Aus der Mitte braucht es Wut – Für ein in Verruf geratenes Gefühl

von Simon Sahner

Ich spüre Wut. Ich empfinde sie selbst, ich spüre sie aber auch, wenn ich durch die Sozialen Medien scrolle, ich spüre sie im Gespräch mit Freundinnen und Freunden und wenn ich mit Menschen rede, die ich erst seit einigen Stunden kenne. 

Wut ist im gesellschaftlichen Diskurs meistens nicht gut gelitten. Als politische Emotion steht sie immer im Verdacht, zu irrationalem, unüberlegtem und gefährlichem Handeln zu führen. Stattdessen sind besonnenes Vorgehen und ruhige Reflektion gefragt. “Wut,” das sagte auch Bundespräsident Frank Walter Steinmeier Anfang des Jahres “ist kein guter Ratgeber.” Spätestens seitdem “Wutbürger” 2010 zum Wort des Jahres gewählt wurde, ist Wut zudem vor allem verbunden mit rechtsgerichteten, von der Politik frustrierten Menschen, die die Institutionen der parlamentarischen Demokratie angreifen. Diese Wut prägte die Pegida-Demonstrationen und die letzten Jahre der Kanzlerinschaft von Angela Merkel, und sie trägt den Rechtsruck, der den politischen Diskurs immer weiter verschiebt. Wütend waren – so bekommt man den Eindruck – in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren meistens die rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräfte. Die Wut, die ich um mich herum bemerke und selbst spüre, ist keine solche Wut. Es ist eine verzweifelte und enttäuschte Wut der Menschen, die niemals AfD wählen würden, weil sie deren Werte, Weltsicht und Politik in keiner Weise teilen. 

Eine ungewohnte Wut

Eigentlich bin ich ein genügsamer Mensch, ruhig und gelassen bis zu dem Punkt, dass man mir manchmal vorwirft, nicht emotional genug zu sein. Aber es reicht – als ich vor einigen Tagen das Video von Friedrich Merz gesehen habe, in dem er in demagogischem Tonfall und in bester AfD-Manier den problematischen Zustand von Schulen, Krankenhäusern, Universitäten und Arztpraxen den Migrant*innen anlastet, habe ich den Bildschirm angeschrien. 

Diese Wut richtet sich auf Politiker*innen der demokratischen Parteien, in der Regierung und in der Opposition, und oft auch auf die Medien. Sie richtet sich nicht gegen die parlamentarische Demokratie und ihre Institutionen an sich. Darin unterscheidet sie sich fundamental von der rechten Wut der AfD-Anhänger*innen. Die Wut, die ich spüre, richtet sich auch nicht gegen die AfD. Das liegt daran, dass es eine verzweifelte Wut ist, eine Wut, die nicht fassen kann, dass Menschen bestimmte Dinge tun, bestimmte Aussagen tätigen und bestimmte Forderungen stellen. Von der AfD weiß ich seit Jahren, dass alles, was sie tut, sagt und fordert nicht mit meinen Werten übereinstimmt. Die AfD kann mich nicht enttäuschen, sie hatte nie die Möglichkeit dazu. 

Rassismus bleibt Rassismus

Die demokratischen Parteien des Bundestags aber versprechen ihren Wähler*innen seit Jahren, dass sie den Rechtsruck bekämpfen und dass sie die Demokratie, die Menschenrechte und das Grundgesetz bewahren werden. In vereinter Front standen Anfang des Jahres über alle Partei- und Wertegrenzen hinweg Menschen auf der Straße, um gegen die AfD und rechtsextreme Pläne zu demonstrieren – von Antifa bis Junge Union. Die Gefahr für die Institutionen des demokratischen Rechtsstaates ist durch den gesellschaftlichen Schwung nach extrem rechts und den Aufschwung der AfD derart gestiegen, dass sich eine Wagenburg aller demokratischen Parteien und Wähler*innen gebildet hat. Das ist gut und richtig. Der Blick darf jedoch nicht nur auf das gerichtet werden, was sich außerhalb dieses demokratischen Bollwerks befindet, sondern er muss auch nach innen gehen. Viele haben sich – zu Recht – auf das Bekämpfen der AfD fixiert, aber offenbar haben auch viele darüber vergessen, dass auch andere Parteien Forderungen erheben können, die dem Grundgesetz oder den Menschenrechten widersprechen. Rassistische Aussagen werden aber nicht weniger rassistisch, weil sie von Friedrich Merz statt von Björn Höcke kommen. Auch ist Populismus keine politische Strategie, zu der ausschließlich die AfD in der Lage wäre. Das zeigt die aktuelle Debatte um Grenzschließungen mehr als deutlich. Für den im Grundgesetz verankerten Rechtsstaat ist es egal, ob er von der Ampel-Regierung oder der AfD geschleift wird. Die Diffamierung von Armut betroffener Menschen und das Hofieren von Überreichen sind nicht weniger gefährlich für das soziale Gefüge, nur weil sie von einer demokratischen Partei wie der FDP kommen. 

Es ist absurd, wenn die erste Reihe der CDU, angeführt von Friedrich Merz, betont, dass die AfD niemals in Regierungsverantwortung kommen darf, und gleichzeitig einen Sound über die Marktplätze jagt, der sich zum Teil nicht von dem der AfD unterscheidet. Es ist ebenso absurd, wenn Markus Söder, dessen CSU vor vermeintlicher Rechtsstaatstreue sonst kaum laufen kann, populistische Forderungen stellt, die die Gewaltenteilung und damit eben jenen Rechtsstaat untergraben, Christian Lindner sieht es als Zeichen der “Liberalität”, dass man darüber nachdenken müsse, das im Grundgesetz verankerte individuelle Recht auf Asyl zu verändern, Olaf Scholz brüstet sich im Sommer-Interview damit, eine härtere Migrationspolitik umgesetzt zu haben, und Robert Habeck macht das alles irgendwie mit, aber mit “Bauchschmerzen”. Rechte Politik mit Bauchschmerzen bleibt aber rechte Politik. Daher rührt meine verzweifelte Wut. Auf wen soll man vertrauen, wenn die vermeintlichen Gegner der AfD der AfD immer ähnlicher werden oder zumindest ihr Spiel spielen? 

Der AfD in die Karten spielen

Angesichts dieser kollektiven Wende nach rechts – mit oder ohne Bauchschmerzen – , muss man sich fragen, nach welchen Prinzipien die Regierung und die demokratische Opposition handeln. Aussagen wie die genannten zur Migration lassen zwei Schlüsse zu: Entweder diese Politiker glauben, was sie sagen, dann sind ihre Parteien auf dem besten Weg eine zweite AfD zu werden, oder sie sagen diese Dinge, weil sie dem Trugschluss anhängen, die AfD mit dieser Taktik kleinzukriegen. Es ist inzwischen eine Binsenweisheit, dass die Adaption rechtsextremer Forderungen durch linke bis mitte-rechte Parteien nicht dazu führt, dass rechtsextreme Parteien weniger Stimmen bekommen. Im Gegenteil, ein politischer und gesellschaftlicher Rechtsruck spielt der Partei in die Karten, die offen zu diesen Positionen steht. Die Wut, die den Erfolg der AfD trägt, richtet sich ja gerade gegen die demokratischen Parteien des Bundestags und die Institutionen dieses Staates an sich. Rechte Forderungen von demokratischen Parteien bestätigen manche Menschen also nur in ihrer Annahme, dass die AfD mit dem, was sie fordert, richtig liegt. Um das einmal umzukehren: Jemand, der seit Jahren die Grünen wegen ihrer Haltung zur Klimakrise wählt, wird wahrscheinlich nicht zur CDU schwenken, nur weil sie sich in Umweltfragen den Grünen annähert. 

Es ist auch diese realitätsferne Haltung, die diese Wut auslöst. Einer Politik und Medienlandschaft, die seit dem Anschlag von Solingen mit wenigen Ausnahmen ausschließlich über Migration und Abschiebungen redet, kann nicht an den grundlegenden Lösungen zur Verringerung der Gefahr durch islamistischen Terror gelegen sein. Sonst müssten wir darüber reden, warum junge Männer in Deutschland radikalisiert werden und was es eigentlich mit männlicher Gewalt an sich auf sich hat. Oder was wir aus Studien lernen sollten, die einen Zusammenhang zwischen Sparpolitik und Rechtsruck belegen, anstatt sie wie Christian Lindner mit der Aussage, er glaube das nicht, beiseite zu wischen. Es ist diese Beschränkung auf Symbol- und Statement-Politik, die so wütend macht. Denn sie hinterlässt den Eindruck, dass langfristige und grundlegende Lösungen gar nicht erst gesucht werden, und dass Politik und Medien die Anstrengungen und ernsthafte Diskussionen darüber scheuen, in was für einem System wir eigentlich leben wollen. Stattdessen kann man Wohnungsnot, Kita-Platz-Mangel und Gewaltproblematik einfach an Migration festmachen. Aber wo ist eine Idee, die über symbolisch Akte des Populismus hinausgeht? Wo ist der Versuch, eine Erzählung zu entwerfen, die nicht aus Angst besteht? 

Ein produktives Gefühl

Merken Sie, wie diese Wut wieder ansteigt? Eine Wut, die nicht von rechts kommt, sondern aus der Mitte. Eine Wut der Menschen, die nicht mehr ertragen können, dass man ihnen rechte und rassistische Politik als rational und ideologiefrei verkauft, solange sie nicht von der AfD kommt. Eine Wut der Menschen, die nicht mehr hinnehmen wollen, dass Politiker*innen entgegen der wissenschaftlichen Belege handeln, sei es bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus, in Fragen der Klimakatastrophe oder in Fragen sozialer Gerechtigkeit. Eine Wut, die sich daraus speist, dass demokratische Werte und Ideale mit Füßen getreten oder mit Bauchschmerzen abgeräumt werden. Wenn das Selbstverständnis als menschenrechtsgeleitete Demokratie in Gefahr ist, dann darf die Reaktion nicht sein, alles hinzunehmen, solange es nicht von rechtsextremen Parteien kommt. Wut, das zeigen Auseinandersetzungen mit diesem Gefühl wie “Speak out! Die Kraft weiblicher Wut” von Soraya Chemaly und “Hass – Von der Macht eines widerständigen Gefühls” von Şeyda Kurt, kann durchaus auch für eine gute, progressive Sache produktiv sein. Das Gefühl, sich manches einfach nicht mehr bieten zu lassen, kann in diesem Fall auch positive politische Emotionen auslösen und ein Handeln aufzeigen, das nicht mehr nur aus einem Dagegen besteht, sondern die Möglichkeit eines Dafür aufzeigt.

Sich gegen etwas zu engagieren, bleibt notwendig. Es steht außer Frage, dass eine rechtsextreme Partei – egal ob in Teilen oder vollständig – niemals an eine Machtposition kommen darf. Aber ich wünsche mir dafür eine Strategie, die darin besteht, eine echte Alternative zu dieser Weltsicht und dieser Politik zu bieten. Eine Alternative, die statt auf populistische Symbolpolitik auf eine grundsätzliche Verbesserung setzt. Eine Alternative, die um ihrer selbst Willen gewählt wird. Ich würde gerne einmal wieder wählen gehen und mich für etwas entscheiden und nicht nur etwas verhindern. Dann geht vielleicht auch diese Wut wieder weg.

Foto von Andre Hunter auf Unsplash

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