von Franziska Reuter
Das größte Problem von Social Media ist, dass Menschen sich online schlechter benehmen als im echten Leben. Fast niemand würde doch zu einem Fremden auf der Straße gehen und sagen, hey, hast du den Mantel aus der Altkleidersammlung? Online passiert so etwas ständig. Die gängige Interpretation dieses Phänomens lautet: Es fällt Menschen schwer, die Reaktion auf ihr Verhalten zu antizipieren, wenn sie ihr Gegenüber nicht sehen können. Dann wirkt die Person, die man beleidigt, nicht wie eine echte Person, die man vielleicht verletzen könnte, sondern nur wie ein Account.
Ich sehe das anders. Ich bin davon überzeugt, dass Leute, die sich online schlecht benehmen, auch im richtigen Leben unangehm sind und das nur kaschieren, weil es ihnen sonst selbst zu sehr schaden würde. Wer sich in jeder Kommunikation aufführt wie die Axt im Walde, wird bald privat sehr einsam werden und im Job nicht vorankommen. Auf Social Media hingegen muss man schon enormes Pech haben oder sich extrem mies verhalten, um echte Konsequenzen dafür zu spüren.
Kein Wunder, dass viele Menschen dort gern Dampf ablassen. Sie wissen natürlich, dass sie andere damit verletzen. So wie man selbst ein Mensch mit Gefühlen hinter einem Account ist, steht woanders auch ein Mensch mit Gefühlen hinter jedem Account. Das zu kapieren ist etwa so komplex, wie sich selbst im Spiegel zu erkennen. Und das gelingt meist spätestens im Alter von zwei Jahren.
Nun gehen nicht alle Social-Media-User mit offenen Beleidigungen ans Werk. Es gibt zwei etwas subtilere und trotzdem unangenehme Methoden, die einen ähnlichen Zweck erfüllen. Nummer eins: Nonmentions. Für die Glücklichen, die nicht wissen, was eine Nonmention ist: Jemand ärgert sich über jemanden und verfasst ein Posting, in dem das Ärgernis auf verklausulierte Weise benannt wird. Dabei werden nie Namen und selten konkrete Ereignisse erwähnt.
Es braucht wahrscheinlich ein Beispiel. Nehmen wir etwas Undramatisches. Klaus und Beate kennen sich über Twitter und chatten hin und wieder. In einer dieser Nachrichten schreibt Beate, sie liebe Coldplay. Klaus schreibt daraufhin einen öffentlichen Tweet, der in etwa lautet: Manche Menschen haben überhaupt keinen Musikgeschmack, und für solche Leute habe ich nun wirklich keine Zeit. Das ist schon ziemlich gemein. Aber üblicherweise geht es um viel ernstere Themen als Musik, nämlich um Politik oder Lebensstile oder Kindererziehung. Das tut viel mehr weh. Und es ist gar nicht so ungewöhnlich, dass vorher ein privater Kontakt stattgefunden hat, denn es braucht schon eine gewisse Fallhöhe, damit jemand eine Nonmention verfasst.
Natürlich gibt es harmlose Nonmentions. Liebeskummer hat schon sehr viele davon verfasst. Es wäre auch harmlos und nett, wenn Klaus sich weiter mit Beate unterhalten hätte, aber sein Tweet lautete: Da denkst du, du kennst einen Menschen allmählich, und dann outet der sich plötzlich als Coldplay-Fan. Nonmentions sind nicht prinzipiell unverschämt. Nur eben oft in der Ausführung. Außerdem ist ihr Publikum völlig unklar: Richtet sich das Posting an die Person, die dort beleidigt wird – wenn ja, warum kann man ihr das nicht einfach direkt mitteilen? Richtet es sich an alle Follower, von denen die meisten doch keine Ahnung haben, worum es überhaupt geht, und sich bestenfalls ausgeschlossen fühlen? Oder ist es nur etwas, das irgendwie raus muss? Da täte ein Selbstgespräch bessere Dienste als Social Media. Wer erwägt, aus Ärger eine Nonmention zu verfassen, sollte dringend sein Handy weglegen und mal um den Block laufen. Und wer eine Nonmention sieht, egal an wen sie gerichtet ist, sollte sie ignorieren. Man darf dieses Verhalten nicht mit Aufmerksamkeit belohnen – nicht mal mit negativer Aufmerksamkeit.
Das bringt uns zur zweiten Methode, andere Menschen anzugreifen: Snitchtagging. Wahrscheinlich gibt es einige Menschen, die sich gar nichts Böses denken, wenn sie es betreiben. Umso wichtiger ist Aufklärung. Auch hier ein Beispiel: Klaus hat einen Artikel verfasst. Drei Menschen, die ihn nicht näher kennen, unterhalten sich online über den Artikel und sind anderer Meinung, finden vielleicht sogar den Artikel schlecht und artikulieren das. Auftritt Beate, die sich in das Gespräch mischt mit den Worten: “Also ich lese die Artikel von @Klaus eigentlich immer gern!”
Man kann über die Motivation dazu streiten. Womöglich will sie ihn verteidigen, ist aber nicht altruistisch genug, um das außerhalb seines Sichtfeldes zu machen. Womöglich geschieht es aus einem fehlgeleiteten Sinn für Fairness. Womöglich findet Beate aber auch, dass Klaus ruhig mal mitkriegen kann, dass seine Artikel nicht sonderlich geschätzt werden, damit er nicht zu selbstbewusst wird.
Das ist einer von zwei Effekten des Snitchtaggings: Die Person, um die es geht, bekommt mit, dass jemand schlecht über sie redet. Ist es fair ihr gegenüber, sie darauf aufmerksam zu machen? Für diese Einschätzung lohnt es sich oft, die Szene ins echte Leben zu übertragen. Es gibt also eine Party, eine sehr große Party, viele dort kennen einander nicht. In der Küche diskutieren drei Leute über Klaus’ Artikel. Beate hört das mit und brüllt in den Flur: “Klaus! Klaus, komm rüber, hier sagt jemand, du argumentierst wie ein Drittklässler!”
Wahrscheinlich ist Klaus gerade in einem angenehmen Gespräch über französische Rotweine und will weder erfahren, was über ihn gesagt wurde, noch selbst mitdiskutieren. Aber jetzt hat er die Wahl nicht mehr: Alle wissen, dass er es jetzt weiß, also muss er irgendwie reagieren. Verteidigt er sich, wozu er nun wirklich nicht verpflichtet ist? Bittet er darum, aus der Konversation genommen zu werden? Ignoriert er den Thread? Egal, was Klaus tut, seine Laune ist schlechter als vorher.
Klaus ist natürlich nicht der einzig Betroffene hier. Die drei Diskutanten stehen ebenfalls blöd da. Und zwar zu Unrecht: In Abwesenheit über Menschen oder ihre Arbeit zu sprechen, sogar negativ, ist ein völlig normaler Vorgang. Deshalb ist es auch nicht angemessen, hier mit Fairness zu argumentieren. Das gilt natürlich nicht für Freunde. Aber wenn Klaus mit den Lästernden befreundet wäre, hätte Beate ihm besser eine private Nachricht geschickt und ihm damit selbst überlassen, ob er so tun möchte, als hätte er den Vorgang nicht mitbekommen. Beate wiederum verdirbt es sich mindestens mit denen, in deren Diskussion sie sich eingeschaltet hat.
Beim Snitchtagging verlieren also alle Seiten. Das macht es so erstaunlich, dass Leute es weiterhin durchziehen. Man muss schon ausgesprochen tone deaf sein, um nicht zu merken, dass man die Stimmung aller ruiniert. Oder man macht das mit Absicht und gerne, weil man es liebt, wenn andere Menschen sich schlecht fühlen. Damit verdient man es sich redlich, großflächig geblockt zu werden. Ich selbst habe schon Snitchtagger auf Twitter geblockt, die gar nicht mich bloßgestellt haben, sondern andere Leute. Das kann ich sehr empfehlen. Im echten Leben würde man ja auch verstummen, wenn plötzlich die intriganteste Person des Bekanntenkreises neben einem steht, um ihr keine Munition zu geben. Das ist auf Social Media nicht anders.
Foto von charlesdeluvio auf Unsplash