratur fand ich ja auch ganz bekömmlich. Aber heimlich fragte ich mich, was das für ein Land bedeutet, wenn das die angehende Autor·innenschaft ist. Vielleicht passiert das, wenn man eben nicht im sogenannten real existierenden Sozialismus aufwächst, sondern mit dem erträumten Ideal dessen: Ich dachte, dass wir doch »eine Aufgabe« haben sollten, dass wir als Schreibende doch auch die Funktion eines »Gewissens« einnehmen müssen, dass wir »Verantwortung« haben. Wenn DAS mal Deutschlands Gewissen wird, so dachte ich mit Blick auf die anderen, dann wird dessen Gesicht ein durchaus merkwürdiges sein. Heute mache ich zwar circa drei der mindestens fünf in diesen Überlegungen steckenden Denkfehler nicht mehr, frage mich aber trotzdem: Wie sieht es aus, für Deutschlands Dichter·innen? Ich gönne ihnen und mir ja jede weitere Runde Texte über Eiscreme und Zuckerwatte. Nur, ob wir uns die wirklich leisten können, das frage ich mich bei jedem Spaziergang über den Literaturjahrmarkt auch. Ich greife in die Hosentasche und zähle die Münzen. Die mikrophone Stimme dröhnt rüber und fragt nach einer neuen Runde, einer Runde Extraspaß, fragt nach Papiermangel und Ressourcen, nach Buchmessenboykott und Migrationsmaskottchen. Ich will nächstes Jahr wiederkommen, verdammt, aber wäre schön, wenn die Stimmung dann bisschen besser wäre. Dann bringe ich auch meine Enkel und deren Gewissen mit.
Emma: Menschen haben sich an Geschichten in die Zukunft gehangelt. Damit wir uns verändern können, müssen wir sie uns erst vorstellen. Und gute Erzählungen über ›Zukunft‹ brauchen vor allem Held·innen in allzu menschlichen Situationen. Also stellt euch vor, ihr bestellt online einen Esstisch, weil er euch am besten gefallen hat. Die Beschreibung habt ihr nur teilweise gelesen, weil es spät war und ihr nicht so viel Text lesen wolltet. Ihr habt was von ›nachhaltig‹ verstanden, aber es ist euch entgangen, dass es sich um ein vollkommen neues Holzimitat handelt, das sich in 24 Monaten dematerialisieren wird, also in Luft auflöst. Das ist revolutionär, aber auch blöd, wenn man noch die ausdrücklichen Hinweise des Möbelstücks, die drei Monate vor dessen Dematerialisierung geäußert werden, überhört und just an diesem besagten Tag die Chefin oder die neue Geliebte zum Essen eingeladen hat. Zukunft war immer ein Dilemma für Menschen, weil sie unsere Gewohnheiten infrage stellt. Denn wenn es um Zukunft geht, geht es um Grenzerfahrungen zwischen dem, was wir mitnehmen, und dem, was wir zurücklassen müssen. Aber nichts ist so menschlich wie das Paradox: Nur in der Fiktion kann Zukunft erlebt werden, ansonsten wird sie zur Realität, und der Realität versucht der moderne Mensch gern zu entfliehen.
Shida: Ich schaffe es nicht, die Gegenwart in meinen Geschichten auszulassen. Selbst wenn ich über die Vergangenheit schreibe, selbst, wenn ich über historische Begebenheiten der 1970er Jahre schreibe: Ich kann die Folgen, die Gegenwart nicht verschweigen, sonst fühlt sich jeder Text nach Heuchelei an. Denn in der Gegenwart existiere ich, hier, an diesem Schreibtisch sitze ich und schreibe ich, und wenn der Schreibtisch unaufgeräumt ist, dann kann ich nicht schreiben, und wenn die Wäsche nicht gemacht ist, dann kann ich nicht schreiben, und wenn die Spülmaschine ruft, wie könnte ich mich denn dann hinsetzen und schreiben. Weil ich immerzu die Gegenwart aufräume, merke ich es vielleicht gar nicht, dass ich das alles für die Zukunft mache. Für meine Texte der Zukunft, über die Zukunft.
Der Text entstand im Rahmen des Förderprogramms für Literaturveranstaltungen im ländlichen Raum „Und seitab liegt die Stadt“ einer Initiative der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und des Literarischen Colloquiums Berlin.