von Sandra Beck
Kriminalliterarisches Erzählen wurde schon immer misstrauisch beäugt: zu anrüchig der Gegenstand, zu billig die Hefte, zu unkalkulierbar die Wirkungspotenziale einer süchtig machenden Lektüre rund um Leichen, Blut, Verwesung. Im unerschütterlichen Glauben an die Macht der sogenannten ‚Schundliteratur‘, starke Affekte zu erregen und die Begriffe von Fiktion und Wirklichkeit zu verwirren, malte man sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Konsequenzen des schundliterarischen Konsums in den grellsten Farben aus, die getrennt in zwei Register unerwünschten sozialen Verhaltens sortiert wurden: für die Leser eine Erregung roher Gewaltfantasien, für die Leserinnen eine Erregung erotischer Begierden. Verführt vom Gift der gedruckten Seiten liefen nach zeitgenössischer Überzeugung insbesondere Jugendliche beider Geschlechter Gefahr, im hypnotischen Bann einer schmutzigen Literatur sich über kurz oder lang selbst in den Schmutz zu stürzen.
Die Schwierigkeit jedoch, eine direkte Relation von Ursache und Wirkung zu belegen, dokumentiert bereits Albert Hellwigs Zusammenstellung Aktenmäßiger Fälle über Schundliteratur und Schundfilms als Verbrechensanreiz, die 1916 in der Zeitschrift Der Gerichtssaal publiziert wurde – offenbar von so drängender Relevanz, dass der Autor sie „im Felde“ sammelte. Aufgenommen ist in das Konvolut auch der Fall eines detektivischen Jugendbundes, über den die Münchner Polizeidirektion zu berichten weiß, dass
„Straftaten von Mitgliedern der hiesigen Gruppe […] bis jetzt nicht bekannt geworden [sind]; die betreffenden jungen Leute scheinen vielmehr für ihr Ziel – Unterstützung der Kriminalpolizei bei Aufdeckung von Verbrechen und Vergehen! – begeistert und von seiner Nützlichkeit überzeugt zu sein. Gleichwohl ist die Bewegung imstande, eine heillose Verwirrung in jugendlichen Köpfen anzurichten, unreife Personen von geregelter Arbeit abzuhalten und sie dadurch mittelbar auf schiefe Wege zu bringen. Der ‚Hauptmann‘ des hiesigen Zweigvereins hat kürzlich ohne triftigen Grund seine bisherige entlohnte Tätigkeit (Schreiberstelle) aufgegeben; der eingangs erwähnte Leser der ‚Jugendwoche‘ ist aus dem Elternhause entwichen. Jedenfalls muß dem Treiben mit allen Mitteln entgegengearbeitet werden“.
Es ist naheliegend, in dem begeisterten detektivischen Jugendbund von damals die Vorgänger der Masse aktiver True-Crime-Fans der Gegenwart zu erkennen. Während Hellwig noch auf die aktenkundig gewordenen Aussagen der Täter*innen angewiesen war, um das Verhältnis zwischen Tat und Medienkonsum zu klären, lässt sich aktuell ein reflexiver Trend zur kritischen Selbstbefragung beobachten. Mollie Goodfellow etwa diagnostiziert ihren obsessiven True-Crime-Konsum als Symptom einer Malaise; die Lossagung vom Format als entscheidenden Schritt zur Selbstheilung: „I had relied on the painful experiences of others as a sort of numbing cream, a buffer I could put between me and my experiences. Letting go of true crime allowed me to let go of my own things – and finally find some peace.“
Auch Arwa Madhawi erhebt die eigenen Lektüreinteressen zum integralen Element ihrer Fallgeschichte: „Several years ago, when true crime was at its peak, I developed a severe case of an affliction blighting millennial women around the world: amateur detective syndrome.“ Betäubung und Besessenheit, Eskapismus und Krankheit, Anmaßung und Zusammenbruch – die Rhetorik des 20. Jahrhunderts wird in der Reflexion über True-Crime-Sucht in der Gegenwart reproduziert. Im Angesicht einer globalen Epidemie berichten diese Stimmen davon, wie man nach einer Ansteckung mit der Angst-Lust-Sucht der Krankheit nicht zwingend erliegen muss, sondern gerade im Überwinden der Krise Rezeptionsresistenzen aufbauen kann.
Während diese reflektierten Einzelstimmen von der Möglichkeit einer Heilung erzählen, bleibt die Masse in ihrer gruseligen Begeisterung für True-Crime-Formate unheimlich. Erklärungsbedürftig ist eine Faszination für Texte, die die sauberen Aktenbündel erneut aufschnüren und im voyeuristischen Genuss das Entsetzen vor der echten Tat wiederbeleben. Die Detektivgeschichte wurde einst von Austin R. Freeman mit Blick auf ihre Leser zur Kunst geadelt: „Clearly, a form of literature which arouses the enthusiasm of men of intellect and culture can be affected by no inherently base quality. It cannot be foolish, and is unlikely to be immoral“.
In den Debatten der Gegenwart dagegen scheint gerade der umgekehrte Effekt zu greifen, denn die explosionsartige Vermehrung der True-Crime-Angebote scheint auch deswegen höchst bedenklich, weil das mediale Angst-Lust-Phänomen durch die Rezeptionsentscheidungen eines weiblichen Publikums angetrieben wird. Die anthropologische Frage, warum ‚wir‘ True Crime lieben, hat sich längst verwandelt in ein neues Puzzleteil zum ‚Rätsel Weib‘. Eine kurze Liste repräsentativer Artikel zeigt, wie sehr der Gender-Aspekt die Diskussion über True Crime bestimmt:
- Laura Karasek über ihren neuen Podcast – und warum True Crime besonders Frauen fasziniert (Süddeutsche Zeitung, 08.07.2025)
- ‚We are so into it‘: Why do so many women love true crime? (The Sydney Morning Herald, 08.07.2025)
- Warum sind wahre Verbrechen so beliebt bei Frauen? (Brigitte, 26.06.2025)
- True Crime: Warum besonders Frauen fasziniert vom Verbrechen sind (Apothekenumschau, 02.06.2025)
- Why Women Are Falling Asleep to True Crime Podcasts (Marie Claire, 07.03.2025)
- Warum vor allem Frauen das Böse fesselt – Faszination True Crime (Magdeburger News, 22.05.2025)
- True Crime als Selbstschutz? Warum das Genre gerade Frauen so fasziniert (Kurier, 17.01.2025)
- Warum Frauen echte Verbrechen lieben (MDR, 01.12.2023)
- Why do women love true crime so much? I have a theory (The Guardian, 05.06.2023)
- True-Crime: Warum Frauen fasziniert sind und Männer umschalten (ZEITjUNG, 02.05.2023)
- Warum Frauen True Crime lieben (Spiegel, 13.02.2022)
- Warum Frauen das Böse lieben (Tagesanzeiger, 19.03.2022)
- „Wieder was gelernt“-Podcast: True Crime macht vor allem Frauen Spaß (ntv, 03.02.2020)
- Why are women obsessed with true crime? (The Guardian, 21.08.2019)
Frau ist offenbar, wer sich von True Crime faszinieren lässt: „Angela Merkel liebt es. Und Kim Kardashian auch. So unterschiedlich beide Frauen sein mögen, eines scheint sie zu vereinen: die Faszination fürs Verbrechen. Oder besser: für True-Crime-Podcasts“, so Kathrin Fuchs in Vogue. Dabei sind die aufgebotenen Gründe für den True-Crime-Gap erstaunlich gleichförmig: Frauen seien nun einmal generell empathischer und daher sowohl prädisponiert, sich mit den prototypisch weiblichen Opfern im True-Crime-Kosmos zu identifizieren, oder einer morbiden Faszination für die Auslotung der Täterpsyche zu erliegen. „I believe this has to do with a female desire to feel safe and secure“, bekundet Scott A. Bonn in Psychology Today.
Die quantitativen Untersuchungen aus dem Bereich der Sozialpsychologie bündeln diese Überlegungen in der Deutung von True Crime Consumption as Defensive Vigilance. Die Psychologin Corinna Perchtold-Stefan, die an der Universität Graz zu der Frage forscht, ob True-Crime-Konsum Frauen dabei helfen kann, adaptiver mit Angst und Bedrohung im Alltag umzugehen, erläutert diese These jüngst in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung:
„Man geht davon aus, dass zwei Drittel bis 90 Prozent der True-Crime-Fans weiblich sind. Die weiblichen Fans konsumieren circa sieben Stunden pro Woche solche Inhalte, die männlichen drei bis vier. Frauen können sich besser in andere hineinversetzen und sind deshalb interessierter an den Geschichten anderer Menschen. Aber es geht auch um sogenannte Defensive-Vigilanz, also darum, dass Frauen lernen wollen, wie sie sich besser auf Gefahren und Gewalt vorbereiten können. True Crime ist quasi ein Schutzmechanismus. Das passt zu der Tatsache, dass Frauen allgemein mehr Angst vor Verbrechen haben als Männer. Das heißt nicht, dass Frauen durch True Crime auch tatsächlich besser vorbereitet sind auf Kriminalität, es geht eher um das Gefühl der subjektiven Kontrolle und Resilienz.“
Die rezeptionsseitige Umdeutung des True-Crime-Franchise zum enzyklopädischen Lehrbuch, das die Konfrontation mit dem Monster of the Week mit immer neuen Strategien für das eigene Überleben belohnt, erscheint seltsam funktionalistisch. Nachgerade zynisch liest sich in diesem Kontext die Schlussbemerkung von R. Chris Fraley in seinem Aufsatz zur Frage, warum sich Frauen von True Crime so angezogen fühlen: „Fortunately, as women continue to read these stories, they may very well be learning important skills that will prevent them from one day becoming the victim of a killer and, in turn, unwilling star of their own true crime book.“[1]
Studien zeigen, dass das Publikum True-Crime-Formate keineswegs ausschließlich andächtig und hochkonzentriert konsumiert, mit Kaffee und gezücktem Bleistift, um nur ja keinen entscheidenden Tipp für das eigene Wohl zu verpassen. Vielmehr scheint die Mehrzahl wahre Verbrechen als Hintergrundrauschen in den eigenen Alltag zu integrieren. Saturday Night Live parodiert True-Crime-Faszination als groteskes Missverhältnis zwischen dem rezipierten Grauen im gefräßigen Binge-Modus und den gleichzeitig erledigten banalen Aufgaben des Alltags:
„I’m gonna watch a murder show, murder show / I’m gonna watch a murder show / Netflix, Showtime / HBO and Dateline // Murder show, murder show / I’m gonna watch a murder show / YouTube, Hulu / That’s my favorite thing to do // Two sisters got killed on a cruise in the Bahamas / I’m gonna half watch it while I fold my pajamas // Severed limbs found on a beach in Chula Vista / But I just kinda stare while I eat a piece of pizza […] // Six pretty girls got scalped at the prom / I watch it in the background while I FaceTime my mom.“
Die als Self-Care zelebrierte affektive Gleichgültigkeit gegenüber Blutströmen erteilt dabei gleichzeitig dem Konzept des medialen Überlebenstrainings eine erfrischend klare Absage, denn die mangelnde Aufmerksamkeit für den Second Screen bedingt durch die erschöpfenden Anforderungen von Hausarbeit und Care Work, macht jeden Lernerfolg zunichte.
Die Hypothese vom begierig rezipierten Fort- und Weiterbildungsangebot in Sachen Selbstschutz und Gefahrentraining überspringt ganz nebenbei die feministische Leitforderung: „Don’t protect your daughters, educate your sons“. Unabhängig davon, ob man die Rezeptionsentscheidung des weiblichen Publikums – nach einer Studie zu 69% bei der Hausarbeit – für True-Crime-Formate nun sozialpsychologisch als Traumabewältigung, plurimediales Risk Management oder als Effekt eines Überlebensinstinkts vorstellt – das Reden über True Crime setzt stets bei der Fragwürdigkeit weiblichen Medienkonsums ein. In den diskursiven Wiederholungsschleifen kehrt man wieder und wieder zum Frau-Sein zurück.
Dabei wäre es besser, über die Trost-Funktion zu sprechen, wie sie Clémence Michallon skizziert hat: „We can’t always get people to acknowledge our own pain. When exposed to someone’s cruel behaviour, we don’t always get the resolution we want. Watching true crime can offer us somewhere to turn to see those behaviours acknowledged and, sometimes, punished.“ Auch die Überlegungen von Nancy Jo Sales weisen in diese Richtung: „Through consuming true crime content, studies say, women experience catharsis; they work out their fears about their own vulnerability and perhaps their rage about what has happened to other women as well.“
Sicher würde die Diskussion insgesamt davon profitieren, weniger ein Frauen-Wir, ein Frauen-Ihr zu psychologisieren, sondern genauer zu untersuchen, auf welche gesellschaftlichen Wirklichkeiten diese spezifische Form der Wunscherfüllung reagiert. Hat man mit Hanna Engelmeiers Vier Übungen (2021) näher über Trost nachgedacht, eröffnet sich mit diesem Erklärungsansatz aber ein neuer Abgrund. Denn wenn die medialen Aufbereitungen wahrer Verbrechen attraktiv sind, weil sie zusichern, dass man gemeinsam mit einem riesigen Publikum die offenen Wunden misogyner Gewalt inspizieren und notdürftig überkleben wird, ohne je etwas gegen das alltägliche Grauen zu unternehmen, wäre das vor allem für das Patriarchat tröstlich – ein mit toten Frauen bedrucktes Trostpflaster. Fassungslos machen sollte uns also nicht das trostbedürftige Publikum, sondern die Realität, die diese Wunden verursacht.
[1] R. Chris Fraley: Captured by True Crime: Why Are Women Drawn to Tales of Rape, Murder, and Serial Killers? In: Social Psychological and Personality Science 1 (2010), S. 81-86, hier S. 86.
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