Schlagwort: rassismus

Ein bequemer Selbstbetrug – Über Marie Luise Knotts „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive“

von Timothy John Brown, Eva Tanita Kraaz, Rita Maricocchi

Der Alltagsdiskurs und die mediale Öffentlichkeit der Bundesrepublik haben ein anhaltendes Problem: Sie übersehen die Existenz Schwarzer Menschen in Deutschland und delegitimieren ihre Stimmen. Trotz der langen Geschichte des antikolonialen und antirassistischen Aktivismus von Schwarzen Menschen in Deutschland, wie May Ayim oder Katharina Oguntoye in den 1990ern und Natasha A. Kelly, Sharon Dodua Otoo oder Jasmina Kuhnke heutzutage, ändert sich dieser Missstand nur unter deren großer Anstrengung und schleppend. Statt ins eigene Land geht der weiße Blick nämlich meist in die USA. Jeanette Oholi will diesem Ungleichgewicht mit ihrer Forschung entgegenwirken, sie bringt das Problem auf den Punkt: „Allzu oft wandert der Blick in die Vereinigten Staaten, wenn es um Schwarze Identitäten, Rassismus, Polizeigewalt und Befreiungskämpfe geht.“ 

Die Gründe dafür, dass Schwarzsein in Deutschland weiterhin automatisch als vermeintlich fremd gelesen wird, sind vielfältig. Schon Oholis Formulierung suggeriert, dass es der bundesrepublikanischen Mehrheitsgesellschaft willkommen ist, sich mit dem Rassismus der anderen zu beschäftigen, statt mit dem eigenen. Dieser bequeme Selbstbetrug ist kaum zu leugnen, hilft er doch auch, die koloniale Vergangenheit Deutschlands zu vertuschen. Der Zusammenhang steht darüber hinaus in einer verzwickten transatlantischen Tradition – die wenig beachtet wird. Es ist eine Geschichte, die um Schwarze US-amerikanische Intellektuelle wie W. E. B. Du Bois oder James Baldwin nicht herumkommt. Sie hatten das prä- bzw. post-nationalsozialistische deutschsprachige Europa im Kontrast zu den USA der Post-Slavery-Era als positiv in ihrem Umgang mit Schwarzen dargestellt: Eine Darstellung, die statt in ihrer strategischen Natur erkannt zu werden, gern als deutscher Ausweis für Antirassismus missverstanden wird – dazu schrieben zuletzt essayistisch Ellwood Wiggins und Gianna Zocco. Zu dieser historischen Verwicklung gehört auch die kulturelle Aneignung Schwarzer US-amerikanischer Kultur von Jazz über Soul bis Hip Hop, deren subversive Ursprungskontexte für weiße Deutsche wahlweise ganz profane Neuerungen der Unterhaltungskultur mit sich brachten, die Fetischisierung Schwarzer Körper bedeuteten und/oder klein- bis großbürgerlichen Jugendlichen zu Abgrenzungsstrategien gegenüber ihrem Elternhaus oder dessen Geschichte verhalfen – längere Studien haben dazu Priscilla Layne mit „White Rebels in Black” und Moritz Ege mit „Schwarz werden” publiziert. 

Zu dieser transatlantischen Geschichte gehören auch die Geflüchteten vor dem nationalsozialistischen Regime, jüdische Emigrant*innen in die USA, die sich, durch ihre eigenen Erfahrungen sensibilisiert, selbst mit Interventionen in das neue Land einbrachten. Eine dieser Exilant*innen ist Hannah Arendt: die transatlantische Denkerin gegen den Totalitarismus, die intellektuelle Ikone der Linken, die leider nicht als Poster Child für Antirassismus taugt. Der Grund dafür ist unter anderem ihr Essay „Reflections on Little Rock“ (1958), in dem sie sich zwar in einem nachträglich hinzugefügten Vorwort als Jüdin mit Schwarzen Interessen solidarisiert, im eigentlichen Text aber gegen die Desegregierung von US-amerikanischen Schulen ausspricht – und das sehr öffentlichkeitswirksam. Angesichts des Einsatzes der Nationalgarde zum Schutz der Schwarzen Schüler*innen hatten die Ereignisse um Little Rock nationale Aufmerksamkeit erlangt und tragen für die USA bis heute historisches Gewicht. Der Text ist beileibe kein Ausrutscher: Auch ihr imperialismuskritisch intendiertes Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951, dt. 1955) reproduziert passagenweise den kolonisatorischen Blick. Im zwanzig Jahre später erschienenen Essay „Macht und Gewalt“ polemisiert sie im Rahmen der Forderung für eine grundlegende Reform der Universität gegen Affirmative Actions zugunsten Schwarzer Studienanwärter*innen („Aufnahme unqualifizierter Studenten“) und gegen die Einrichtung von Seminaren aus dem Rahmen der Black Studies („blödsinnige[] Kurse“).

Diese Rassismen in Hannah Arendts Werk sollten eigentlich nicht unbekannt sein: Seit Kathryn T. Gines 2014 ihre Monografie zu dem Thema publizierte, gab es wiederholt Veröffentlichungen dazu. Mitunter wird die Debatte aufbereitet für eine breitere Öffentlichkeit geführt, etwa in einem langen Gespräch von René Aguigah mit Iris Därmann im Deutschlandfunk Kultur. Zu Gines’ Buch liegt allerdings bis heute keine deutsche Übersetzung vor. Es scheint, als sei Hannah Arendts Status als Säulenheilige kaum angetastet. Wie sähe aber eine zugleich wirksame und faire Annäherung aus?

Marie Luise Knott, die selbst vielfach und prominent zu Hannah Arendt publiziert hat, gibt ihren Leser*innen ein knappes Buch mit „17 Hinweisen“ zu diesem Komplex an die Hand (370 Riverside Drive. 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison). Ausgangspunkt ist die kritische Reaktion des Schwarzen Schriftstellers Ralph Waldo Ellison auf Arendts Little-Rock-Essay. Er äußerte sich dazu einige Jahre nach dessen Veröffentlichung 1965 in einem Interview. Hannah Arendt zeigte sich nach der Lektüre dieses Interviews einsichtig und schrieb einen Brief – und es folgte nichts. Es gibt keine Antwort bei Arendt, keinen Entwurf dazu in Ellisons Nachlass, nicht mal Lesespuren lassen sich in Arendts Exemplaren seiner Bücher ausmachen. Was auf den ersten Blick nach einer archivarischen Sackgasse aussieht, ist für Knott der Ort, um weitere Wege zu ertasten, die eigene Position zu justieren und Hannah Arendt geschichtlich versiert sowie unter Einbezug der problematischen Äußerungen neu zu platzieren – in einem angemessenen Ton.

Trotz der Ausgangslage ist Knott nämlich nie verbissen: Das lose Strukturprinzip der in sich runden Hinweise ermöglicht eine sensible Betrachtung einzelner Ereignisse, Figuren, Texte und ihrer Beziehungen zueinander. So wird ein Vergleich der Assimilationsversuche in die Mehrheitsgesellschaft als Thema in Ralph Ellisons Roman Der Unsichtbare und in Hannah Arendts Biografie über Rahel Varnhagen diskontinuierlich, teils elliptisch über mehrere Abschnitte hinweg erzählt. Mit derselben Leichtigkeit flicht Knott thesenhafte Sentenzen über die verschiedenen Materialien, Vorgänge und Institutionen ein: „Jedes Lesen ist ein Gespräch“, „Essays sind Exkursionen“, „Briefe wie Träume sind aufgeschobene Begegnungen“. Sie helfen dabei, entsprechende Rezeptionsmodi anzudeuten und sind zugleich ein charakteristisches Element für Knotts genuin essayistischen und zugleich erkenntnisfördernden Stil.

Knott rollt Wesentliches auf, indem sie nebensächlichen Details eine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Das passiert schon im Titel: 370 Riverside Drive. 730 Riverside Drive. So lauteten die Adressen von Hannah Arendt und Ralph Ellison. Sie lebten „einen Zahlendreher entfernt“ und doch wohnte sie „im jüdischen Einwandererviertel der Upper Westside, er in der Gegend um Sugar Hill, dem ehemaligen Zentrum der Harlem-Renaissance“. Die Hervorhebung der Adressen deutet an, dass sich diese Gruppen scheinbar ähneln, nämlich durch den Fakt ihrer Marginalisierung, um zugleich klarzustellen, dass sie sehr unterschiedlichen Diskriminierungsformen ausgesetzt waren, nämlich dem nationalsozialistischen Antisemitismus und dem Rassismus gegen Schwarze in den USA.

Knott skizziert somit das Grunddilemma, das Michael Rothberg mit dem Begriff multidirektionales Erinnern benannt hat und in das sie später auch Hannah Arendts zweifelhafte Intervention über Little Rock einbettet:

„Da Schwarze wie Juden jeweils verfolgte Minderheiten waren, trug die Parallele bis zu einem gewissen Grad; doch die Ausgangslage war eben doch grundverschieden. Hannah Arendt ließ außer Acht, dass man, das lehrt uns auch die derzeitige Auseinandersetzung über multidirektionales Erinnern, letztlich den Antisemitismus nicht mit dem Hautfarbenrassismus in den USA parallel, geschweige denn gleichsetzen konnte. Es gab Parallelen, doch die Juden in Europa hatten keine Sklavengeschichte. Und bei aller Diskriminierung, ja Verfolgung hatte schon die Generation von Arendts Großvater die Möglichkeit gehabt, zum Stadtverordneten gewählt zu werden. Und Arendt selbst hat nie um ihr Abitur bangen müssen, weil sie eine Jüdin war.“

Explizit rekurriert Knott zwar lediglich auf die angeheizte Debatte um das multidirektionale Erinnern in Deutschland, eigentlich steht aber ihr ganzes Buch Exempel dafür, wie produktiv und angemessen das Konzept sein kann, wenn es gewissenhaft zum Tragen kommt. Immerhin erzählt sie im Sinne des multidirektionalen Erinnerns unterschiedliche Unterdrückungsgeschichten in ihren Berührungspunkten. Sie komponiert an ihnen entlang eine ambivalente Erzählung, die vor allem der impliziten Zielgruppe, einem weißen, deutschsprachigen Publikum, wahrscheinlich kaum bekannt ist: Die der jüdisch-Schwarzen Solidaritäten und Fallstricke in den USA – und im selben Zuge die eben nur halbvertraute Geschichte von US-amerikanischem anti-Schwarzem Rassismus und Schwarzem Widerstand. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Chronologie, die Knott behauptet, wenn sie von Rassismus als einem „Produkt der Sklaverei” schreibt, das ein „gewalttätiges Konstrukt zur Aufrechterhaltung von white supremacy” sei, die Tatsachen stark verzerrt – auch zugunsten von Nationen, die nicht in die US-amerikanische Sklavereigeschichte verwickelt waren. Zudem wurde Martin Luther King Jr. natürlich nicht in Chicago, wie im vorliegenden Buch angegeben, sondern in Memphis erschossen. Diese Irrtümer tangieren kaum den Eindruck der ansonsten sorgsamen Auswahl von Schauplätzen, der sensiblen Darstellungen der Zusammenhänge und der kenntnisreichen Einbettung von Hannah Arendts eigener Gedanken sowie deren Entwicklung.

Da war zum Beispiel Barney Josephson, ein Sohn lettischer jüdischer Emigranten, der 1938 den ersten desegregierten Jazzclub in New York gründete. „Erschrocken“ habe er zuvor miterlebt, „wie den Schwarzen selbst im eigenen Viertel nur die hinteren Stehplätze des Zuschauerraumes zur Verfügung standen, obwohl ihre Leute auf der Bühne sangen.“ Knott erwähnt auch die Autorschaft von „Strange Fruit“, einem eindringlichen lyrischen Text über ein Lynching in den US-amerikanischen Südstaaten. Bekannt wurde er durch die Interpretation Billie Hollidays 1939, geschrieben hatte ihn Abel Meeropol, dessen Eltern aus Osteuropa in die USA emigriert waren. Diese Geschichten der Solidarisierung reichen weit bis in das Civil Rights Movement hinein. Sie scheinen im US-amerikanischen Kontext logisch, so erwähnt Knott: „Auch damals waren Juden, das vergisst man heute oft, in den USA immer wieder Hass und Diskriminierung ausgesetzt, wurden als orientals beschimpft.“

Zugleich wird ersichtlich, dass die vielzähligen Allianzen doch eine langwierige und nachhaltige Institutionalisierung vermissen ließen – zumal der prekäre Status von Jüd*innen in den USA insbesondere bis in die 1950er Jahre vergleichsweise schnell abnahm und ihnen viele weiße Privilegien zugestanden wurden. Der gemeinsame Kampf gegen Marginalisierung vereinzelte sich damit. Jüd*innen wurden Teil der Mehrheitsgesellschaft, aus der „niemand von höchster Stelle aus die Schwarzen und die Indigenen um Verzeihung bat“. „Niemand initiierte so etwas wie eine Aufarbeitungskommission“, weder der antirassistische gesellschaftliche Wandel, noch die gleichen Rechte für Schwarze seien effektiv durchgesetzt worden. So blieb die Distanz zwischen (jüdischen) Weißen und Schwarzen bestehen. Man „ahnt die Ferne zwischen den Kulturen und auch die Bemühungen vieler Weißer, diese Ferne zu erhalten. Auch Arendt war in dieser Hinsicht eine ‚Weiße‘, die sich schwarzen Wirklichkeiten und Möglichkeiten nicht zuwandte.“

Historische Texte und Texte aus anderen Kulturen stellen für Knott auch die Möglichkeit dar, „die Enge unserer eigenen Sprache, Metaphern, Begriffe zu transzendieren“. Der Little-Rock-Essay ermöglichte und ermöglicht Knott die Rolle der Privatsphäre für Hannah Arendt zu erkunden: „Folgt man für einen Moment der Argumentation aus ‚Little Rock‘, so fällt auf, in welch uns ungewohntem Maße Hannah Arendt dort die Privatsphäre verteidigt.“ Was hier greift, ist Hannah Arendts Aufteilung in die politische, gesellschaftliche und private Sphäre, wie sie sie ausführlich in Vita Activa (1958, dt. 1960) vornimmt. Diese bemerkenswert konsequente Trennung habe Knott schon in den 80er Jahren, als sie sich das erste Mal mit dem Essay beschäftigte, fasziniert – so sehr, dass sie sich gegen ihre damaligen Verlagskolleg*innen durchsetzte und eine Aufnahme des Texts in einen Essayband bewirkte – gegen die Einwürfe, dass Arendt das N*-Wort benutze[1] und gegen eigene Bedenken der politischen Implikationen: „Doch ich verteidigte die Publikation des Textes hartnäckig, da er mir Aspekte lieferte, die in unserem Weltbild nicht vorgesehen waren. Arendt verwirrte. Auch und gerade in ihrem Beharren auf dem Vorrang von Rechtsgarantien.“

Die neue Auseinandersetzung mit dem Essay steht in Zusammenhang mit dem aktuellen politischen Diskurs, der, wie eingangs angedeutet, eine ausgeprägte Sensibilisierung für Rassismus zunehmend einfordert, und er ist im Kontext zu betrachten mit einem umfangreichen Zugang zu historischen Erkenntnissen und Quellen. Marie Luise Knott nutzt die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen, um eine einflussreiche Denkerin behutsam zu hinterfragen. Zum Teil stolpert sie dabei über den eigenen Unwillen: „Man spürt hier, was man vielleicht nicht hören will.“ Wenn Hannah Arendt über Affirmative Actions als „Rassismus mit anderen Vorzeichen“ schreibt, kommentiert Knott verblüfft: „Diese Stelle hat es in sich.“ Und sie fragt sich zögerlich, aber unnachgiebig bis an die unangenehmsten Aussagen Arendts vor: „Was ist hier gemeint? Steht da wirklich, verkürzt gesagt, dass die Weißen die riots provozieren, indem sie sich kollektivschuldig bekennen?“

Was Marie Luise Knott vorlegt, ist eine umsichtige wie strenge, mit anderen Worten, eine faire Auseinandersetzung mit einer ganz offenbar von ihr bewunderten Denkerin. Gerade die unverhohlene Wertschätzung für Arendt verspricht zudem, wirksam zu sein: Die Erzählinstanz mit ihrer Bereitschaft, zu einer Rassismuskritik anzusetzen und sich den mitunter unbequemen Folgen zu stellen, bietet auch eingefleischten Arendt-Fans Identifikationspotenzial. Dieser Blick in die USA tut der eingangs beschriebenen Dynamik der selbstgerechten Ablenkungsmanöver sicher keinen unmittelbaren Abbruch. Die Form der Aufarbeitung ist jedoch hilfreich, um die transatlantisch verstrickte Geschichte von Rassismen sichtbar zu machen, die Knott zudem im Wissen um die Fallstricke und Möglichkeiten des multidirektionalen Erinnerns erzählt. Die Veröffentlichung sensibilisiert dafür, dass Querbezüge zwischen marginalisierten Gruppen und in verschiedenen historischen Kontexten heikel sind, sodass selbst gut gemeinte Solidaritätsbekundungen oft – auch bei großen Denkerinnen – ziemlich ungelenk ausfallen. Zurecht wurden Autorin und Buch zuletzt mit dem Tractatus-Preis geehrt.


[1] Als interessanten Nebenschauplatz wollen wir darauf verweisen, dass das englische Original tatsächlich das Wort “Negro” benutzt. Die Verlagsdiskussion hat sich also offenbar auch aufgrund der deutschsprachigen Übersetzung von Eike Geisel verschärft. Zur Übersetzbarkeit der N-Wörter empfehlen wir dieses Gespräch zwischen der Juristin, Kabarettistin und Kolumnistin Michaela Dudley und der Übersetzerin Mirjam Nuenning.

Photo von Redd F bei Unsplash

Weiße Blicke brechen – Die „Arielle-Debatte“ und Potenziale des conscious casting

von Katharina Walser

Es ist der 11.09.22, ein Teaser erscheint auf YouTube, Twitter und Instagram User*innen vergessen für einen Moment den Tod der Queen of England, denn scheinbar gibt es einen neuen Skandal: In Disneys Live-Action Arielle, der 2023 erscheinen soll, wird die kleine Meerjungfrau von Halle Bailey gespielt, einer Schwarzen Sängerin. 

Unter dem Hashtag #notmyariel führen aufgebrachte Personen daraufhin im Internet einen erbitterten Kampf gegen die angebliche Zerstörung ihrer heißgeliebten Kindheitserinnerungen, bzw. gegen die Bedrohung ihrer weißen Bubble. Diese Empörung ist alles andere als neu, man kennt sie aus den Reaktionen auf die ersten beiden Staffeln von Bridgerton oder auf die Veröffentlichung von Netflix’ Persuasion. Auch im Moment ist Halle Bailey als Arielle nicht das einzige Ziel eines rassistischen Feldzugs, der in den Sozialen Medien gegen das Casting von Schwarzen Personen in Remakes und Prequels zuvor ausschließlich weißer Filme und Serien geführt wird. Nicht nur unter dem Meer oder in der britischen Aristokratie des 19. Jahrhunderts, sondern auch in Mittelerde und Westeros, den Fantasywelten von Tolkien und George R.R. Martin, wollen diese Personen keine BIPoCs sehen. Folglich versuchen sie, die rassistische Willkür ihrer Ansichten mit biologistischen Argumenten zu legitimieren.

TikToker*innen und Youtuber*innen, vor allem weiße Männer, erklären ihren Zuschauer*innen aufgebracht, Arielle könne gar nicht Schwarz sein, weil sich eine solche Pigmentierung unter Wasser so gar nicht entwickeln könne. Oder sie beharren versessen auf Arielles vermeintlich dänischer Nationalität, als gäbe es keine Schwarzen Däninnen. Dabei wird zudem ignoriert, dass Die kleine Meerjungfrau (Disney 1989) zwar auf der Märchen-Version des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen beruht, dieser aber in seinem Text weder das Unterwasser-Königreich national verortet, noch der “Erfinder” der Figur Arielle ist. Seine kleine Meerjungfrau ist lediglich ein Kondensat von Fragmenten verschiedener jahrhundertealter Sagen um mystische Wasserwesen, deren Varianten bereits in frühen assyrischen Legenden und in der griechischen Mythologie auftauchen. 

Kurz: Die Verfechter*innen eines erzählerischen Realismus verstehen das Konzept einer Adaption nicht, bzw. wollen es nicht verstehen. Schon Disneys erste – weiße – Arielle mit ihrem heteronormativen Happy End hatte wenig mit Andersens schauriger Erzählung zutun, in der die kleine Meerjungfrau bei jedem Schritt an Land das Gefühl durchleben muss, als würde sie auf tausend Messern wandeln, während sie darauf wartet, dass sie die Liebe eines Mannes von ihren Schmerzen befreit. Dieser verliebt sich jedoch in die Prinzessin des Nachbarlandes, woraufhin sich die kleine Meerjungfrau in Meeresschaum auflöst und ihr Dasein fortan als Meeresgeist fristen muss. Disney hat sich also schon immer bestenfalls Inspiration bei klassischen Märchen-Texten gesucht und diese in eine heile (meist weiße) Normwelt nach US-amerikanischen Standards eingebettet und vor allem kindgerecht angepasst – andernfalls hätte auch Tangled, Disneys Version des Grimmschen Rapunzels, eine Altersfreigabe ab 16 erhalten müssen.

So amüsant manche Tweets sind, in denen die Verfechter*innen dieser biologistischen und nationalistischen Beiträge, die auf einer weißen Arielle beharren, darauf hingewiesen werden, wie absurd es ist, Realismus ausgerechnet in einer Geschichte zu suchen, in der neben einer Meerjungfrau auch sprechende Meerestiere und eine Hexe auftreten, müsste man soweit überhaupt nicht gehen. Denn wer auch nur ein wenig Ahnung von fiktionalen Erzählungen hat, sollte erkennen, dass Arielle keine Dokumentation und auch kein Biopic einer historischen Person ist. Die Verweigerung das anzuerkennen zeigt, dass es in diesen Realismusdebatten eben nicht um die Wahrung eines ursprünglichen Stoffes geht – weshalb die Teilnehmenden vermutlich auch immun gegen solche Hinweise zur fiktionalen Adaption sind – was schon klar wird, wenn man sich vor Augen führt, dass es niemanden auch nur ein Müh interessiert hat, als die britischen Schauspielerinnen Lily James und Emma Watson, Cinderella und Belle auf der Leinwand zum Leben erweckten – zwei Figuren, die in Frankreich groß geworden sind.  Die Untertöne verzweifelter Bemühungen der #notmyariel Fraktion für eine Aufrechterhaltung eines ausgekochten Diskurses sind so letztlich nichts als rassistische Stammtisch-Parolen. Ihre Beiträge sind daher auch keine Kritik, sondern Hetze. 

Dabei könnte man die Casting-Entscheidung für Bailey durchaus nutzen, angebrachte Kritik zu üben. Zum Beispiel an der problematischen Erzählung von Disneys Arielle an sich, die von Dickfeindlichkeit bis Antifeminismus (Frau verkauft ihre Stimme (!) für einen Unbekannten) einiges auf den Plan ruft, was man überarbeiten sollte. 

Man könnte auch über die unzähligen Figuren der Filmgeschichte sprechen, die von weißen Schauspieler*innen verkörpert wurden, obwohl es sich ganz offensichtlich nicht um weiße Figuren handelt. Denken wir an Holly Golightlys Vermieter aus Breakfast at Tiffany’s “Mr. Yunioshi”, gespielt von Mickey Rooney, oder an neue Produktionen wie Ghost in the Shell, die “Major Motoko Kusanagi” von Scarlett Johansson spielen lässt. Schlimmer noch: auch nicht fiktive Charaktere wurden in der Filmgeschichte immer wieder whitewashed und/oder blackfaced – Elizabeth Taylor als Cleopatra, Rooney Mara als Maria Magdalena, oder Jake Gyllenhaal als Prince of Persia. Ein solches Gespräch dürfte auch nicht beim Film verstummen, sondern im Zusammenhang des Aufruhrs um Arielle auch Fehlinterpretationen von Held*innenfiguren mit größerer Tragweite in den Blick nehmen. Einige Diskurs-Teilnehmende fachen deshalb im Moment zurecht die Diskussion um weiß-gewaschene Heiligen-Bilder des Christentums neu an. Die Autorin Chelsea Sims bringt es in einem Tweet auf den Punkt, wenn sie schreibt: „“Ariel wasn’t Black” and Jesus wasn’t white. Cope”. 

Man könnte auch die Diskussion darauf lenken, dass Halle Bailey vor allem aufgrund ihrer fantastischen Singstimme dazu qualifiziert ist, Arielle zu spielen, doch all diese Themen finden keinen Platz, wo statt ausgewogener Debatte, weiße Abwehrgesten den Raum dominieren. 

Vielleicht weniger offen rassistisch als die Parolen der Bailey Gegner:innen, aber immer noch problematisch und bezeichnend für die Tiefe des Alltagsrassismus, der sich in diesen weißen Abwehrgesten gegen eine Schwarze Arielle offenbart, sind die Aussagen einiger weißer Diskurs-Teilnehmenden, die mit dem bloßen Argument: „ist doch egal was Arielle für eine Hautfarbe hat” für Deeskalation sorgen wollen. Dr. Natasha A Kelly, unter anderem Afrofuturistin und promovierte Soziologin, verweist auf Instagram darauf, dass diese Aussagen im Sinne eines anything goes nichts anderes sind als die „altbewährte Farbignoranz der weißen Welt”, welche die Tatsache herunterspielt, dass es für viele marginalisierte Gruppen durchaus einen Unterschied macht, wer Raum – und nebenbei viel Geld – einnimmt. So ist auch die Debatte rund um die Möglichkeiten eines “color-blind” Castings, abgesehen davon, dass der Begriff ableistisch ist, keinen Schritt weiter als diejenigen, die auch im Alltag gerne von sich behaupten, Hautfarben gar nicht wahrzunehmen. 

Interessanter – und auch fruchtbarer für eine zukünftige Debatte – als der Begriff und der unhaltbare Anspruch eines “color-blind” Castings könnte eine produktive Umdeutung des “color-conscious” Castings sein, als bewusst gesetzte politische Kontrapunkte durch die Besetzung. “Conscious” Casting ist die Praxis, in der die Besetzung unter Berücksichtigung der Hautfarbe, der Körperform und anderer Merkmale der Schauspielenden entschieden wird. Wenn diese Praxis rassismuskritisch betrieben wird, macht sie es möglich, (mehrfach) marginalisierten Personen bewusst dort eine Plattform zu geben, wo sie im Sinne eines weißen Blicks nicht erwartet werden. Eine Praxis, die sehr viel mehr Inklusion einlösen kann, als es der Anspruch des “blind castings” kann. Denn “blindes” oder “unvoreingenommenes” Casting ist ein Bemühen, das innerhalb eines rassistischen Systems scheitern muss, weil es die “color blindness” an sich eben nicht gibt und die Berufung auf eine solche lediglich den Unwillen zeigt, sich mit den eigenen internalisierten Rassismen auseinanderzusetzen. Innerhalb eines verantwortlichen “color-conscious” Castings wird nicht an leeren Versprechen von Unvoreingenommenheit festgehalten oder gar behauptet, dass race innerhalb von fiktionalen Stoffen keine Rolle spielen solle, sondern sinnvolle Rekontextualisierung möglich – das Ändern von Sehgewohnheiten durch bewusste Brüche. 

Was ein solch bewusst gesetzter Kontrapunkt leisten kann, davon zeugt auch eine ganz andere Art Videos neben den Kritiken, die auf TikTok, Instagram und YouTube in den Tagen nach dem Teaser-Release das Internet füllen. Kinder, vor allem BIPoC Mädchen, die mit freudigen Gesichtern und mit ebenso freudiger Überraschung auf diese neue Arielle reagieren. „Mum, she is a black girl”, „Look, she looks like me”,  rufen sie in Video-Kompilationen, die unter anderem auf dem Instagram Kanal des Rosa Mag, einem Online-Lifestylemagazin für Schwarze FLINTA*, zu sehen sind. Die Videoausschnitte zeigen, was ihr Hashtag fixiert: #represantationmatters. Und: dass die #notmyariel Verfechter:innen im Grunde mit einer Sache recht haben: Diese Figur ist nicht für sie, denn sie haben bereits genug weiße Held:innen – Held:innen, die so aussehen wie sie. Es ist Zeit für andere Geschichten, die anderen gehören und die Selbstverständlichkeit, mit der etablierte Held:innen immer weiß bleiben müssen, gehört nicht mehr in diese Zeit. Man kann also sogar sagen, dass unabhängig davon, dass es wohl einige Gründe geben kann, die Geschichte von Arielle an sich kritisch zu diskutieren, eine Schwarze Arielle wirklich das einzige ist, was an diesem Film mit Gewissheit zeitgemäß und gut sein wird. 

Photo von Nsey Benajah auf Unsplash

White, hot, problematisch – Die Modemarke Abercrombie & Fitch

von Kais Harrabi

1950 erschien im „New Yorker“ ein Porträt über den Schriftsteller Ernest Hemingway. Die Autorin Lillian Collins verbringt darin mehrere Tage mit Hemingway in New York. Sie holt ihn am Flughafen ab, hängt mit ihm, seiner Frau Mary (und Marlene Dietrich) im Hotelzimmer herum. Und sie geht mit ihm einkaufen. Mary schickt ihn los, sich eine wasserdichte Jacke zu kaufen. Für Hemingway gibt es nur ein Geschäft, das infrage kommt: Abercrombie & Fitch.

Weiterlesen

True Crime als Gesellschaftsanalyse – Stuart Hall und der Trojan Horse Skandal

von Robert Heinze

Ich habe ein eher gespaltenes Verhältnis zu Serial. Ein True Crime-Podcast aus dem Umfeld der berühmten NPR-Radiosendung This American Life, der Fixpunkt des liberalen Medienkonsums in den USA. Der Podcast schien mir immer zwei schlechte journalistische Traditionen miteinander zu verbinden, nämlich die inhaltsleer-investigative Suche nach einer Täterperson mit einer Erzähltechnik, die politische Themen auf individuelle Erfahrungen herunterbricht und ganz auf die „Story“ fokussiert. Eine Erzählweise, die sich darauf verlässt, dass diese Story aus sich selbst heraus weitergehende Erkenntnisse hervorbringt.

Weiterlesen

Am Anfang waren die Orishas – Warum Afrofantasy ein politisches Statement ist

von Amanda Godwins

„Afrika ist reich an Mythologie und Märchen. Wie kommt es, dass sie in keinem einzigen Fantasybuch vorkommen?“ Diese Frage stellte sich Hawa Mansaray kurz bevor sie begann, Afrofantasy zu schreiben, ein Genre, das Schwarze Protagonist*innen und afrikanische Kulturen feiert. Im Gespräch mit der Autorin wurde deutlich, dass Afrofantasy ein vielversprechendes Phänomen ist, das kreativ gegen rassistische Unterdrückung vorgeht.

Weiterlesen

Vor der Grenze – Über einen Übersetzungsstreit

von Sharon Dodua Otoo

 

Es gibt eine Art von Rassismus, der böse und verwerflich ist, und bekennende Antirassist*innen sind sich einig, dass er dort bekämpft werden muss, wo auch immer er sein hässliches Haupt erhebt. Dies ist die Art von Rassismus, die ich kürzlich auf Twitter als „Argh!“-Rassismus beschrieben hörte. Er ist vorsätzlich. Er ist gewalttätig. Die Leute, die ihn ausüben, gehören geächtet. Bis auf sehr wenige Ausnahmen – in der Regel werden sie „Einzelfälle“ genannt – sind die wirklich rassistischen Menschen sowieso alle weg. Nach 1945 wurden sie weggesperrt oder sind weggestorben oder haben ihre rassistische Gesinnung ein für alle Mal hinter sich gelassen. Dieser Art von Rassismus werde ich in diesem Text keine weitere Aufmerksamkeit schenken. Weiterlesen