Wenn die Stechuhr beim Stechen schweigt – Über die unablässigen Forderungen nach mehr Leistung und Arbeit

von Simon Sahner

Die neue Bundesregierung sorgt sich vor allem um Arbeit und um die Wirtschaft – so scheint es zumindest. „Neues Wirtschaftswachstum, gute Arbeit, gemeinsame Kraftanstrengung“ heißt es als eine Art Leitmotiv direkt zu Beginn des Koalitionsvertrages, den Union und SPD vor wenigen Tagen unterschrieben haben. Eigentlich hätte man noch ein motivierendes „Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt“ ganz an den Anfang setzen können. Denn auch wenn der Klassiker der Neuen Deutschen Welle, „Bruttosozialprodukt“ von Geier Sturzflug, offen ironisch mit dem Klischee des fleißigen und arbeitsamen Deutschen spielt, dürfte die neue Bundesregierung tatsächlich darauf hoffen, dass bald wieder die „Stechuhr beim Stechen lustvoll stöhnt“.

Ginge es nach dem frisch gewählten Bundeskanzler, mehreren anderen Politiker*innen und einigen Stimmen aus der Wirtschaft, würden wir alle mehr, härter und länger arbeiten. Arbeit müsse wieder „Teil unserer Lebenserfüllung“ werden, wünscht sich Friedrich Merz. Der Chef der Allianz fordert, dass der erste Krankheitstag unbezahlt sein soll, Unternehmer Reinhold Würth wirft der Generation Z fehlende Arbeitsmoral vor und sogar der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg Winfried Kretschmann äußerte kürzlich in einem Interview: „Wir müssen mehr arbeiten.“  Am liebsten wäre ihnen allen wahrscheinlich, man würde es mit dem „Kranken“ halten, der sich im Text von Geier Sturzflug, direkt nach der Beinamputation wieder „richtig rein“ hängt.

Margaret Thatcher lässt grüßen

Begründet werden diese vehementen Forderungen mit der derzeitigen Lage der deutschen Wirtschaft. Deren Zustand ist bekanntlich mäßig und kann anscheinend nur wieder besser werden, wenn wir alle mehr lohnarbeiten und endlich wieder etwas leisten – was immer das konkret heißt. Teilweise klingt es so, als ginge es einfach nur darum, dass wieder mehr gearbeitet wird, unabhängig von was und für was. „Es geht nicht anders,“ stellt Kretschmann dramatisch fest. Bei mir löst so eine Aussage sofort Widerstand statt Motivation aus, zu sehr klingt da das geflügelte Wort der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher „Es gibt keine Alternative“ an, mit dem sie jede Kritik am kapitalistischen Wachstumsdiktat abwehrte.

 „Doch,“ möchte man Kretschmann trotzig entgegnen, „es geht anders!“ Wahrscheinlich geht es vielen wie mir: Ich kann es ehrlich gesagt nicht mehr hören. Seit Monaten wirft uns gefühlt jede Woche irgendjemand vor, wir würden zu wenig leisten, wir lägen in der sozialen Hängematte, hätten keine Leistungsbereitschaft mehr, würden zu viel Urlaub haben und zu oft in Teilzeit arbeiten. All diese Forderungen haben ungefähr die Motivationskraft eines Fabrikbesitzers, der aus dem gläsernen Büro in die Werkshalle hinabblickt und seine Arbeiter*innen am Fließband antreibt. Mit jeder Forderung nach mehr und härterer Arbeit dieser Art wird der innere Widerstand, den ich gegen die geforderte Leistungsbereitschaft entwickle, größer. Wie Bartleby, der Schreiber aus Herman Melvilles gleichnamiger Erzählung, möchte ich auf derartige Anweisungen vor allem mit „Ich möchte lieber nicht“ reagieren.

Für Wirtschaft und Wohlstand?

Höre ich mich in meinem Umfeld um, spüre ich eine ähnliche Haltung. Nun könnte man mir und anderen vorwerfen, wir seien eben genauso faul und wohlstandsverwahrlost, wie es besagte Politiker*innen uns vorwerfen. Gleichzeitig kann ich von mir selbst sagen, dass ich gerne arbeite. Und ich habe auch nicht den Eindruck, dass Menschen grundsätzlich nicht arbeiten wollen. Wie die meisten Menschen habe ich Freude daran, etwas zu schaffen und produktiv zu sein. Ich werde sogar unruhig, wenn ich gerade keinen Auftrag oder kein Projekt habe und ein paar Tage an nichts Konkretem arbeiten kann – und das nicht nur aus finanziellen Gründen. Der Widerstand, den ich gegen die Forderung nach mehr Arbeit und Leistung empfinde, hat seinen Ursprung viel mehr in der Frage: Für wen oder was sollen wir eigentlich mehr arbeiten? Natürlich liegt die Antwort nahe: Für das Wirtschaftswachstum und für unseren Wohlstand. Das Problem ist nur: Ich habe keinerlei Emotionen gegenüber der Wirtschaft und ihrem Wachstum – und wenn doch, dann sind es eher zweifelnde Gefühle.

Auch weiß ich zwar, was theoretisch mit „Wohlstand“ gemeint ist, aber es entsteht der Eindruck, dass dieser Begriff vor allem ein wohliges Gefühl auslösen soll, ohne dass man so genau sagen muss, was eigentlich gemeint ist. Es drängt sich jedenfalls nicht der Eindruck auf, dass diejenigen, die so vehement mehr Leistung fordern, dafür kämpfen, dass es uns allen so gut wie möglich geht. Gerade wenn es darum geht, wie Arbeit und der Lohn dafür verteilt werden, gibt es ja ganz konkrete Möglichkeiten, mit denen man Menschen signalisieren könnte: Wir wollen, dass wir zusammen dafür arbeiten, dass es uns allen gut geht. Man könnte etwas dagegen tun, dass die Gehälter von Spitzenmanager*innen laut einer Oxfam-Studie seit 2019 um 21 Prozent gestiegen sind, während die der normalen Angestellten um nicht einmal ein Prozent angehoben wurden. Oder man könnte etwas dagegen tun, dass es in Deutschland mehrere hundert Menschen gibt, die über ein Vermögen von mehr als einhundert Millionen Euro oder gar mehrere Milliarden verfügen, und vermutlich nicht so hart und teilweise deutlich weniger arbeiten als durchschnittliche Arbeitnehmer*innen. Zwar heißt es im neuen Koalitionsvertrag mit gouvernantenhafter Strenge: „Jede arbeitslose Person hat sich aktiv um eine Beschäftigung zu bemühen,“ aber man kann davon ausgehen, dass damit nicht die arbeitslose Person gemeint ist, die für ihren Lebensunterhalt gar nicht erst arbeiten muss.

Der Grundverdacht gegen Arbeitnehmer*innen

Arbeiten müssen offenbar nur diejenigen, die ohne Arbeit nicht überleben könnten. Wer ohne Arbeit gut leben kann, weil er genug Vermögen besitzt – woher auch immer – der ist bei der Forderung nach mehr Leistung und mehr Arbeit wahrscheinlich nicht mitgemeint. Dahinter steht nicht zuletzt die Ansicht, dass Reichtum stets die Folge von Leistung und Arbeit sei und dass Arbeit grundsätzlich fair vergütet würde. Nur, wenn man das glaubt, kann man davon ausgehen, dass reiche und überreiche Menschen offenbar viel leisten, auch wenn sie weniger hart und lang arbeiten als andere.

Stattdessen scheint hinter den Forderungen nach mehr Leistungsbereitschaft ein grundlegend autoritäres Verständnis von Arbeit zu stehen, das vor allem diejenigen betrifft, die gar nicht anders können als irgendetwas zu arbeiten, weil sie sonst kaum überleben könnten. „Es liegt ein Grundverdacht vor, der Arbeitnehmerschaft ist augenscheinlich nicht zu trauen. Sie bedarf der Bevormundung,“ stellt Heike Geißler in ihrem Essay „Arbeit“ fest. Der Mensch muss zum Arbeiten gezwungen werden, das scheint die Haltung zu sein, die sich in den Aussagen der Politiker*innen ausdrückt.

Und so gesehen stimmt das sogar. Persönlich habe ich nur wenig Interesse für die Ziele zu arbeiten, die im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung stehen. Und so geht es vermutlich vielen. Fast alle Menschen in meinem Umfeld leisten Lohnarbeit, aber die meisten versuchen genau so viel zu arbeiten, dass sie gut über die Runden kommen und nicht auf allzu viel verzichten müssen. Und diejenigen, die sich richtig reinhängen, tun das nicht, weil ihnen die deutsche Wirtschaft am Herzen läge, sondern weil sie sonst nicht genügend Geld zum Leben hätten oder weil ihnen ihre Arbeit mehr bedeutet als das Einkommen. Aber kann man von Menschen wirklich erwarten ein ernsthaftes Interesse an Wirtschaftswachstum zu entwickeln, wenn wir zunehmend feststellen, dass diejenigen, die am meisten und härtesten arbeiten, nicht diejenigen sind, die am Ende das meiste herausbekommen? Zudem hat es sich trotz Klimakatastrophenskepsis inzwischen herumgesprochen, dass es vielleicht gar keine so gute Idee ist, dass wir das Wirtschaftswachstum immer weiter steigern. Zugleich durchleben wir seit Jahren eine Krise nach der anderen: Wirtschaftskrisen, Pandemie, Kriegsgefahr, generelle weltpolitische Unsicherheit und über allem thront die Klimakrise. Das wirtschaftliche Resultat dieser Verwerfungen war bisher vor allem, dass die reichsten Menschen noch reicher wurden. Kann man es da Menschen wirklich verübeln, dass sie es nicht einsehen härter und mehr für Wirtschaftswachstum und einen diffusen Wohlstandsbegriff zu arbeiten?

Arbeiten ja, aber für wen?

Aber trotzdem müssen wir ja arbeiten. Das stimmt schon. Wir können nicht alle den ganzen Tag auf dem Balkon liegen und der Welt beim Untergehen zuschauen. Natürlich, das könnten wir, aber ich glaube nicht, dass das die Haltung der meisten Menschen ist. Stattdessen formuliert Geißler in ihrem Essay eine Haltung, mit der ich mich identifizieren kann: „Ich versuche zu arbeiten und zu leben, wie ich es für richtig halte. Ich versuche auf eine Weise zu arbeiten, bei der sich Arbeit nicht nach Mühsal und Plage anfühlt.“ Was könnte daran falsch sein? Denn dahinter steht ja nicht der Anspruch, nicht zu arbeiten, sondern der Wunsch danach, so zu arbeiten, dass die Arbeit ein gutes Leben ermöglicht und unterstützt – für sich selbst und andere. Wäre das nicht ein Ansatz, auf den man sich einigen könnte? Dass wir in irgendeiner Form das organisieren und herstellen müssen, was wir als Gesellschaft brauchen, und dass wir etwas dafür tun müssen, dass wir alle gut leben können, dagegen würde ja wahrscheinlich kaum jemand etwas sagen. Aber das ist nicht der Anspruch, den ich aus den Forderungen nach mehr Arbeit und mehr Leistung heraushöre.

So lange nicht der Eindruck entsteht und umgesetzt wird, dass mehr Arbeit und Anstrengungen in erster Linie dazu führen, dass es Menschen flächendeckend besser geht, kann man niemand einen Vorwurf machen, der es bei den Forderungen aus Politik und Wirtschaft weiter eher mit Bartleby statt mit Geier Sturzflug hält.

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