Die Tragetaschentheorie der Computerspiele

von Christian Huberts

In 130 Stunden kann ein*e durchschnittliche Leser*in zwischen 6.240 und 9.360 Buchseiten erfassen. Das entspricht in etwa allen Romanen und sonstigen Texten der Autorin Ursula K. Le Guin zusammengenommen. Ich habe das ausgerechnet, weil an dieser Stelle eigentlich eine Würdigung von Metaphor: ReFantazio (2024), erschienen für PlayStation, Xbox und PC, stehen sollte. Das japanische Rollenspiel hat den Motiven und dem Vibe von Le Guin viel zu verdanken, verlangt aber ebenso eine zeitliche Investition von 130 Stunden. Wer hat die Zeit dazu?  Sicherlich kein Games-Journalismus, der unentwegt im Rhythmus der Hype-Zyklen tanzt. Kein Review kurz nach Release im Oktober 2024, dafür verwette ich meine Farm in Stardew Valley (2016), kann über mehr als das erste Viertel von Metaphor: ReFantazio geschrieben haben.

Dabei hat das Spiel viel zu sagen, insbesondere im letzten Viertel.  Metaphor: ReFantazio ist – wenig überraschend – eine Metapher. Ich hätte besser schon im November 2024 das Ende erreicht, um zeitaktuell auf clevere Parallelen zum US-Präsidentschaftswahlkampf hinzuweisen, jetzt bleibt immerhin die vorgezogene Bundestagswahl. Ein späterer Termin wäre nicht nur der Bundeswahlleiterin lieb gewesen. Doch das Spiel ist nicht allein eine gelungene Übertragung demokratischer Krisen und populistischer Versuchungen in ein fantastisches Setting, sondern steht ebenso stellvertretend dafür, was mit guten Geschichten, Metaphern, Utopien passiert, wenn sie von den unverrückbaren Erwartungen  an und Konventionen von digitalen Spielen für epische 130 Stunden durch die Mangel genommen werden. Wie sie nicht nur meine, sondern vor allem auch ihre eigene Zeit verschwenden.

Es ist eine Metapher

Aber tun wir kurz so, als wäre das hier doch nur eine handelsübliche Rezension von Metaphor: ReFantazio. Der uralte König der Fantasiewelt Euchronia wurde ermordet, sein Thronfolger siecht von einem Fluch getroffen ohnmächtig dahin. Doch das ist nicht der einzige böse Zauber, der das Königreich befallen hat. Posthum beschwört der dahingeschiedene Monarch die Demokratie. Nur wer bis zum Stichtag die Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung erlangen kann, erhält Zugang zum Palast und kann das königliche Zepter ergreifen. Was folgt, steht dem US-Präsidentschaftswahlkampf oder eben der anstehenden Bundestagswahl in wenig nach. Die Spielenden machen sich auf, den Fluch des Thronfolgers und damit letztlich auch die multiplen Krisen der Demokratie zu brechen. Im Gepäck lediglich einen utopischen Roman, der keine Fantasy zeigt, sondern unsere Welt – mit politischer Repräsentation, Menschenwürde und Arbeitnehmerrechten.

Die Einschläge der Realität in die Fantasy kommen verdammt nah. Metaphor: ReFantazio – ein Setting, das visuell mehr an Hieronymus Bosch als an Mar-a-Lago erinnert – beginnt mit einem Disclaimer zur Distanzierung von politischer Gewalt. Wenige Monate vor Release wurde ein erfolgloses Attentat auf Donald Trump verübt. Zu den ersten Handlungen der Spielenden gehört es, ein Attentat auf Louis, einen der Spitzenkandidaten des magischen Wahlkampfs zu verüben. Es scheitert, Louis triumphiert. Er verspricht den Bürger*innen eine faire Meritokratie und eine Demontage der faktisch herrschenden Staatskirche – so etwas wie der ‚Deep State‘ der Spielwelt. Dass vor allem die Schwachen dabei den Kürzeren ziehen werden, ist klar. Der Populismus wirkt, die Gegenkandidat*innen – die von Saufen bis Tierschutz, von Reiche entlasten bis Reiche aufknüpfen wirklich das gesamte Parteispektrum abbilden – haben dem wenig wirksames entgegenzusetzen.

Die Spielenden müssen umdisponieren. Meuchelmord weicht demokratischer Mehrheitsfindung. Und hier zeigt Metaphor: ReFantazio schließlich, was es von anderen Rollenspielen abhebt. Statt nur durch Dungeons zu crawlen und Monster zu jagen, knüpft die Spielfigur unentwegt soziale Verbindungen zu Mitkämpfer*innen wie Mitbürger*innen. Jeder alltägliche Austausch über Ängste und Hoffnungen, Armut und Alltag, Vorurteile und Verantwortung wackelt am politischen Nihilismus, schafft Heilung, Solidarität und – ganz konkret – Magie. Denn die Kampfkraft der Spielenden schöpft sich maßgeblich aus diesem allgegenwärtigen magisch-emotionalen Potential, das das Spiel kurz „MAG“ nennt. Und umgekehrt tut der Populist Louis alles dafür, um dieses Potential für seine Zwecke aufzuhetzen. Mit disruptivem Liberalismus und akzelerationistischem Terror wird MAG – ohne dass es Metaphor: ReFantazio so ausbuchstabieren müsste – zu MAGA. Und aus Mitbürger*innen werden Monster.

Life Stories

Drei Absätze, die 130 Stunden knapp zusammenfassen, werden der Mischung aus Cleverness und Albernheit, die Metaphor: ReFantazio überaus lässig an den Tag legt, nicht gerecht. In den besten Momenten gelingt es dem Spiel, „life stories“ zu erzählen. So nennt Ursula K. Le Guin in ihrem Essay The Carrier Bag Theory of Fiction jene Form von Geschichten, die nicht mit der Spitze eines Speeres vorangetrieben werden („THOK!“), sondern aus den Routinen und Erfordernissen des menschlichen Alltags erwachsen. Der Soldat Bardon, der unfreiwillig in die Rolle eines lokalen Bürgermeisters stolpert und lernen muss, seinen Bürger*innen zu vertrauen statt sie zu überwachen; die Wandlung der emotional vergletscherten Selfmade-Waffenhändlerin Brigitta zu einer Produzentin von magischem Spielzeug; Gassi gehen, gemeinsamen Kochen und Diskussionen am Lagerfeuer. „[I]nstead of heroes they have people in them“, schreibt Le Guin über diese Geschichten.

Le Guin baut ihre Tragetaschentheorie des Erzählens auf der anthropologischen Prämisse auf, dass nicht die Jagd das Überleben des frühen Menschen gesichert hat, sondern das Sammeln. Nicht eine Waffe ist die entscheidende Technologie für menschliche Zivilisation, sondern ein Behälter. Dass es jedoch oft andersherum scheint, hängt maßgeblich damit zusammen, dass es schlicht einfacher ist, packende Geschichten über die Jagd zu erzählen. „It is hard to tell a really gripping tale„, räumt die Autorin selbst in ihrem Essay ein, „of how I wrested a wild-oat seed from its husk […].“ Und auch Metaphor: ReFantazio gibt sich dieser Mühe letztlich geschlagen. Am Boden der 130 Stunden großen Tragetasche liegt durchaus viel wilder Hafer, aber der Rest ist gefüllt mit einer anderen Geschichte. „[T]he story the mammoth hunters told about bashing, thrusting, raping, killing, about the Hero“, so Le Guin. „The killer story.“

Killer Stories

Um das Mammut im Raum direkt anzusprechen: Es geht an dieser Stelle nicht um eine moralische Panik über Killerspiele. Es geht darum, was passiert, wenn Geschichten primär mit Schwert oder Gewehr vorangetrieben werden. Und es ist untertrieben festzustellen, dass digitale Spiele von gewaltsamen Konflikten geprägt sind. Gewalt ist der Status Quo. Wenn die Spielenden in Metaphor: ReFantazio nach sozialen Verbindungen und emotionaler Heilung suchen, dann um bessere Held*innen, effektivere Killer zu werden. Probleme werden im Dialog identifiziert, aber im Dungeon gelöst. Die wachsende Gruppe von Mitstreiter*innen, die sich smart und für Fantasy untypisch nicht aus „Rassen“, sondern aus sozialen Milieus zusammensetzt, erwacht erst im Kampf nach und nach zum individuellen Potenzial, ihren „Archetypen“, wie es das Spiel nennt. Aus komplexen Figuren werden so „Heiler“, aber auch „Berserker“, „Kommandanten“ und „Samurai“.

„Since it’s about men, the hero-tale has concerned the establishment or validation of manhood“, schreibt Ursula K. Le Guin in einer Nachbetrachtung ihrer Fantasyreihe Earthsea. Sie schildert darin auch eindrücklich, wie sie sich in den 50 Jahren des Schreibens an ihrer Welt bewusst von jungianischen Archetypen, „forms of the Western European psyche as perceived by a man“, gelöst hat. Ihre Figur Tenar, die als Kind in den Dienst als Priesterin eines Totenkults gezwungen wird, muss im zweiten Buch (1970) noch von dem mächtigen Zauberer Ged befreit werden. Schon zwei Bücher später (1990) steckt Ged mitten in einer Erschöpfungsdepression und Tenar manövriert als eigenwillige Frau die patriarchal geprägte Erdsee. In Metaphor: ReFantazio taucht Tenar in Form der Priesterin Eupha als direktes Zitat auf. Doch wo Tenar nach einem Leben abseits männlicher Gewaltausübung suchen muss, kann Eupha ordentlich austeilen und darf einen peinlichen Crush auf den Protagonisten entwickeln.

Heldinnen in digitalen Spielen sind wie Kanarienvögel für die erstickende Wirkung der epischen Jagd als erzählerischer Standard. In Horizon Zero Dawn (2017) bewegt sich die Jägerin Aloy mit Pfeil und Bogen durch ein postapokalyptisches Nordamerika voller steinzeitlicher Stämme und kybernetischer Maschinen. Bereits 1985 hat Le Guin mit Always Coming Home eine Ethnografie steinzeitlicher Stämme in einem postapokalyptischen und von einer kybernetischen Intelligenz durchzogenen Nordamerika vorgelegt. Dort berichtet unter anderem die Zeitzeugin Stone Telling von dem Versuch des autoritären Condor-Stammes, ein Bombenflugzeug unter kybernetischer Anleitung zu bauen. Die Condor-Gesellschaft crasht ebenso wie der Jungfernflug. Eroberungswirtschaft, Raubbau und Zwangsarbeit sind schlicht nicht nachhaltig. In Horizon Zero Dawn braucht es eine Heldin, um die technologische Aufrüstung zu beenden. Aloy macht keine pointierten Beobachtungen, sondern kämpft mit Roboter-Dinosauriern.

Einmal erkannt, lässt sich das Muster, das Ursula K. Le Guin in ihrer Tragetaschentheorie des Erzählens aufgedeckt hat, überall im digitalen Spiel wiederfinden: „Before you know it, the men and women in the wild oat patch and their kids and the skills of the makers and the thoughts of the thoughtful and the songs of the singers are all part of it, have all been pressed into service in the tale of the Hero.“ Selbst meine Farm in Stardew Valley, die ich zu Beginn so arglos verwettet habe, ist nicht aus dem Wandel der Jahreszeiten und einer reichen Haferernte erwachsen, sondern wurde für unzählige Stunden im Dungeon des Dorfes erkämpft. Und bevor man sich versieht, existiert der Bauernhof nur noch, um das Leben als Held*in zu ermöglichen. Games wie Metaphor: ReFantazio sind gut gefüllt mit cleveren Prämissen, liebenswerten und vielschichtigen Charakteren. „But it isn’t their story. It’s his.“

Ewige Adoleszenz

Diese Analyse ist nicht neu. Bereits 1999 wies der Kulturwissenschaftler Henry Jenkins darauf hin, dass digitale Spiele als „gendered play spaces“ vor allem auf eine seit der industriellen Revolution entstandenen „boy culture“ voller Gewalt, Spektakel und ausschweifender Abenteuer zurückgreifen. Der Medienwissenschaftler Ian Bogost attestiert dem Medium 2013 unter lautem Widerspruch eine andauernde Pubertät, weil selbst kritische Erfolge wie das queere Adventure Gone Home (2013) auf Horror-Elemente zurückgreifen, um ihre im Rückblick doch recht generische Coming-of-Age-Story für die Spielenden aufzuwerten. Auch heute nutzen gefeierte Games wie Firewatch (2016), Disco Elysium (2019) und Pentiment (2022) noch Verschwörungserzählungen und Mordermittlungen als Zuckerwürfel, damit die bitteren life stories besser zu schlucken sind. Steckt man den Held in die Tasche, so Le Guin, sieht er eben aus wie eine Kartoffel. „He needs a stage or a pedestal or a pinnacle“, schreibt sie.

In einer ironischen Umkehrung der klassischen Trennung von E- und U-Kultur, verteidigt der „harte Kern“ der Spielekultur lautstark den Exzess und lässt das Maßvolle abschmettern. Schwer, brutal und lang ist gut. Leicht, konfliktarm und kurz ist schlecht, tendenziell zu „woke“, noch nicht mal ein vollwertiges Spiel und kann nur mit dickem Kitsch und hübschem Artstyle eventuell rehabilitiert werden – looking at you, Journey (2012). Ein digitales Spiel richtig und gut zu spielen, ist nach wie vor eine Sache männlicher Profilierung und meritokratischer Leistungsideale. Mit maximalem Cringe hat das zuletzt der Tech-Broligarch Elon Musk illustriert, der leistungsfähigere Gamer dafür bezahlen muss, um seine Charaktere in den Action-Rollenspielen Diablo 4 (2023) und Path of Exile 2 (2025) für hunderte Stunden hochzuleveln. Was für eine performative Zeitverschwendung für alle Beteiligten. Und was für eine traurige Kartoffel.

Ist Metaphor: ReFantazio also ein gutes Spiel? Ja, so wie fast alle genannten Games. Wäre es halb so lang, wäre es doppelt so gut. Wäre es geviertelt, könnte man kurz nach Release auch eine vollständige Rezension lesen. Dort würde stehen, dass relevante life stories erzählt werden, aber die Spielmechanik damit überfordert ist. Sie kann nur auf einen utopischen Roman verweisen, den unsere politische Realität aktuell in Fetzen reißt. Digitale Spiele müssen noch herausfinden, wie sie eine Tragetasche sein können. Resignation, Ungleichheit, Populismus sind nicht mit dem Schwert in einem Dungeon zu lösen. MAG muss anders genutzt und MAGA anders behandelt werden. Egal ob in der magischen Demokratie von Euchronia, dem kleptokratischen Takeover der USA oder einer Migrations-fixierten Bundestagswahl. Ursula K. Le Guin gelingt das in weniger als 130 Stunden: „The trouble is, we’ve all let ourselves become part of the killer story, and so we may get finished along with it.“

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