Schlagwort: Feminismus

Sie macht wohl Witze? Über komische Frauen in der Popkultur

von Nele Sawallisch und Wieland Schwanebeck

Wenn Akademiker auf besonders akademische Art frauenfeindlich sein wollen, verkleiden sie sich manchmal als Anthropologen. Christopher Hitchens zum Beispiel – ein heller Kopf, enorm belesen und keiner polemischen Diskussion abgeneigt – denkt im Jahr 2007 in der Zeitschrift Vanity Fair, für die er auch schon Rezensionen und geistreiche Essays verfasst hat, über komische Frauen nach. Er kommt dabei zu, sagen wir mal, eigenwilligen Schlussfolgerungen. Männer, so Hitchens, hätten sich im Verlauf der Evolution eine Art Comedy-Gen antrainiert, um Frauen zu beeindrucken. Die von Natur aus attraktiven Frauen dagegen hätten es nie nötig gehabt, Männer von sich zu überzeugen. Deswegen hätten sie auch niemals eine Komikbegabung entwickeln müssen, weder die akrobatischen Verrenkungen des Slapsticks noch die intellektuelle Doppelbödigkeit des Witzes. Schließlich, so Hitchens, müssten sie ihre ganze Energie ihrer höheren Berufung widmen, nämlich dem Gebären, und das sei nun mal keine komische Angelegenheit. Auf ebenso absurde Weise und mit ähnlich pseudo-biologischen Untertönen, kommt eine berühmte Äußerung von Jerry Lewis daher, überliefert aus einem moderierten Gespräch im Jahr 2000: Mit komödiantischen Frauen habe er ein Problem, schließlich seien die ja eher Gebärmaschinen („a producing machine that brings babies in the world“).

Schwer zu sagen, was zuerst da war: die Ansicht, Frauen könnten nicht lustig sein, oder die von Männern dominierte Comedy-Szene. Beides dient als dürre Erklärung für das jeweils andere. Im 17. Jahrhundert behauptet sich die Dramatikerin Aphra Behn mit ihren Stücken tapfer auf den Spielplänen der Londoner Theater, wohlwissend, dass die Kritiker über jede derbe Pointe in ihren Komödien die Nase rümpfen, dieselben Gags aber mit Schenkelklopfen goutieren, wenn sie von männlichen Autoren angeboten werden. Noch heute übertreffen sich rechte Kommentatoren und YouTuber gegenseitig darin, weibliche Comedians demonstrativ unlustig zu finden. Sie filmen sich selbst dabei, wie sie mit versteinerter Miene einem Standup-Set von Amy Schumer oder einem Late-Night-Monolog von Lilly Singh folgen. Sie schreiben damit eine Tradition fort, die aus der (vermeintlichen) Abwesenheit von Frauen im Kanon der Humorschaffenden auf deren natürlichen Mangel an komischem Talent schließt. Dabei stützen sie sich auf eine imposante Zahl respektabler Gewährsmänner. Die großen Theorien der Komik und des (Ver-)Lachens sind mit Namen wie Aristoteles, Thomas Hobbes oder Sigmund Freud verknüpft. Sie alle gehen stillschweigend von einem weißen männlichen Subjekt aus, auf das die Welt zu beziehen sei, und man weiß nicht so recht, was schlimmer sein soll – mansplaining, adressiert an vermeintlich schlecht informierte Frauen, oder männliches Erklärgehabe, das exklusiv unter Männern bleibt, weil Frauen gar nicht erst zum Gespräch zugelassen werden.

Hobbes warnt vor der hässlichen Fratze des garstig Verlachenden und nimmt dabei eine Machtposition an, die Frauen zu seiner Zeit ohnehin kaum innehatten – um andere wegen ihres fehlenden sozialen Kapitals herabzusetzen, braucht man erstmal selbst welches. Freud flankiert seine Überlegungen zum Witz mit Kastrationsängsten und anderen männlichen Komplexen, fokussiert sich also ebenfalls ausschließlich auf den Mann. Wenn Frauen mal für Gelächter sorgen, dann unfreiwillig, etwa in dem von Freud in der Psychopathologie des Alltagslebens (1904) zitierten Beispiel für die berühmte Freud’sche Fehlleistung. Eine junge Dame sorgt hier für Erheiterung, als sie in Gesellschaft die Vermutung äußert, ein Mann brauche nur „seine fünf geraden Glieder“, um zu gefallen. 

Frauen, die sich der Pauschaldiagnose der Humorlosigkeit widersetzten, wurden lange Zeit mit einem besonders garstigen Argument verunglimpft. Sie seien wahrscheinlich gar keine richtigen Frauen, sondern Hysterikerinnen oder aggressive Mannweiber. Noch heute kommt es einem Tabubruch gleich, wenn Frauen aufs Feld der Zote oder gar des Pipikacka-Humors vordringen. Die Gruppe herausgeputzter Brautjungfern, die sich im Film Brautalarm (2011) nach einem Restaurantbesuch auf dem Kundenklo des Brautmodengeschäfts die Seele aus dem Leib kotzt und kackt, drückt nicht nur den eigenen Darminhalt, sondern auch so manches Klischee über diskrete und klinisch saubere Weiblichkeit in die Schüssel. Der Soziologe Gregor Balke hat mit Poop Feminism (2020) eine geistreiche, mit vielen Beispielen unterfütterte Kulturgeschichte der weiblichen Fäkalkomik vorgelegt, die diesen Tabubruch als Geste der Selbstermächtigung deutet.

Das Feuilleton nimmt solche Zäsuren aufmerksam zur Kenntnis, feiert sie – im Fall von Brautalarm möglicherweise etwas zu einseitig – als Sternstunden der feministischen Komik und veröffentlicht Loblieder auf die zeitgenössische Comedy-Avantgarde. Hannah Gadsby, die in ihrem Programm Nanette (2018) das gesamte Standup-Format dekonstruiert, zählt ebenso dazu wie Tig Notaro, die in ihrer Show Boyish Girl Interrupted (2016) nach ihrer Krebserkrankung dem Publikum ihren Körper ohne Brüste präsentiert  und das Unbehagen im Saal spürbar auskostet.

Es sind überfällige Triumphe queerer Frauen, nachdem sich der Feminismus lange Zeit schwergetan hat, Witz und Ironie in sein rhetorisches Arsenal aufzunehmen. Ernstgemeinte politische Forderungen, so lautete die Befürchtung, könnten durch die Doppelbödigkeit des Witzes genauso aufgeweicht werden wie die kämpferische Haltung durch Ironie. Trotz der Furcht vor dem Stigma der vermeintlichen feministischen „Spaßbremse“ betont etwa Sara Ahmed, dass Humor ein wichtiges Instrument sein kann: „Wenn man etwas verlacht, kann man es greifbarer machen, überhöhen und ihm dabei zugleich seine Übermacht nehmen“ (Übersetzung durch die Verf.). Lachen und Gelächter tragen also zur Selbstermächtigung bei und sind damit Überlebensstrategien.

Dennoch ist es wichtig, weibliche Komik nicht mit feministischer Komik gleichzusetzen. Virginia Woolf ruft Aphra Behn in ihrem Buch Ein Zimmer für sich allein (1929) vor allem deshalb zum Vorbild für alle schreibenden Frauen aus, weil Behn von ihrer Arbeit leben konnte, nicht weil ihr Humor progressiver als der ihrer Zeitgenossen gewesen wäre – in ihrem berühmtesten Stück, The Rover, wird sogar auf Kosten vergewaltigter Frauen gescherzt. Wo Frauen sich das Recht erstritten haben, in den Sitcom-Schreibstuben, in den Redaktionen der Satiremagazine und an den Mikrofonen der Comedy-Clubs zu bestehen, da haben sie sich auch das Recht erstritten, genauso misogyn, reaktionär und einfallslos zu scherzen wie die erfolgreichsten männlichen Kollegen aus der „Kennste? Kennste?“-Schule des faulen Vorurteils.

Mangel an Diversität ist letztlich ein Phänomen, an dem weibliche Comedy genauso krankt wie männliche. In den letzten 20 Jahren ging der Emmy für die beste Comedy-Serie zwar häufig an Serien mit starken weiblichen Hauptfiguren bzw. mit paritätisch besetzten Ensembles, aber die Protagonistinnen in Sex and the City (1998-2004), 30 Rock (2006-2013), Veep (2012-2019), Fleabag (2016-2019) und The Marvelous Mrs. Maisel (2017-2023) sind allesamt weiße, heterosexuelle Frauen, die von ökonomischen Sorgen weitgehend verschont bleiben. Mit ihrem Erfolg haben die Stars und weiblichen Showrunner allerdings auch Türen für Kolleginnen wie Margaret Cho, Flame Monroe und Tiffany Haddish geöffnet. Diese bespielen mittlerweile erfolgreich große Bühnen einer Comedy-Szene, die sich im Zuge der #MeToo-Enthüllungen nachhaltig verändert hat.

Regina Barreca, die bereits vor knapp 30 Jahren eine umfangreiche Anthologie weiblichen Humors herausgegeben hat (The Penguin Book of Women’s Humor, 1996), weist zurecht darauf hin, dass Frauen genauso wenig in den 90ern auf einmal komisch geworden sind, wie sie in den 70ern ,über Nacht‘ beruflichen Ehrgeiz, in den 60ern ein sexuelles Bewusstsein oder Ende des 19. Jahrhunderts die Fähigkeit zum Denken entwickelt hätten. Was die gründliche Erschließung und Würdigung weiblicher Comedy-Geschichte angeht, stehen wir noch ziemlich am Anfang. Dass diese Geschichte zur Not auch als freche Schelmengeschichte im Mockumentary-Stil geschrieben werden kann, belegt die kürzlich von Elias Hauck herausgegebene Biographie der Ricarda Willimann (Wer war ich?, 2022). Ihr werden unter anderem die Verantwortung für die erfolgreichsten US-Late-Night-Formate und die Urheberschaft zahlreicher Loriot-Sketche zugeschrieben.

Ebenfalls leider nur fiktional ist die Geschichte der Marvelous Mrs. Maisel, der kürzlich beendeten, bombastisch ausgestatteten und mit viel Verve dargebotenen Serie über eine Pionierin der Standup-Komik, die sich über fünf Staffeln von männlichen Kollegen über den Mund fahren, belehren und an den Rand drängen lassen muss, ehe sie doch noch zum Star wird. Die Erfolgsgeschichte des von Rachel Brosnahan umwerfend gespielten Naturtalents, das sich aus der Umklammerung durch den vergötterten Papa, den Ehemann und die Kinder befreit, um auf der Bühne das Establishment mit Peniswitzen zu provozieren, ist eine ahistorische, wenn auch sympathische Wunscherfüllungsfantasie, die die Anfänge der weiblichen Standup-Kunst in den USA noch einmal zum Leben erweckt und dabei mit realen Pionierinnen der Comedy-Geschichte spielt. Einmal läuft Miriam Maisel etwa Jackie „Moms“ Mabley über den Weg, einer Ikone der afroamerikanischen Comedy-Geschichte, die, gemessen an ihrer langen und einflussreichen Bühnenpräsenz, noch mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt hätte. Eher im Off bleibt dagegen Elaine May, von deren Werdegang sich die Serie viel abgeschaut hat und die bis vor wenigen Jahren in Vergessenheit zu geraten drohte. May hatte Anfang der 60er als Sketchpartnerin von Mike Nichols für Furore gesorgt und führte in den 70ern als einzige Frau Regie bei mehreren größeren Hollywood-Produktionen. Nach dem legendären Flop Ishtar (1987) wurde sie aber zum bestgehüteten Geheimnis der Branche und verlegte sich darauf, ohne Nennung im Vorspann Drehbücher aufzupolieren.

Es gilt noch manche solcher Werdegänge wiederzuentdecken, worin eine Chance und auch ein Fluch liegen mag. Die ikonische Überhöhung von Pionierinnen wie „Moms“ Mabley verspricht Strahlkraft und Vorbildwirkung, aber sie erhöht natürlich auch den Druck auf die Nachfolgerinnen. Der vom Brautalarm-Team aus der Taufe gehobene Neuaufguss der Ghostbusters (2016), der im Netz schon vor dem Kinostart unbarmherzig getrollt wurde, zeigt, dass Frauen längst noch nicht das Recht zugestanden wird, von dem Adam Sandler oder Eddie Murphy seit Jahrzehnten Gebrauch machen – 100 Millionen Dollar für allenfalls passable Comedy-Blockbuster zu verpulvern, die leidlich unterhalten, im Anschluss aber sofort wieder vergessen sind. Solange solche Großproduktionen Risiko-Investitionen darstellen, werden weibliche Comedians in etablierten Franchises eher als homöopathisch verabreichte Verjüngungskur toleriert. Phoebe Waller-Bridge durfte am Drehbuch des James-Bond-Requiems Keine Zeit zu sterben (2021) mitschreiben und zuletzt die müden Knochen von Indiana Jones vor sich hertreiben; mit ähnlichen Kurzauftritten haben auch Kate McKinnon, Audrey Plaza oder Tiffany Haddish aufhorchen lassen.Wer sich schon von solchen Cameos abwendet, der wird sich nicht zum Einfallsreichtum der ,funny women‘ bekehren lassen, denen die Zukunft gehört. Er wird auch nicht der schallend lachenden Roseanne Barr ins Gesicht schauen können, die über zehn Staffeln den Vorspann der nach ihr benannten Serie beschloss. Ihr Beispiel könnte Hélène Cixous im Sinn gehabt haben, als sie in den 1970er-Jahren in einem Essay das Gelächter der Medusa beschwor, vor dem viele zurückschrecken. Cixous ermutigt uns, der lachenden Medusa ins Gesicht zu schauen – sie kann uns einiges über uns selbst beibringen.

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Barbiecore und der Kampf gegen das Patriarchat: Trägt die neue feministische Welle pink?

von Katharina Walser

“Wie Barbie zur feministischen Ikone wurde”, erklärt ein Artikel im Icon. Dass der Barbie Film in der Mode noch “Spuren hinterlassen” werde, mahnt ein Artikel in der Annabelle an, und “Warum Barbie und Pink jetzt als Feminismus-Symbole gefeiert werden” will das Emotion-Magazin erklären. So oder so ähnlich stand es in den vergangenen Monaten in zahllosen Artikeln in Lifestyle-Magazinen, Feuilletons und Newslettern. Die oft wiederholten Kernaussagen all dieser Texte wirken erst einmal simpel, aber einiges daran lohnt einen zweiten Blick. Am vordergründigsten die folgenden zwei Behauptungen: (1.) die zeitliche Chronologie und logische Kausalität “Barbie-Film führt zu Mode-Trend” und (2.) Greta Gerwigs kinematografischer Ausflug in Barbies Traumland ebenso wie der Modetrend selbst seien feministisch. 

Schauen wir uns das Ganze genauer an: Was war zuerst da? Die Barbiecore-Henne oder das Barbie-Film-Ei? Und was genau ist an beiden potenziell “feministisch”? Und zuallererst: Was um alles in der Welt ist eigentlich Barbiecore?

Wurzeln des Barbiecore im “Dopamin Dressing” und Y2K Revival

Wer den Begriff “Barbiecore” als Hashtag bei TikTok eingibt, stellt fest, dass es zu dem Schlagwort die absurde Zahl von über 500 Millionen Aufrufe gibt. Schnell erfasst man die große Palette an Produkten, die sich hinter dem Mode-Trend verbirgt: von knallpinken Kleidern über durchsichtige Plastik-Accessoires, Glitzer-Schuhen im Mules Stil (das sind die Peep-Toe-Pumps, die hinten wie ein Flip-Flop offen sind) bis hin zu allen anderen Kleidungsstücken, die geradewegs aus der Garderobe der ikonischen Plastik-Puppe stammen könnten. Aber man findet auch Beauty Trends wie den “Barbie Girl Blush” (eine sanft-pinke Rouge-Tönung) oder die “Barbie Nails”, die mal mit aufgesetzten Perlen-Details, mal mit aufgeklebten Barbie “B’s” vor allem dem Motto folgen: make it pink and make it bright! 

@namvoglow

Please @Fenty Beauty bring back this beautidul barbie pink cream blush! #barbiemakeupchallenge @Yada Villaret #barbiepink #namvoglow #dewydumplings #pinkcreamblush

♬ Puff – Hany Beats

Aber ist der Trend, der so augenscheinlich die Ästhetik der Barbie-Puppe imitiert, wirklich eine direkte Folge auf Greta Gerwigs Barbie-Film, in dem wir Margot Robbie, Ryan Gosling und Co. durch eine detailreich inszenierte Spielzeuglandschaft wandeln sehen – unbiegsame Plastikwellen und abgehobene Fersen inklusive?

Ganz so einfach ist es mit keinem Modetrend. Denn Trends werden nicht einfach so geboren, sie sind lang gewachsene und kompliziert verwobene Netze des Zeitgeistes. Natürlich stimmt es, dass die Ankündigung des Barbie-Filmes im Juni 2022 wie ein Brennglas auf alles pinke und glitzernde funktionierte. Das schweizerische Lifestylemagazin Annabelle berichtete etwa, dass nach der Veröffentlichung des ersten Trailers laut der Shopping-App Lyst die Suchanfragen nach Mules, um 115 Prozent und die Anfragen nach pinker Mode um 80 Prozent höher waren als noch am Vortag. Die Google-Suche zu Haar-Blondierungen habe sich außerdem über Nacht verdreifacht. Und trotzdem – kein Trend der Welt kann so schnell durch eine Filmankündigung hochkochen, wenn er nicht schon vorher vor sich hin gebrodelt hatte.

Und es brodelte auch vor Trailer-Release stark im Barbie-Dreamland – sowohl bei Content-Creator:innen in den sozialen Medien als bei den Houte-Couture-Schauen einiger Luxus-Labels, die ihre Frühjahrs-/Sommer-Kollektionen 2022 der pinken Renaissance widmeten. Wohl mit am eindrucksvollsten ist die Valentino “Pink PP Collection”, für die ein individueller Pink-Ton entwickelt wurde, den es so nur bei Valentino geben sollte. Wer High-Fashion-Fashion-Schauen eher weniger verfolgt, erinnert sich vielleicht trotzdem an Florence Pugh, die bei der Vorstellung der Kollektion in Rom in einem transparenten pinken Tüll-Traum auftauchte (und daraufhin in den sozialen Medien für ihre Freizügigkeit angegangen wurde). 

Ähnliche Entwürfe sah man auch bei Chanel, Marine Serre, Versace, Moschino oder Pucci und die pinken Designs hatten schnell weitere prominente Schirmherrschaft, mit Sängerin Lizzo, die das Valentino Pink auf Instagram bewarb, oder Kim Kardashian, die sich (zugegebenermaßen pünktlich zum Trailer-Release) im Juni 2022 in einem pinken Ganzkörper-Anzug auf rosafarbener Satin-Bettwäsche räkelte. Sängerin Dua Lipa – die dem Soundtrack zum Barbie-Film ihre Stimme leiht und auch einen Cameo Auftritt im Film selbst hat – hat mit Donatella Versace im Rahmen ihrer “La Vacanza” Kollektion einen Bikini entworfen, der Barbie neidisch machen würde, und Hailey Bieber ist quasi seit einem Jahr eine wandelnde pinke Werbetafel. 

Da man die Barbie-Ästhetik nun so häufig sieht, vergisst man auch schnell, dass sie absolut kein neues Phänomen ist. Schließlich hat Moschino bereits 2015 den Barbie-Style im Rahmen der Frühjahr/Sommerschauen neu zum Leben erweckt und prominente Frauen wie Britney Spears oder Paris Hilton haben aus dem Barbie-Image schon in den 2000er Jahren Ruhm und finanzielle Imperien aufgebaut. Allerdings wurden sie dabei entweder abschätzig belächelt oder als nicht ernstzunehmende, kurzweilige popkulturelle Referenz abgetan (wie bei Moschino). Woher kommt nun also das Überschwappen vom Laufsteg zu TikTok, Instagram und den High-Street-Retailern der Welt? Denn der Barbiecore-Trend gewinnt dieses Jahr auch deshalb so richtig an Fahrt, weil die pinken Glitzerteile längst nicht mehr nur bei Valentino und anderen Luxusmarken zu kriegen sind, sondern auch bei H&M, Asos, Zara und Co. 

Der endgültige Durchbruch des Barbiecore-Trends ist, wie eigentlich alle Trends, dem richtigen Timing geschuldet. In diesem Fall spielen auch Post-Pandemie-Trends – Stichwort “Dopamin Dressing” – und das Y2K-Revival der Gen Z eine elementare Rolle. Aber auch die über Jahre erstarkte feministische Debatte um stereotypisierte Weiblichkeit.

“Dopamin Dressing” ist schnell erklärt: Nach den extrem auf Reduktion ausgerichteten Mode-Bewegungen während der Pandemie – wir erinnern uns an einen Einheitsbrei von farblich zusammenpassenden Loungewear-Twinsets in Beigetönen und farblose Trends wie die monochrome “Vanilla Girl Ästhetik” inklusive Nude-Make-up und “natürlich” gesträhnten Blondtönen, die 2021/2022 überall zu sehen war – folgte nach der Pandemie, wie es einige Modeexpert:innen bereits prophezeit hatten, die Rückkehr auf die Laufstege und das Street-Style-Leben mit einem Knall: sowohl farblich als auch, was die ausladenden, asymmetrischen Schnitte und hypertransparenten Stoffe anging. 

Beinahe gleichzeitig entdeckte die Gen Z die Mode der Nullerjahre wieder für sich: enge Croptops zu Baggy Jeans kamen zurück, genauso wie Hüftketten, Strassverzierungen und lange Baguette-Taschen. Also eigentlich alles, was Carrie Bradshaw in den ersten drei Staffeln “Sex and the City” getragen hatte.

Und, was Spears und Hilton um die Jahrtausendwende auf dem roten Teppich zeigten. Barbiecore ist quasi die unausweichliche Folge aus beiden Trendbewegungen. Und wie bei jedem Revival kommt es zu einer Umdeutung einiger Bestandteile des ursprünglichen Trends. Im Falle des Barbiecore ist es die Dekonstruktion seiner vermeintlichen Banalität und angeblich fehlenden Authentizität.

Die feministische Rückeroberung des Glamours

Wie funktioniert das feministische Rebranding des Barbiecore Trends, von dem TikTok- Creator:innen und Modeketten sprechen? Antworten findet man bei unserer lokalen Schirmherrin des Barbiecore – quasi bei unserer “Spitzenreiterin” (so auch der Titel ihres Romans) des pinken Trends: bei Autorin Jovana Reisinger. 

Nicht nur das Cover ihres aktuellen Buches “Enjoy Schatz”, eine kluge Verwebung der Themen Lust, Kapitalismus und Patriarchat, leuchtet strahlend pink,  auch im semi-privaten Raum auf Instagram und bei Lesungen lebt die Autorin den “Tussi-Lifestyle”, wie sie selbst sagt. Dass Tussi und Barbie nur zwei Begriffsseiten derselben Medaille sind, zeigt Reisinger schon durch die synonyme Verwendung des Begriffs in ihrem Text “Die subversive Kraft der Tussi, oder: In Barbiecore gegen das Patriarchat” für Vogue Germany. Darin erklärt sie, worin die empowernde Kraft eines Lifestyles zwischen gemachten Nägeln, blondierten Haaren und Glitzer-Tops liegen kann. Nämlich in der Rückeroberung eines misogyn gelabelten, “hyperfemininen” Looks. Es ist höchste Zeit, denn Reisinger zeigt in ihrem Text, wie unhaltbar und verheerend die Vorstellung ist, jemand, der:die dem klassischen “Tussi-Bild”entspreche, könne nicht clever, weltgewandt und interessant sein und zeigt deutlich, dass sich hinter dieser Parallelisierung in den letzten Jahrzehnten eine große antifeministische Agenda versteckte.

Aber sie zeigt ebenso auf, dass ein großes Potenzial darin liegen kann, auf diese Weise unterschätzt zu werden und zitiert am Ende ihres Essays eine befreundete Schriftstellerin, die ihr gesagt habe, “harmlos eingeschätzt zu werden, hat auch seine Vorteile – die wissen gar nicht, wie ihnen geschieht, wenn wir sie zerlegen.” Die, das sind diejenigen, die Profit daraus schlagen, Ästhetiken, die als “typisch weiblich” gelabelt werden,  abzuwerten. Die moderne Barbie zelebriert also den Glamour neu, den das Patriarchat ewig als “unauthentisch”, “hohl” und “fake” gelabelt hat – vielleicht nicht als Rache, aber doch als Abrechnung mit diesem unterkomplexen Stereotyp. Fun Fact Nummer 1: Glamour ist ursprünglich ein Begriff, mit dem unredliche Zauber oder Hexereien bezeichnet wurden, und ist somit geradezu prädestiniert misogyn besetzt zu werden. Fun Fact Nummer 2: 1993 vertauschten US-amerikanische feministische Aktivist:innen in verschiedenen Spielzeugläden die Stimmen der Barbie-Puppe mit der im Inneren der Militär-Action-Figur G.I. Joe, woraufhin Barbie auf Knopfdruck ​“vengeance is mine” rief. 

Barbie als Antitypus des Pick-Me-Girls

Barbiecore ist, wenn man ihn denkt wie Reisinger, auch die ultimative Versöhnung mit allen Britneys und Parises, die nicht nur von Männern im Patriarchat abgewertet wurden, sondern auch von Frauen, die zu lange versucht haben, dem Male Gaze gefällig zu sein. Hier kommt die dritte Säule ins Spiel, die der Rückkehr des Barbiecore mit seiner neuen politischen Schlagkraft die Bühne bereitet hat. Nämlich die Debatte um eine der größten Antagonistinnen der vierten feministische Welle: das Pick-Me-Girl. 

In feministischen Kreisen, die sich aktiv den Schnittstellen von Kapitalismuskritik und Patriarchatskritik widmen, steht das Pick-Me-Girl synonym für eine Ellenbogen-Kultur mancher Frauen, die sie anwenden, um innerhalb eines patriarchalen Systems nach oben zu kommen, statt dieses selbst zu unterwandern. Typische Sätze des Pick-Me-Girls sind: “Ich bin nicht wie andere Frauen”, “Ich kann viel besser mit Männern, die machen weniger Drama” oder auch: “Eine Frauenquote finde ich unnötig – wer sich anstrengt kann alles schaffen”. Das Pick-Me-Girl ist der Antityp zu solidarischen Bewegungen und die (weibliche) Galionsfigur der Hustle Culture. 

Barbiecore entfaltet also feministisches Potenzial, indem die Träger:innen mal ernsthaft, mal spielerisch in alle Klischees eintauchen, die das Pick-Me-Girl ablehnt – inklusive pinker Stilettos und Gespräche über das beste Maniküre-Studio.

Der Barbiefilm als kapitalistische Vermarktungsmaschine

Und wenn wir schon bei Kapitalismuskritik in Verschränkung mit Feminismus sind, sind wir auch schon bei Greta Gerwigs Barbie-Blockbuster, beziehungsweise bei der nicht so leicht zu beantwortenden Frage, inwieweit in ihm feministisches Potenzial steckt. Vorneweg: ein Film ist niemals feministisch. Er kann feministische Figuren inszenieren, er kann sicherlich auch im Plot feministische Fragen verhandeln und implizit feministische Aussagen über das Schicksal seiner Figuren treffen – aber der Film selbt, insbesondere einer in der Größe wie Gerwigs “Barbie”, ist in erster Linie eine Vermarktungsmaschine. In diesem speziellen Fall vielleicht eine der besten Film-Vermarktungsmaschinen aller Zeiten. Inklusive Barbie-Filtern, mit dem jede:r Instagram-User:in eine individuelle Selfie-Version der Film-Poster erstellen kann, einem pinkes Dreamhouse, das Airbnb-Gäste ein paar Wochen vor Film-Release plötzlich in den Inseraten in Malibu entdeckten und legendären Press-Tour-Looks von Margot Robbie, deren Stylist für jede Premierenfeier ein anderes Outfit rekreierte, das die echte Barbie-Puppe in der Vergangenheit trug. 

Diese extreme Anstrengung, ein signifikantes popkulturelles Erlebnis zu schaffen, das über den Film hinausweisen soll, ist kein Wunder, bedenkt man, dass Mattel – der Spielzeughersteller der Barbie-Puppe – nicht nur Rechte für den Film freigegeben hat, sondern diesen initiiert und gesponsert hat. Mattel verfolgt mit dem Barbie-Film ein zeitgemäßes Rebranding seiner Puppen mit ökonomischem Kalkül. Ein Fakt, der spätestens nach einem Artikel des Time Magazine klar wird, das von Mattels Plänen berichtete, nach Barbie auch Polly Pocket, He Man und andere Plastik-Figuren aus dem Spielzeughaus ihren Weg auf die Leinwand finden.

Die Anstrengungen, Barbie wieder populär zu machen, leistet der Hersteller bereits seit 2014. Zuvor hatte das Unternehmen Rekord-Tiefs in seinen Umsatzzahlen verzeichnet – nicht zuletzt aufgrund von umfassender Kritik an dem problematischen Body/Diversitäts-Image, das die weiße, normschöne, dünne, cis-Puppe verkörpere.   Es folgten Schwarze Puppen, behinderte Puppen, Plus-Size Puppen, und jetzt eben ein Film, der von vornherein wusste, was er zu tun hatte, um als zeitgemäß zu gelten. 

Allen voran Greta Gerwig als Regisseurin einzusetzen, denn schon lange bevor der Trailer zum Film erschien, waren sich Content-Creator:innen in den sozialen Medien und Greta-Fans einig: der Film würde eine feministische Botschaft haben. Schließlich sei die Frau am Werk, die mit dem emanzipatorischen Coming-of-Age Film Lady Bird und der Neuerzählung des Historiendramas Little Women als Erfolgsgeschichte einer jungen Autorin, bekannt wurde. 

Auch die Plakate der Barbie-Film sprächen für eine feministische Botschaft, hieß es von allen Seiten. Diese zeigten nämlich nicht nur die verschiedenen Body-diversen Schauspieler:innen, die unterschiedliche Barbie und Ken-Versionen verkörpern sollten, von einer Schwarzen Schauspielerin zu einer trans Frau – sondern konzentrierten sich auch auf die Bewerbung des wohl feministischen Attributs der originalen Barbie-Puppe. Ihre Karriere. So waren die Protagonist:innen auf den Postern alle von ihrer (sehr angesehen) Berufsbezeichnung begleitet. “This Barbie is a doctor” (Hari Nef), “This Barbie has a Nobel Prize” (Emma Mackey), “This Barbie is a diplomat” (Nicola Coughlan). Die Ken Poster hingegen waren begleitet von den Phrasen “He is just Ken”, “He is also Ken”, “He is ken, too”. Es sei der ultimative Kommentar darauf, dass Ken schon immer bestenfalls ein menschliches Accessoire für Barbie war, während diese in ihrem langen Puppenleben schon in über 200 Karrieren brillierte. Als Astronauten-Barbie von 1986, als Piloten-Barbie 1991 oder als Sportlerin bei den olympischen Spielen 2001. 

Eines hat das Marketing in jedem Fall geschafft: Einen Hype kreiert – ob es darum ging, dass Personen in den sozialen Medien teilten, welches ihre erste Barbie war, oder Kolleg:innen in der Kaffeeküche davon sprachen, was sie zur Premiere tragen würden. Ein Hype der durch die Oppenheimer/Barbie-Memefication zu Barbenheimer (beide Filme wurden auf den 20.07. geplant) nur noch größer wurde. 

Aber kann eine Verfilmung, die bereits im Vorfeld so viel Erwartungen entfacht hat, das Versprechen des Barbiecores einlösen, wenn sie die Barbie bereits auf den Plakaten ausgerechnet als Girl Boss (übrigens die Schwester des Pick-me-Girls) und Ken als bloßes Beiwerk inszeniert, wo doch das neue Pink – zumindest im echten Leben – nicht nur eine Befreiung von veralteten Bildern zu Weiblichkeit sein soll (niemand muss mehr Anwältin, Mutter und Model zugleich sein), sondern darüber hinaus alle Formen von binären Genderstereotypen unterlaufen soll. Auch, und vielleicht sogar allen voran, die Vorstellung von Maskulinität. Denn das ist es schließlich, was die Idee des Pick-me-Girls aufrechterhält. Barbiecore ist Teil dieser unterlaufenen altmodischen Männlichkeit, ob in Harry Styles plüschiger Bühnenästhetik oder als Daniel Craig, der zur letzten Bondpremiere in einem fuchsiafarbenen Samtanzug erschien. Nicht zuletzt deshalb ist die Gleichsetzung des Barbiecores mit der Hyperfeminität, die man nun in zahlreichen Rezensionen liest, unzureichend.

Ab hier Spoiler-Warnung zum Film.

Ken muss also mindestens mit der Inszenierung seiner reinen Männlichkeit hadern, wenn Greta Gerwigs Film zeitgemäßen Feminismus porträtieren will. Und der Film muss clever mit dem Übertritt in die “echte Welt” arbeiten, den Barbie vollziehen muss, nachdem sich ihre Fersen absenken und sie plötzlich – statt wie sonst elegant schwebend – plump von ihrer Veranda neben ihr Cabrio zu Boden fällt. So verkündet es ihr zumindest die “weird Barbie”, die die Rolle eines Orakels einnimmt. Barbie müsse nun wählen, heißt es, zwischen ihrem alten, sorglosen Leben im Barbie-Matriachat (sie hält symbolisch einen pinkfarbenen Stiletto in die Höhe) und der Rettung des Mädchens, das im echten Leben (symbolisiert durch eine dunkelbraune Birkenstock-Latsche)  mit ihr spiele. Denn die seltsamen Vorkommnisse samt flacher Fersen, seien ein unweigerliches Indiz, dass es besagtem Mädchen im echten Leben nicht gut ginge. 

David Pfeifer vermutete bereits im September 2022 in der SZ, was hinter diesem Plot-Kniff stecken könnte: “Barbie muss Barbieland aufgrund ihrer Makel verlassen und stellt in der echten Welt fest, wie wenig äußere Schönheit bringt, wenn es drinnen nicht stimmt.” Das wäre – nicht nur für die Idee des Barbiecores, sondern auch aus feministischer Sicht – mehr als enttäuschend in seinem über simplifizierten Gegensatz von äußerer Ästhetik und inneren Werten. Und zum Glück kommt es im Film auch nicht zu dem vereinfachten Dualismus zwischen echter Welt und Barbieland – ebenso wenig, wie er sich darauf festnageln will, dass Barbie eine feminstische Heldin ist. 

Noch keine drei Minuten des Films sind vergangen, da hört man bereits Helen Mirren als Erzählerin sehr überspitzt formulieren, dass Barbie wirklich jedes Problem gelöst habe, das Frauen in der realen Welt so haben. Und wir gehen mit diesem schmunzelnden Bewusstsein in den Film, dass Barbie vielleicht eine Idee sein kann, aber eben auch nicht mehr als das. Unter diesen Vorzeichen begleiten wir sie dabei, wie sie in der echten Welt auf den CEO von Mattel und Entscheidungsträger über die neuen Barbies trifft, die auf den Markt kommen sollen und der es nicht für nötig erachtet, Frauen in seinem Führungsstab zu haben. Wir sehen, wie Ken in der echten Welt zum ersten Mal den für sich süßen Nektar des Patriarchats schmeckt – und ihn direkt mit ins Barbieland nimmt, um mit allen anderen Kens eine cowboyeske Parallelgesellschaft zu erschaffen. Und wir sehen, wie Barbie Barbieland von den Einflüssen der echten Welt wieder befreien will. 

Ob diese echte Welt gerettet wird, darum ging es nie – ebenso wenig darum, dass Barbie ihren Glamour ablegen muss, um das Patriarchat zu bekämpfen. Vielmehr war es die Rettung von Barbieland und der Idee Barbie, der sich “Stereotypical Barbie” annehmen muss, um dem sehr natürlichen, ernüchternden Prozess des Erwachsenwerdens als Frau entgegenzutreten. Sehr im Modus des Kindes auf der Schwelle zum Jugendalter ist es schließlich der Gedanke an den Tod, der Barbies erste Verbindung mit der echten Welt eröffnet, in der die Männer regieren und die Erfinderin der Barbie, Ruth Handler, nur noch in einem abgeschiedenen Zimmer in der Traumfabrik Mattel an einem kleinen Küchentisch vor sich hin denkt. 

Barbie als feministische Befreierin hat in diesem ernüchternden Prozess keinen Platz mehr, das macht ihr das Mädchen in der echten Welt schnell klar, die schon seit Jahren nicht mehr mit Barbie spiele, ebenso wie die Idee der reinen Männlichkeit, nicht mit Barbieland vereinbar ist, in dem nach der patriarchalen Kenifizierung Präsidentinnen-Barbie, Nobel-Preis-Barbie und Co. nur noch eisgekühlte Getränke servieren. Man ahnt es bereits in den ersten Szenen, lange vor dem finalen Kampf, der eigentlich ein Dance-Battle der Kens ist, dass in der Befreiung der Kens ein zentraler Schlüssel der neuen Barbie-Idee liegen muss, die zu Beginn des Filmes nur dann zusammenkommen, wenn es darum geht, Macht gegeneinander zu markieren. Der andere elementare Bestandteil der Überdauerung der Barbie-Idee kommt, wie sollte es auch sonst sein, von der einzigen Person in der Geschichte, die noch aktiv mit Puppen spielt, ihre Geschichten weiterdenkt und Barbie in ihren Mode-Skizzen neue Kostüme zurechtschneidert. Ihr Vorschlag: die Entwicklung einer “ordinary barbie”, die, so die menschliche Protagonistin des Filmes, einfach nur durch ihren Tag kommen will, vorzugsweise in einem cuten Top – also quasi die Anti-Girl-Boss-Barbie. Das ist alles sehr viel besser als die Vorstellung, dass Barbie in der echten Welt erkennen muss, dass ihre Barbie-Welt nichts als Schaum und Traum ist – und es wäre der natürlichen Bewegung von Kindheitsträumen und dem Identifikationsspiel mit Puppen auch nicht gerecht. 

Wenn der Film allerdings dieselbe Bewegung machen würde, wie der Barbiecore Trend, dann wäre es nicht Barbieland, was gerettet werden müsste, sondern es wäre Barbie, die, mit all ihrer Widersprüchlichkeit und pinkem Glitzer, die echte Welt rettet. Und Barbie würde, wenn sie sich zuletzt entscheidet, lieber in der echten Welt zu leben, auch nichts von ihrem Glitzer oder Make-up einbüßen müssen, wie sie es leider im Film letztlich tut. Über diese Enttäuschung tröstet dann leider auch nicht mehr das verkitschte Gespräch mit Ruth Handler hinweg, die ihr Dea ex Machina nach der Rettung des Barbielands begegnet, um ihr die Absolution zu erteilen, ein ordinäres Leben mit all seinen Höhen und Tiefen in der echten Welt zu leben. Nicht nur wird in dieser Szene ein durch und durch unangenehmer Mutter-Komplex auf den Plan gerufen, das Publikum wird außerdem noch einmal daran erinnert, dass der Film, so viel an ihm in feministischer Hinsicht aufgehen mag, auch zur aktiven Neuschreibung der Firmengeschichte Mattels durch die Inszenierung der Gründerin als sanftmütige Gerechtigkeitskämpferin dienen soll. 

Zumindest rettet “Steretypical Barbie” – im Kollektiv mit den anderen Barbies wohlgemerkt – Barbieland vor den Einflüssen des Patriarchats, das Ken aus der echten Welt miteingeschleppt hat. Die Erkenntnis, die das Kenoversum schließlich zum Bröckeln bringt, besteht darin, dass Ken (oder die Männlichkeit) nicht als Einheitsbrei funktionieren muss, sondern von der Vielzahl der individuellen Kens lebt, die die Kenergy aktiv selbst gestalten können. Und ganz am Ende bekommen die Barbiecore-Feminst:innen doch noch ein kleines metaphorisches Versöhnungsgeschenk-Geschenk in der echten Welt, wenn die ursprüngliche Wahl zwischen pinken Stilettos und Birkenstocks in Margot Robbies letztem Kostüm des Filmes in pinkfarbenen Glitzer-Latschen aufgelöst wird. Ganz so als sollten wir mit der Botschaft den Kinosaal verlassen, die auch Barbiecore mitliefert, nämlich dass wir – die Feminist:innen der Gegenwart – uns nicht entscheiden müssen zwischen einem glamourösen Leben und dem politischen Kampfgeist – beides geht zu gleichen Teilen und miteinander vielleicht sogar noch besser als vorher.

Foto von Avinash Kumar auf Unsplash

Eine kurze Geschichte des Nicht-Schreibens – Mit Tillie Olsen

von Katharina Walser 

Ich sitze hier und warte bis meine Großmutter aus dem MRT kommt. Vor einigen Wochen war sie in Kroatien gestürzt. Den Bus wollte sie erwischen, um von ihrer älteren Schwester, die sie dort zeitweise pflegt, nach Hause zu fahren. Der Bus fährt nur ein paar mal am Tag von der dalmatinischen Hafenstadt ins kleine Dorf im Hinterland und sie war spät dran, ist zu schnell gelaufen, über ihre eigenen Sandalen gestolpert und der Länge nach hingefallen. Für einen Sturz Mitte 80 ist es “gut” gegangen, “nur” die Hand war gebrochen. Aber nun war die ewige Kümmerin selbst verletzt und musste dorthin kommen, wo sich andere noch um sie kümmern konnten. Zu uns nach Deutschland. 

Ich warte bis die Untersuchungen gelaufen sind und ich zurück ins Arztzimmer kommen kann, um zu übersetzen. Auf meinem Schoß liegt ein Rezensionsexemplar der deutschen Erstübersetzung von Tillie Olsens gesammelten Essays Was fehlt (Ü: Nina Frey & Hand-Christian Oeser), ein Buch, auf das ich lange gewartet habe. Es ist ein Montag im September 2022, 7 Uhr morgens – der einzige Termin, der in der Radiologie zu kriegen war. Bis wir wieder gehen können, ist es 10 Uhr, bis ich sie nach Hause gebracht habe, 12 Uhr, bis ich zurück an meinem Schreibtisch bin, 14 Uhr. Statt zu arbeiten, rufe ich meine Mutter an, um ihr von Großmutters Zustand zu berichten und zu planen, wer diese Woche wann vorbei fahren kann, um einzukaufen, zu kochen, zu putzen. Ich mache in dieser Woche 15 Minusstunden bei der Lohnarbeit. Wie viele Minusstunden ich an meinen Texten mache, weiß ich nicht, denn fürs Schreiben werde ich meist nicht bezahlt. Für mein Schreiben habe ich kein Log-in-System oder Urlaubstage. Ich schreibe nach der Arbeit abends, am Wochenende und manchmal, wenn ich sonst nicht dazu käme, auch in der Mittags-”Pause”. Wenn die Care-Arbeit dann noch hinzukommt, die sich nicht auf Wochenendtage oder Mittagspausen verschieben lässt, schreibe ich wochenlang gar nicht und bereue Rezensionen zugesagt zu haben, als die Care weniger war und meine Naivität groß. 

Die Personen, die durch die Strukturiertheit unserer Lebens-und Arbeitswelt – in diesem Fall den Strukturen des Literaturbetriebs und den Bedingungen für freie Autor:innenschaft – auf verschiedenste Weise vom Schreiben abgehalten werden oder es nur durch einen sehr beschwerlichen Weg schaffen, sind Olsens Gegenstand: “Schreibende einer Klasse, eines Geschlechts oder einer Hautfarbe, die in der Literatur nur am Rande vertreten sind – für sie ist eine erschöpfende Leistung, trotz verschwindend geringer Chance eine ‘schriftliche’ Stimme gefunden zu haben.” Dieses, wie Olsen es nannte, “Schweigen der Marginalisierten”, das eintritt, wenn bestimmte Personen nicht mehr oder nur sehr wenig schreiben können,  ist ein vielfältiges, denn die Unterdrückungsmechanismen, die verschiedene gesellschaftliche Stimmen klein halten, sind mehrfach miteinander verschränkt. Auch, wenn sie den Begriff noch nicht nutzen konnte, Olsen wusste sehr genau von dieser Mehrfachdiskriminierung. Sie widmete sich in ihren Essays und Vorträgen auch durch ihre eigene Perspektive als Mutter und postmigrantisches Arbeiterinnenkind, vor allem den ineinandergreifenden Geschlechts- und Klassen-Diskriminierungen, die an diesem “unnatürlichen Schweigen” in der Literatur partizipieren.

Doch welche Umstände braucht es, um in dieser versteinerten literarischen Umwelt Fuß zu fassen? Mit einem Blick in Notizen und Tagebücher bekannter Schriftsteller:innen, unter anderem Henry James, Thomas Mann, Joseph Conrad, Virginia Woolf, Katherine Mansfield oder Rilke, zeigt Olsen, dass es vor allem die Freiheit von Care-Arbeit, die Geschlechtszugehörigkeit und die finanziellen Mittel sind, die zum Schreiben ermächtigen. So regelte eine “stille, wachsame, unermüdliche Liebe” Joseph Conrad im Hintergrund seines Schaffens den gleichmäßigen Ablauf seiner Tage. Ruhe und Stille braucht es im Sinne dieser großen Literat:innen, um zu schreiben, dieses “unbegrenzte Alleinsein“, das Rilke suchte. Im Umkehrschluss ist für diejenigen, für die diese Ruhe nicht möglich ist, die Kümmernden, ein Schreiben also nicht möglich, oder zumindest nicht in dem Maß, das es braucht, um große Erfolge und Quantität in Produktion zu liefern. 

Wenn ich mit Kolleg:innen aus nicht-migrantischen Familien spreche, die ebenso um meine angesammelten Minusstunden wissen wie ich, heißt es oft, ob die Oma denn nicht alleine zum Arzt gehen könne, das sei doch nicht “meine Aufgabe”, sie zu all ihren Terminen zu begleiten. Und ich denke daran, wie einseitig Care selbst in vermeintlich feministischen Kreisen immer noch gedacht wird. 

Es fehlt ein breiterer Begriff von Care-Arbeit. 

Immerhin gibt es langsam überhaupt einen Begriff, mit dem die Arbeit bezeichnet wird, die auf Gehaltszetteln unsichtbar bleibt, die Zuhause und in Familien geleistet wird –  einen Begriff für die Pflege, die Betreuung, die emotionale Arbeit und den mental load. Und es gibt eine immer weiter erstarkende öffentliche Debatte darum, wie diese Care- mit 40h Lohnarbeit zusammenfinden soll. 

Für die Zunft der Schreibenden, haben sich in den vergangenen Jahren Anthologien wie Schreibtisch mit Aussicht und Autor:innenkollektive wie writing with CARE/RAGE oder otherwirtersneedtoconcentrate mit dieser, wie die Journalistin Mia Latkovic es in ihrer aktuellsten Newsletter-Folge benennt, “VerKeinbarkeit” von Schreiben und Care auseinandergesetzt. Vor allem mit der Doppelrolle, die gerade schreibende Mütter zu stemmen haben und mit die auch Olsen primär beschäftigte. 

Diese Debatte wird zurecht geführt, denn die geleistete Care ist auch in Deutschland und auch in den 2020ern in keinster Weise gendergerecht verteilt. Bleibt die Debatte jedoch dort stehen – das wird mir bei den Kommentaren meiner Kolleg:innen aufs Neue bewusst – denkt sie bei weitem nicht alle Menschen mit, die täglich Care leisten, ebenso, wie sie diverse Familiengefüge ausblendet, in denen kreuz und quer Sorgearbeit stattfindet. “Care” scheint für viele weiterhin synonymisch mit “Elternschaft”. In postmigrantischen Familien beispielsweise, wird Care jedoch nicht vorwiegend linear “abwärts” von Eltern zu Kindern, sondern ebenso “aufwärts” von Kindern zu Eltern, Großeltern und “horizontal” zu Geschwistern geleistet. Das liegt zum einen daran, dass in vielen (post-)migrantischen Familien weniger die Konzepte einer reduzierten Kernfamilie gelebt werden (können), aufgrund von fehlendem Wohnraum und den ökonomischen Hürden von externen Pflegeeinrichtungen. Es liegt aber auch daran, dass Kinder für ihre Eltern oft die sprachlichen und organisatorischen Sparings-Partner:innen bleiben, wenn es um Behördengänge, Arztbesuche oder andere Termine geht, bei denen Sprachbarrieren und Bürokratiemauern überwunden werden müssen. 

Das soll nun nicht heißen, dass die Texte, die sich der besonderen Aufgabe der schreibenden Mutter widmen, heute weniger relevant seien, nur, dass unter Umständen die postmigrantische alleinlebende Autorin ohne Kinder, die für ihre Familie verantwortlich ist, Pflege betreibt oder ihre Arbeitszeit in Wartezimmern verpasst, weniger zum Schreiben kommt als die nichtmigrantische Mutter, deren Schreiben und Sorgearbeit in einer Partnerschaft stattfindet, durch die ein familiäres Grundeinkommen bereits gesichert ist.

Olsen hat bereits darauf hingewiesen, dass Diskurse um Mutterschaft nicht ohne Fragen der Klassenzugehörigkeit diskutiert werden können. So bleibt sie in ihrer Untersuchung nicht bei der bloßen Erkenntnis stehen, dass die herausragenden Werke des 20. Jahrhunderts vor allem von kinderlosen Frauen stammen Gertrude Stein, Edith Wharton, Virginia Woolf, sondern verwies zudem darauf, dass diejenigen Frauen, die trotz Mutterschaft literarische Erfolge feierten, schnell zu zählen seien und vor allem: beinahe alle Bedienstete hatten. Konsequenterweise müssen Care-Arbeits-Diskurse heute (wo wir schon beginnen darüber zu sprechen, dass die Abgabe von Care an ökonomisch schlechter gestellte Frauen, keinen inklusiven Feminismus voranbringt, sondern eine “Girl-Boss” Strategie verfolgt) deshalb auch diejenigen mitdenken, die sowohl Brotjobs als auch eigene Care jonglieren müssen und nicht nur immer wieder von den prekären Arbeitsbedingungen im Literaturbetrieb zum Schweigen gebracht werden, sondern “im Vorfeld” schweigen. Über diejenigen, die nicht einmal vom Schreiben träumen können, da ihr Alltag von der Aufrechterhaltung der Grundsicherungen bestimmt wird und/oder von der Übernahme der Care besser gestellter Schreibender. 

Es fehlt eine differenzierte Verwendung des Begriffs “Brotjob”

Auch, dass das Schreiben oft von einem Brotjob begleitet wird, findet langsam aber sicher einen Platz in öffentlichen Debatten, um die Funktionsweisen des gegenwärtigen Literaturbetriebs. Sammelbände, wie Brotjobs & Literatur, Monographien wie Caroline Amlingers Schreiben, aber auch Einzelbeiträge in Zeitschriften, wie Johannes Franzens Beitrag zur Merkur Ausgabe im Februar ‘22 mit dem Titel Das liebe Geld, Literatur und Autonomie-Ideologie diskutieren, zeigen, wie verwoben und vor allem abhängig die Arbeit Schreibender mit anderen Erwerbstätigkeiten ist. Sei es zusätzlich auf Lesungen fahren müssen, Unterricht in kreativem Schreiben zu geben oder aber einer mit dem Schreiben gänzlich unverwandter Tätigkeit nachgehen, um die Lebenshaltungskosten zu decken, während Vorschüsse zu gering ausfallen oder Artikel-Aufträge ausbleiben. 

Diese Veröffentlichungen und die zu ihnen parallel geführten Debatten in den sozialen Medien leisten ihren Beitrag dazu, das romantische Bild aufzubrechen, eine Person könne heutzutage einzig und alleine vom Schreiben leben. 

Leider laufen diese Debatten zuweilen auf Abwegen, wenn so manche:r etablierte:r Autor:in auch dann von “Brotjobs” spricht, wenn die gemeinten Nebentätigkeiten überhaupt nicht mehr dazu sind, lediglich das Brot leistbar zu machen. Jobs etwa, die eine Verwandtschaft zum Schreiben haben, sei es das Übersetzen, das Lektorieren oder das Redigieren, sind zwar Tätigkeiten, die nicht im engsten Sinne das eigene Schreiben am Text betreffen, aber sehr wohl Arbeiten an der eigenen Rolle innerhalb des Literaturbetriebs sowie an den eigenen Fähigkeiten darstellen. Diese Nebenerwerbe stehen deshalb, selbst wenn sie das ökonomische Kapital aufbessern, nicht “neben” dem Schreiben, wie es etwa der Job hinter der Theke tut und sind so ein klarer Vorteil für Schreibende, wo der Erfolg im Literaturbetrieb, wie Olsen schreibt, in hohem Maße vom kameradschaftlichem Umgang, vom “Klima innerhalb literarischer Kreise” abhängt. Diese Tätigkeiten, die das Klima für einige Teilnehmer:innen am Literaturbetrieb verbessern, mit den branchenfernen Arbeiten unter dem Begriff Brotjob diskursiv in einen Topf zu werfen, verschleiert die Ressourcen, die es braucht um diese Jobs in der Branche zu bekommen – ebenso wie die Ressourcen, die die Ausübung dieser Tätigkeiten wiederum schafft. Vielleicht könnten wir anfangen, bei solchen Nebentätigkeiten von Kuchenjobs zu sprechen. 

Meine Lohnarbeit ist nicht wirklich verwandt mit dem Schreiben, auch wenn ich dort ab und an etwas auf-schreiben soll. Unter anderem deshalb, weil die Vergabe all dieser Jobs, die es wären, immer noch in hohem Maße an Praktika-Erfahrung geknüpft sind – also an unbezahlt abgegoltene Monate, die ich mir während des Studiums schlicht nicht leisten konnte – und an die Kontakte, die währenddessen entstehen. Also arbeite ich neben dem Schreiben etwas, für das es keine Rolle spielt, ob ich Kommunikationswissenschaften studiert hätte, oder, wie es tatsächlich ist, einen Masterabschluss in Literaturwissenschaft habe – solange bis die dort erworbenen Fähigkeiten hoffentlich irgendwann die fehlenden Praktika aufwiegen werden und ich sie mit in den Literaturbetrieb nehmen kann. 

 Es fehlt ein transparenter und antiklassistischer Umgang mit den Produktionsbedingungen von Texten sowie der Besetzung literaturbetrieblicher Stellen

Womit ich mein Geld verdiene, war lange kein Gesprächsthema, wenn ich mit anderen Schreibenden ins Gespräch kam. Schon alleine deshalb, weil ich viele Jahre dachte, es ginge nur mir so. Denn, ungeachtet dessen, dass die Rede von Brotjobs größer wurde, gewisse Jobs haben in Kreisen bürgerlicher Autor:innen und Journalist:innen weiterhin einen schlechten Ruf, insbesondere diejenigen, die ihre Marktzugehörigkeit schlechter verschleiern als der Literaturbetrieb.

Online-Marketing ist ganz sicher einer dieser Jobs. Denn irgendwie hält sich, trotz all der Beiträge in den vergangenen Jahren, die auf das Gegenteil verweisen, nach wie vor der Gedanke, dass das Schreiben eine Tätigkeit sei, die unabhängig von den Imperativen der Verwertbarkeit funktionieren sollte, fern vom schmutzigem Kapitalismus und denjenigen, die dir “nur” etwas verkaufen wollen – Kunst der Kunst wegen. Welch kapitalistischen Maschinen Literaturverlage und große Tageszeitungen sind, scheint sich leichter ignorieren zu lassen als eine Anzeige, die ich für meinen Arbeitgeber in den sozialen Medien schalte. Und selbstverständlich gibt es hinter dieser bewussten Ignoranz Menschen, die von ihr profitieren. Denn die Aufrechterhaltung dieses Mythos zur “Berufung”, die man nur aufgrund von ideellen Ansprüchen ausübt, vereinfacht die Rechtfertigung schlechter Gagen im Journalismus oder Verlagswesen –  schließlich mache man das ja gerne und nicht fürs Geld. 

Bevor Olsen an einem Spätsommertag in einem zu hellen Wartezimmer auf meinem Schoß lag, in der Hoffnung ich würde an diesem Tag endlich mehr als zehn Seiten am Stück lesen, hatte ich das Rezensionsexemplar schon dabei, als ich mich für den Sommerurlaub nach Kroatien aufmachte. Die Urlaubspläne, in meinem Fall Was fehlt fertig lesen und eine Bewerbung für ein Schreibseminar fertig stellen, wichen auch dort schon der körperlichen wie emotionalen Care, die mit einem Besuch in der zweiten Heimat immer einhergeht. Erst in späten Abendstunden habe ich versucht, die losen Fragmente, die ich bisher für dieses größere Schreibprojekt sammeln konnte, in ein Exposé für einen Roman zu pressen. Die Romanform war die Voraussetzung für die Teilnahme an besagtem Schreibseminar. 

Auch das Zögern, das ich empfinde, zu dem zu stehen, was dieses “Schreibprojekt” einmal werden soll (dieses allumfassende Schaudern bei dem Begriff “Buch”) hat etwas mit dem verstummen verschiedener (potenzieller) literarischer Stimmen im Laufe der Zeit zu tun. Denn um es überhaupt zu versuchen mit dem eigenen Schreiben, braucht es ein gewisses Gefühl von entitlement, also das Gefühl, dass die eigene Stimme es wert ist gehört zu werden.  “Wie viel doch nötig ist. Um zu schreiben […] wie viel Überzeugung von der Wichtigkeit des eigenen Wortes, des eigenen Rechts, es auszusprechen. [Schwer genug für jeden Mann, der nicht in eine Klasse hineingeboren wurde, die solches Selbstbewusstsein züchtet. Fast unmöglich für ein Mädchen, eine Frau.”, schreibt Olsen. Mein Schreibprojekt ist kein Roman, ich weiß, dass es nie einer sein wird. Ich tue dennoch so, weil ich 28 bin. Was mein Alter damit zu tun hat? Wer als Autor:in ein Stipendium ergattern will, fällt unter 30 in das Raster der Jungautor:innen, an das eine Vielzahl von Fördermöglichkeiten gebunden sind. Idealerweise verlegt man also vor 30 seinen ersten größeren Text bei einem Publikumsverlag, um sich jenseits der 30 auf Töpfe für bereits verlegte Autor:innen zu bewerben. 

Es fehlt eine inklusive Förderkultur. 

Bereits seit einiger Zeit wird zu diesen teils sehr eingeschränkten und in diesem Fall sogar adultistischen (diskriminierend aufgrund des Alters) Förderkriterien Kritik laut, wie im April 2022, als die Ausschreibung für den Wortmeldungen-Förderpreis der Crespo Foundation auf Instagram und Twitter für Aufsehen sorgte. Auch hier sollten ausschließlich Autor:innen unter 30 gefördert werden. Veränderung passiert jedoch trotz der Kritik nur langsam. Alleine deshalb, weil die Situation so prekär ist, dass es Schreibenden gar nicht möglich ist, sich bei bestimmten Förderern, deren Werte sich nicht mit den eigenen decken, nicht zu bewerben. Es ist die “Verzweiflung, die in dem sonderbaren System des bloßen Existenzminimums, das wir uns für unsere Kunstschaffenden ausgedacht haben, jene Berge von Bewerbungen um Stipendien der Stiftung […] erklärt”, schreibt auch Olsen. 

Als ich die Bewerbung für das besagte Schreibseminar abschickte, wusste ich bereits, dass ich meinen Text zu etwas zurechtgeschnitten hatte, das er nicht war. Denn das lineare Schreiben passt weder zu dem Thema meines Schreibprojekts, in dem es primär um die Unzuverlässigkeit von Familienerinnerungen geht, noch zu meinem Alltag. Wie lange müsste man am Stück am Schreibtisch sitzen, um etwas Zustande zu bringen, in dem am Ende mehr als zehn Seiten kohärent zusammen gehören sollen? Vielleicht gibt es auch Textformen, die sich mit der Care-Arbeit und dem eigenen ökonomischen Stand schlechter vereinbaren lassen, als andere. Vielleicht braucht man für manche Textformen mehr Zeit und “Fülle des Ichs”, das ganz bei sich und dem eigenen Schreiben sein? Wie die Autorin Julia Wolf in ihrem Vorwort zu Was fehlt, frage ich mich auch: “welche anderen literarischen Formen entsprechen meinen Lebensumständen vielleicht besser als der viel beschworene “große Wurf” des Romans?”.

Dass ich nach meiner Rückkehr aus Kroatien eine Absage für das genannte Schreibseminar im Briefkasten hatte, überraschte mich nicht weiter, schließlich war es nicht mehr mein Text, den ich da in meiner „Förder-Panik“ einreichte. Aber über die Schreib-Form(en), die einem unterbrochenen Alltag möglicherweise gerechter werden als der Roman, über die dachte ich noch lange nach. 

Noch vor dem Sommer war ein Text von mir und einer lieben Co-Autorin erschienen, der ein schriftlicher Dialog über unsere soziale Herkunft ist. Wochenlang haben wir uns in einem Google-Doc mal lange Briefe, mal fragmentarische Notizen hinterlassen, bis wir 90 Seiten über Klassendiskriminierung, Antislawismus und Bildungsaufstieg gefüllt hatten. Es hätte bei diesen emotionalen und großen Themen ein beschwerliches Schreiben sein können, und war doch eines der leichtesten – auch, weil es nicht nur aus mir selbst heraus produziert werden musste. Wenn ich nach Tagen ohne zu schreiben in das Doc zurückkehrte, war da immer etwas, das wartete: ein Impuls, eine Frage, ein Widerspruch, etwas, das mir half anzuknüpfen, schneller aus einem unterbrochenen Alltag zurück ins Schreiben zu finden, als die gähnende Stille im alleinigen Schreiben. Das gemeinsame Schreiben half uns “das Genie [in uns zu] töten”, ein Akt, den Julia Wolf als obligatorisch sieht, wenn Care-Arbeitende unter jetzigen Bedingungen des Literaturbetriebs schreiben wollen. Nach diesem dialogischen und impulsiven Schreiben wieder alleine an etwas zu arbeiten, wie eine simple Rezension, fühlte sich an wie durch ein schunkelndes Fahrwasser zu navigieren, der mein Alltag ist – in dem es nicht leistbar ist, als “Insel” zu schreiben. Ein Alltag, in den ein lineares Schreiben, langes Schreiben, tiefes Schreiben einfach nicht hineinpasst. 

Mittlerweile war es Herbst und ich hätte immer noch einige Wochen gehabt, um die Rezension pünktlich zum Erscheinungsdatum der deutschen Erstübersetzung von Olsens Silences zu schaffen. 

Doch zwischen den weiter folgenden Arztterminen, Gips-Wechseln, Nachsorge und dem panischen Nacharbeiten der immer weiter steigenden Minusstunden auf meinem Arbeitszeitkonto im Herbst ‘22 werden zwei wichtige literarische Preise vergeben und ich ärgere mich mehr über Geschriebenes als dass ich selbst schreibe. Zuerst geht der Literaturnobelpreis an die französische Autorin Annie Ernaux. Man freut sich in einem Teil der Inklusion fordernden Literatur-Blase: eine Frau, die über gesellschaftliche Tabus wie Schwangerschaftsabbrüche schrieb, ein Arbeiterinnenkind dazu, hat nicht nur eine Stimme, sondern internationale Anerkennung gewonnen. Man freut sich aber nur solange, bis man sieht, was Teile des konservativen Feuilletons zu ihr zu sagen haben. Es scheint mehr über ihre Statur und ihre Wirkung als Frau zu lesen zu sein, als über ihre Texte. Da war ich kurz der Illusion verfallen, Nicole Seiferts Frauenliteratur hätten nun auch alle Kritiker:innen gelesen und so etwas sexistisches und vor allem werkfernes traue sich niemand mehr. Hoffnungslos naiv zu glauben, alle hätten die wichtigen Thesen eines Buchs verinnerlicht, das 2020 Jahr erschienen ist – wo doch Tillie Olsen bereits in den 70ern schrieb: “Selbstzweifel; all jene Stunden, in denen die eigene Ernsthaftigkeitt hinterfragt, sich über das eigene Aussehen verrückt gemacht, die Konzentration in Fetzen gerissen wird, bis nichts bleibt […], da nur das für schätzungswert gilt (und ist), was auf Männer attraktiv wirkt.” Wenn man nun Denis Scheck liest, der Annie Ernaux als erotische und zugleich fragile Pippi Langstrumpf beschreibt, scheinen Texte wie Norman Mailers misogyne Reklame für mich selber kaum ein paar Tage alt zu sein. Immer noch geschieht also, was auch Olsen beobachtete: “die abschätzige Reaktion auf ein Buch nicht aufgrund seiner Qualität oder seines Inhalts, sondern aufgrund der bloßen Tatsache, dass es von einer Frau verfasst wurde”.

Alles, was Olsen über Frauen schreibt, müsste man heute für alle marginalisierten Gruppen schreiben. 

Denn kurz nach dem Gewinn für Annie Ernaux gewinnt Kim del Horizon mit Blutbuch den deutschen Buchpreis. Ein Text über eine nicht-binäre Erzählfigur, die ihr familiäres Trauma zum Thema macht, von einer nicht-binären schreibenden Person. Es ist ein historischer Gewinn mit einer eindrücklichen, medienwirksamen Performance bei der Verleihung, die Kim mit einer Rasur der eigenen Haare und einer politisch engagierten Dankesrede den protestierenden, inhaftierten und ermordeten Demonstrierenden im Iran widmet. Auf Social Media lassen die Vorwürfe nicht lange auf sich warten. Schnell wird infrage gestellt, ob das Buch denn auch “gut” sei, oder schlicht aufgrund seiner politischen Aktualität gewonnen hätte – oder schlimmer noch: weil sich das Gremium lediglich möglichst divers präsentieren will. Und auch Besprechungen verschiedener Feuilletons beleben daraufhin die alte Debatte von “Qualität vs. Identitätskultur” wieder. Ich erinnere mich an Miryam Schellbach, die bereits früher im Jahr zur Verleihung des Bachmann-Preises, gegen diese ewige Diskussion schlicht festhielt, dass im Grunde jede Literatur immer Identitäten verhandele und es sich deshalb hierbei um einen konstruierten Scheinwiderspruch handelt, der gerne von all denjenigen politisch instrumentalisiert wird, die in der Literatur gerne alles beim alten belassen wollen. 

Die Frage von “was fehlt”, heißt im Umkehrschluss vielleicht auch: was ist zu viel? 

Beiträge, die diesen Scheinwiderspruch künstlich am Leben halten, sind – im Vergleich zu sogenannten “identitätspolitischen Texten”, die vermeintlich den Buchmarkt dominieren, in jedem Fall zu viel. Vielleicht kommt das von Florian Kessler im Oktober 2022 herausgegebene Hanser Akzente Heft zur Frage “Was ist gute Literatur” genau zum richtigen Zeitpunkt – nicht weil sich nicht auch hier unter den vielzähligen Autor:innen, die in dem Band auf Kesslers Frage antworten, akademisierte und zum Teil sicher auch limitierende Antworten gegeben werden, sondern aufgrund der Diversität der Antworten, die in ihrer Fülle wieder einmal das literaturkritische Kriterium “Qualität” als ein durch und durch prekäres Instrument zur Kunstkritik entlarven. Olsen fand diesen Gegensatz “Identität” vs. „Qualität“ ebenfalls zu unterkomplex und zitiert in ihrem Essayband Virginia Woolfs Vorwort zu So haben wir gelebt: Englische Arbeiterinnen erzählen, die darin schreibt: “Ob das Literatur ist oder nicht, maße ich mir nicht an zu entscheiden, aber dass es viel erklärt und viel enthüllt, ist gewiss.”

Worauf Olsen schlicht hinzugefügt: “Literarische Größe […] steckt auch in dem, was viel erklärt und viel enthüllt (was zugleich der Nährboden für große Literatur ist).” Und auch einen weiteren relevanten Punkt setzt Olsen bereits vor 50 Jahren der Ecke des Feuilletons entgegen, in der regelmäßig behauptet wird, es sei nun auch einmal gut mit der “Migrationsliteratur” und den anderen Marginalisierten-Geschichten, da Inklusion doch ohnehin langsam erreicht sei, nämlich der Hinweis auf ein weiteres Schweigen in der Literaturgeschichte: “dem Schweigen nach dem ersten Buch”. 

Inwiefern wir uns also mit Ehrung, wie der von Kim, wirklich auf einem Weg zu mehr Inklusion befinden, bleibt in den kommenden Jahren abzuwarten. Bis dahin bleibt klar, dass, solange Rezensierende und Redakteur:innen, wie zuletzt Joachim Scholl vom Deutschlandfunk Kultur im Gespräch mit dem Verleger Jo Lendle, bei einem Autorin:Autor-Verhältnis in den Frühjahrsvorschauen 2023 des Hanser Verlags bei 8:14 den Eindruck haben, das seien ja “fast 50%” bleibt Olsens Text hochaktuell, denn: “selbst ein Verhältnis von eins zu sechs oder eins zu fünf würde nicht Grundlegendes ändern. Jedes Verhältnis außer eins zu eins fordert die Frage hinaus: Warum?”. Wenn wir nun Abstand davon nehmen, das Teilhabe-Problem lediglich als gender-binäres zu begreifen, muss die Feststellung heute jedoch leicht abgewandelt werden: 

Jedes Verhältnis außer jenes, das unsere diverse Gesellschaft prozentual abbildet, fordert die Frage hinaus: Warum?

Ich habe Was fehlt nach dem vierten Arztbesuch mit meiner Großmutter beinahe fertig gelesen, meine Minusstunden im Job traue ich schon gar nicht mehr ansehen, aber geschrieben habe ich meine Rezension immer noch nicht. Dafür füllt sich nebenher die Notizen-App in meinem Handy mit weiteren Themen und Artikel-Drafts, die ich umsetzen könnte, wenn ich den Olsen Text irgendwann fertig geschrieben habe. Zwischendurch überlege ich, ob ich einfach eine Kolumne mit dem Titel “5 Texte, die ich diesen Monat fast geschrieben hätte” starten soll, einfach um irgendetwas mit diesen hoffnungslos optimistischen Ideen zu tun, die ich auf-schreibe, wenn ich nicht schreibe. 


[Fertiggestellt wurde der Text nun letztlich nur aufgrund „gewonnener“ Zeit durch eine Erkrankung und eine damit verbundene “Arbeitsunfähigkeitsbescheinung”. Oh the irony]

Foto von Christin Hume auf Unsplash

Der Tampon in der geballten Faust

von Any Woman

Während ich schreibe zieht der Schmerz am hinteren Bein entlang bis in den Fuß. Er kommt unterwartet und wirft meinen Atem aus seinem Rhythmus. Ich mag nicht Luftholen, will nur warten, dass er sich verzieht, dieser Schmerz, der ruhelos durch meinen Körper wandert. Ich liege im Bett, im Rücken eine Wärmflasche, eine auf dem Bauch, zwei Paracetamol und einen Krampflöser im Magen, ich habe trotzdem Schmerzen. Meine Brüste tun wegen der Wassereinlagerungen schon seit Tagen weh. Dann diese Müdigkeit, das Gefühl, jemand drücke langsam die Luft aus mir heraus, wie aus einem labbrigen Ballon, der im Gebüsch vor dem Standesamt auf sein Ende wartet.

Dazu kommen die extrem starken Blutungen. Ich benutze die größten Tampons, die es gibt, häufig reichen sie dennoch nicht, dann wache ich in einer Blutlache auf. Neuerdings wecken mich an schlimmen Tagen meine Schmerzen auf, manchmal auch mehrfach in einer Nacht. Ich bin Menstruations-Profi, ich kenne alle Tricks der Schmerzbekämpfung, besitze eine Ansammlung von Wärmflaschen, für den Notfall habe ich Tabletten vom Hexenschuss aufgespart, die den Schmerz nicht an das Gehirn melden. Ich weiß auch genau, wann das Zeitfenster ist, wenn Selbstbefriedigung den Schmerz lindert und Krämpfe löst. Das Glück, sich für einen Moment von der dauernden Anspannung zu lösen. Manchmal muss man dafür teuer mit neuen, intensiveren Krämpfen bezahlen.

Nach zwei bis drei Tagen normalisiert sich alles wieder, die Wassereinlagerungen verschwinden. Meine Menstruation ist so verlässlich wie unzuverlässig. Sie richtet sich nicht nach der Norm von 28 Tagen und ob ich am dritten Tag wieder mein Leben, mein Arbeiten wieder aufnehmen kann, entscheidet sich spontan. Heute ist der dritte Tag und ich möchte eigentlich nur schlafen und kitschige Filme gucken. Seit einiger Zeit beginnen die Blutungen gerade dann, wenn ich sie gar nicht brauchen kann: unmittelbar vor Vorträgen, an wichtigen Arbeitstagen, bei Familientreffen und natürlich bei Dates. Verlässlich sind nur die wiederkehrenden Schmerzen, die Mengen an Blut, die Muskelbewegungen aus meinem Körper pressen. Verlässlich ist auch die Sorge, der Tampon, die Menstruationstasse sei voll, der Weg zur nächsten Toilette zu weit. An den ärgsten Tagen bin ich am liebsten in der Nähe meiner eigenen. Seit einigen Jahren arbeite ich in einem neuen Gebäude mit neuen, sauberen Toiletten, zum ersten Mal in meiner über 30jährigen Menstruationskarriere.

Als der Hausarzt vor einiger Zeit Eisenmangel bei mir feststellt, schickt er mich ohne Absprache zu einer Magen- und Darmspiegelung. Meine Großmutter hatte Darmkrebs, ich bin panisch. Mit dem Darm ist alles in Ordnung, aber meine Monatsblutungen sind in den letzten Monaten noch viel extremer. Ich schlafe nachts mit einem Handtuch zwischen den Beinen. Danach fragt mich meine Hausarzt aber nicht, obwohl es bei Eisenmangel bei Frauen meines Alters absolut naheliegend ist. Mein neuer Hausarzt will später wissen, warum ich in meinem Alter denn schon eine Magen- und Darmspiegelung hinter mir habe. Als ich ihm den Grund nenne, zuckt er mit den Achseln, die Menstruation hätte man eben nicht so im Blick. Jede vierte Person auf der Welt menstruiert regelmäßig, also im Schnitt auch ein*e von vier Patient*innen. Wieso hat man das als Allgemeinmediziner nicht im Blick?

Ich brauche schnell einen Termin und gehe zur Vertreterin meiner Gynäkologin. Nach der Untersuchung sieht sie ratlos aus, denn in meiner Gebärmutter haben sich mehrere Myome ausgebreitet. Sie sind für die starken Blutungen verantwortlich. Krebs könne sie weitgehend ausschließen, um sicher zu sein, müsse man aber ein MRT machen, sagt sie. Dafür bekomme ich frühestens in drei Monaten einen Termin. Ich entscheide mich für eine Operation. Bis zur OP sieben Wochen später begleitet mich die Aussicht auf Krebs, ich schiebe sie weg. Die neue privaten Krankenversicherung stuft mich derweil als Risikopatientin ein: wegen der Myome und wegen der Magen- und Darmspiegelung.

Die Myome lasse ich mir in einer Klinik entfernen, die auf Spätgebärende spezialisiert ist, denn ich will meine Gebärmutter behalten. Dafür muss ich kämpfen, denn ich bin Mitte 40 und da braucht man die Gebärmutter ja nicht mehr. Mit einer Hysterektomie sind Frauenärzte noch immer nicht zimperlich, der angeblich inklusive Begriff „Menschen mit Uterus“ hat medizingeschichtlich einen höchst bitteren Beigeschmack und braucht ganz dringend Ersatz. Myome sind gutartige Gewächse, sie wachsen besonders in der fünften Lebensdekade, man muss ihretwegen keine Organe entsorgen, die keineswegs nur einer Schwangerschaft dienlich sind.

Bei der OP werden sie zertrümmert, in einem von tausend Fällen ist es doch Krebs, dessen Zellen man dann im ganzen Körper verteilen würde, werde ich vorab informiert. Ob ich nicht doch eine Hysterektomie vorzöge. Auch die mich behandelnde Ärztin mault beim post-operativen Gespräch, was der Erhalt denn solle, bei der Diagnose. Das nächste Mal müsse sie dann aber raus, raunt sie. Das nächste Mal, denke ich, bin ich privat versichert und dann operiert mich deine Chefin. Erst nach Weihnachten erfahre ich, dass der histologische Befund unauffällig ist. Die ersten drei Perioden nach dem Eingriff sind erfreulich unauffällig, danach ist alles wieder beim Alten und schlimmer.

Ich hätte gern ein Gesetz wie in Spanien, das Krankheitstage für Menschen mit Hypermenorrhoe und anderen starken Menstruationsbeschwerden vorsieht. Dann müsste ich nicht immer vortäuschen, an etwas anderem erkrankt zu sein, wenn ich vor Schmerzen kaum aus dem Bett komme oder panisch bin, bei der Arbeit so starke Blutungen zu haben, dass ich es nicht mehr bis in die nächste öffentliche Toilette schaffe, es alle mitbekommen. Ich würde gern sagen können: ich kann nicht zur Arbeit kommen, weil ich mich vor Schmerzen winde, nicht zuhören kann und mich fühle, als rausche die ganze Welt durch mich hindurch. Stattdessen melde ich mich zwei Tage krank, am dritten dann wieder gesund, dann benötige ich keinen Nachweis und keinen Arzt. Das tun zu können, Zugang zu Hygieneprodukten, Schmerzmitteln und Krankentagen zu haben, ist ein Privileg, ich weiß.

Überhaupt fällt es so schwer, Worte zu finden für das Menstruieren, in ein Gespräch über dessen Beschwerlichkeiten zu kommen. Wie oft habe ich von Frauen gehört „Damit habe/hatte ich ja keine Probleme“, wenn ich gesagt habe, es geht mir nicht gut. Es ist mir unangenehm, deshalb bei der Arbeit zu fehlen. Ich bin ja eigentlich nicht krank, müsste das doch aushalten können. Andere gehen dann schließlich zum Bouldern. Öffentlich macht uns das Menstruieren ja allen nichts aus, wir sind leistungsstark und machen in dieser Zeit Sport und alles andere wie immer, so will es das Werbenarrativ der Hygieneindustrie. Ich freue mich für alle, denen es so geht. Ich aber bin jedes Mal erleichtert, wenn ich am Wochenende menstruiere, wenn es privat ist, in meiner Komfortzone.

Das Thema ist so voller Scham, nur ein funktionierender Unterleib ist ein erzählbarer Unterleib. Dem erhofften Liebhaber kann ich nicht sagen, dass meine Gebärmutter voller Myome steckt, obwohl ich es ihm gern sagen können würde. Wie ich gerade das Organ verteidigen muss, mit dem ich ihn gern in entfernte Berührung brächte, warum ich mehr behalten will, als nur meinen Gebärmutterhals. Der wird nämlich auch deshalb stehen gelassen, damit er den Beckenboden stabilisiert. Einem anderen guten Freund kann ich nie sagen, wie es mir wirklich geht, beschreiben, was mit mir passiert, stattdessen fasele ich von „Frauenleiden“ oder „Wärmflaschentagen“ und bin wütend auf mich selbst. Nur mit den engen Freundinnen war und ist es anders.

Die weitgehende Sprachlosigkeit begleitet mich schon seit Periode Eins. Meine erste Monatsblutung habe ich im Krankenhaus, nach einer Routineoperation erlebt. Vollkommen unerwartet wache ich im Bett voller Blut auf, es dauert ewig, bis ich frische Kleider und neue Bettwäsche bekomme. Ich bekomme Krankenhausbinden, die ständig verrutschen. Niemand redet mit mir, fragt mich, wie es mir geht. Ich habe mir das schon gedacht, sagt die Krankenschwester bedeutungsvoll zu meiner Mutter, als sei sie eine Expertin für meinen Körper. Ich bin bei meiner ersten Periode schon 14 und spät dran. In der Schule hat fast niemand Worte für das, was jeden Monat mit uns allen passiert, was einige von uns aus der Bahn wirft, quält.

Ich hatte lange nicht verstanden, warum man nicht schwimmen oder beim Sport mitmachen kann, weil die Tante zu Besuch ist, warum das Wort Periode oder Menstruation so unaussprechlich ist, selbst in der Mädchenumkleide. Tampons reichen wir uns heimlich weiter, in der geballten Faust oder hinter dem Rücken, so als würden wir Drogen verticken. Wenn wir eines brauchen, flüstern wir miteinander. Rollt der Tampon auf den Klassenfußboden, dann sind das Momente größter Scham, sogar heute ist es mir noch peinlich, wenn es mir etwa im Zug passiert.

Wären Tampons in meiner Schule, an meiner Uni einfach auf den Toiletten öffentlicher Institutionen verfügbar gewesen, so wie es heute immer üblicher wird, hätte das meiner Generation vielleicht viel Scham erspart, ein anderes Sprechen ermöglicht, nicht nur in mit der besten Freundin, der das Gerede von der Tante zu Besuch auch zu blöd war. Dennoch: Ich habe diesen Text im Ordner privat gespeichert, ich habe ihn voll Sorge einer Freundin zum Lesen geschickt, ob sie meine Aufzeichnungen vielleicht völlig unpassend findet. Mein Name steht nicht darüber, denn ich will schließlich nicht vor allem die sein, die schlimm menstruiert. Vorerst bleibt der Tampon in der geballten Faust.

Titelfoto von Josefin

Weiblichkeit als Störfaktor – Marlen Haushofers Roman „Die Wand“

von Marierose von Ledebur

Marlen Haushofers Roman Die Wand (1963) ist ein feministisches Manifest. Weiblichkeit wird im Roman als ein Störfaktor dargestellt, der das Überleben der Protagonistin in der Wildnis erschwert. Hinter der durchsichtigen Wand gefangen, der Rest der Welt wie eingefroren auf der anderen Seite sichtbar, versucht die namenlose Protagonistin sich im Gemüseanbau, der Versorgung von einer Kuh, beim Holzhacken und Feuer machen, was nur dank ihres schätzungsweise fünf Jahre haltenden Vorrats an Streichhölzern machbar ist. Ihre typische Weiblichkeit, der im Roman geschilderten 1960er Jahre im gutbürgerlichen Österreich, ist zu Romanbeginn eine Schwäche, die sie nach und nach abstreift wie ein altes Kleid. Sie gewinnt mehr und mehr an Kraft und Fähigkeiten. Schließlich fühlt sie sich wie ein geschlechtsloses Wesen und ist eigenständig in der Lage, ihr Überleben jenseits der hinter der Wand eingefrorenen normierten Weiblichkeit zu sichern.

Den Störfaktor der Weiblichkeit in den 1960er Jahren, den Haushofer verarbeitet, hat die Anglistin Ina Schabert bereits 1999 in ihren Aufsatz „Das Literarische als Differenzkategorie“ als einen Störfaktor der Literatur geschildert. Schabert schreibt, dass die „Andersartigkeit“ der Weiblichkeit in der männlich geprägten Gesellschaft ein Störmoment in der Literatur schafft, was verändernd und gestaltend wirke. Ihr Text ist ein Plädoyer für Literatur aus weiblicher Perspektive, die als solche gelesen und in weiblich konnotierter Sprache rezipiert werden müsse.

Die Bedeutung von Geschlecht ist ein zentrales Thema in Haushofers Roman: „Die Fraulichkeit der Vierzigerjahre war von mir abgefallen, mit den Locken, dem kleinen Doppelkinn und den gerundeten Hüften. Gleichzeitig kam mir das Bewußtsein abhanden, eine Frau zu sein.“ Weiblichkeit nimmt die Protagonistin als negative Eigenschaften in ihrem alltäglichen Leben wahr. Sie erlebt ihre Unfähigkeit als Frau mit Arbeiten des häuslichen Alltags: „Ich bin […] kein Held und kein findiger Bursche. Ich werde nie lernen, mit zwei Stöcken einen Funken zu reiben oder einen Feuerstein aufzufinden, denn ich würde ihn nicht erkennen.“ Sie wurde auf die Erziehung von Kindern, die Pflege von alten und kranken Menschen sowie die Führung eines städtischen Haushalts vorbereitet. Vor der Wand hat sie unter Langeweile und Sinnlosigkeit ihres Lebens gelitten, nach der Wand an mangelnden praktischen Fähigkeiten, was ihr Überleben gefährdet.

Im Roman Die Wand emanzipiert sich die Protagonistin, soweit es ihren persönlichen Fähigkeiten nach möglich ist, von dem Rollenbild der Frau und dem gesellschaftlich vorherrschenden Verständnis von Weiblichkeit. Die schwere, männlich konnotierte körperliche Arbeit führt sie weitestgehend selbst durch. Mit der Zeit und der Notwendigkeit des Überlebens setzt sie sich über die Probleme hinweg, die ihr durch ihre ungleiche Erziehung und Lebenserfahrung zu eigen sind.

Sie ist froh, ein Leben ohne einen Mann zu führen. Zwar fehlt ihr die körperliche Kraft, sie hätte diese lieber selbst, anstatt dafür einen Mann umsorgen zu müssen. Die Kritik am patriarchalen System ist offensichtlich. Die Rollenaufteilung nach der gesellschaftlichen Normvorstellung der 1960er Jahre ist gesellschaftlich klar definiert und wird von der Protagonistin als nicht wünschens- und lebenswert empfunden. In der Utopie der kompletten Zerstörung der Gesellschaft durch die durchsichtige Wand lebt sie ein Leben fernab der Rollenzuschreibungen der heteronormativen Geschlechter. Der Schatten dieser begleitet sie als Spiegel der eingefrorenen, alten Welt hinter der Wand, die immer weiter verblasst. Die Natur erobert sich nach und nach ihr Reich zurück.

Marlen Haushofers Roman wurde 1983 wieder veröffentlicht und als feministisches Werk rezipiert. Gleichzeitig wurde Die Wand in den männlich dominierten Feuilletons der 1980er Jahren negativ bewertet. Ina Schabert hat diese Praxis scharf kritisiert. Sie sieht das Potential feministischer Literaturtheorie in der Aufgabe, in einer männliche geprägten Literaturtheorie weibliche Diskurse zu erforschen. Das Literarische sei eine Differenzkategorie und mit dem Medium der Literatur seien komplexe Diskurse differenziert darstellbar und wahrnehmbar. Diese Feststellung trifft auf Marlen Haushofers Roman und dessen Rezeption in den 1980er Jahren zu. Heutige Leser*innen profitieren von der jahrzehntelangen Forschung feministischer Literaturwissenschaft, die ein Bewusstsein für weiblich geprägte literarische Diskurse geschaffen hat. Haushofers Werk wird heute – unter anderem – aus feministischer und ökokoritischer Perspektive gelesen.

Im Manifest Feminism for the 99 Percent (2019) wird knapp sechzig Jahre nach Erscheinen von Marlen Haushofers Roman Die Wand dieser Störfaktor aus einer anderen Perspektive von Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser beschrieben. Das Manifest propagiert einen radikal neu gedachten Feminismus, der dem Kapitalismus und den daraus hervorgehenden geschlechtsspezifischen Unterschieden, Rassismus und dem Klimawandel den Kampf ansagt. Eine radikale Umstrukturierung des gesamten weltweiten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ist laut den Autorinnen von zentraler Bedeutung für die Menschheit.

Das feministische Manifest von Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser enthält elf Thesen und Erläuterungen, welche das kapitalistische Gesellschaftssystem kritisieren und die moderne Ausbeutung vieler Menschen aufgrund von Gender, Hautfarbe, sexueller Orientierung und gesellschaftlichem Status anprangern. Der Feminismus für die 99% fokussiere sich insbesondere auf die breite Masse an Frauen, die nicht aus weißen und ‚westlich‘-geprägten Gesellschaftsschichten kommen und keinen Lean-In-Feminismus verkörpern.

In dem zentralen Punkt einer Kritik an der sozialen Reproduktion liegt eine Parallele des gesellschaftskritischen Manifests mit Haushofers Roman: „the waged work of profit-making could not exist without the (mostly) unwaged work of people-making.” Frauen sei die Aufgabe der Produktion, Erziehung und Pflege der kommenden sowie der alternden Generationen sowie die Haushaltsführung historisch zugeordnet. Im kapitalistischen System gibt es jedoch keine klare Trennung zwischen ökonomischer Produktion und sozialer Reproduktion, wodurch ein Ungleichgewicht entsteht, da Frauen die doppelte Aufgabe einer ökonomischen als auch sozialen (Re)Produktion aufgebürdet würde. 

Die belastende Trennung der Sphären von Produktion und Reproduktion spiegelt Haushofer in Die Wand, indem sie die gesellschaftliche Struktur der 1960er Jahre hinterfragt. Ihr altes Leben, das sich um den Haushalt, die Kindererziehung und die Pflege ihres Ehemannes drehte, wird von ihr stets als langweilig und sinnlos empfunden. Sie fühlte sich unwohl in einer als falsch empfundenen Realität. In dieser Weltordnung war sie eine gefangene Frau.

Erst durch die Wand emanzipierte sie sich von dieser Gesellschaftsordnung und ihrer eigenen Rolle darin und kann dadurch ihr früheres Unwohlsein zuordnen. Dieser radikale Schnitt ist literarisch im Roman erfahrbar und spiegelt sich in den radikalen Thesen der Autorinnen des feministischen Manifests. Die gelebte Utopie von Haushofers Protagonistin, eines freien Lebens im Einklang mit der Natur, ist eine Parallele zur Utopie der Welt der Gleichheit, die im feministischen Manifest von Arruzza, Bhattacharya und Fraser formuliert wird. In diesen literarischen und politischen Utopien ist Weiblichkeit kein Störfaktor.

Foto von Stephan Seeber

Der Kulturmann revisited

von Ebba Witt-Brattström

aus dem Schwedischen übersetzt von Matthias Friedrich

Ebba Witt-Brattström, 1953 in Stockholm geboren, ist Literaturhistorikerin und Autorin. Zwischen 2000 und 2012 war sie als Literaturprofessorin mit dem Schwerpunkt Gender Studies an der Södertörns högskola tätig und von 2008-2011 als Dag-Hammarskjöld-Gastprofessorin an der HU Berlin. Von 2012 bis 2021 war sie Literaturprofessorin an der Universität Helsinki. Der folgende Text ist das erste Kapitel der Essay-Sammlung „Kulturmannen och andra texter“, die 2016 erschien. Der Text von Ebba Witt-Brattström war Teil einer ab 2014 in Schweden geführten Debatte um die Rolle des „Kulturmannes“ im Literatur- und Kulturbetrieb.

Der Kulturmann ist eine zähe, augenscheinlich nicht kleinzukriegende Figur. 2014 stellte Åsa Beckman, die Initiatorin der angeregten Debatte über den narzisstischen Künstlertypus, der das Kulturfeld dominiert, in der Zeitung Dagens Nyheter die These auf, der Kulturmann als unbestrittenes, stürmisches Genie befinde sich auf Talfahrt. Bald schon ging die Frage nach dem möglichen Verschwinden des Kulturmannes wie ein Lauffeuer durch Zeitungen und soziale Medien.

Nicht wenige Journalistinnen, die tagesaktuelle Beobachtungen des noch immer unter den Lebenden weilenden Kulturmannes zu bieten hatten, wiesen diese Behauptung von der Hand: Er dominierte Vernissagen, das kulturelle Treiben und Kneipengespräche, gabelte erfolgreich Frauen auf, die immer jünger wurden, zitierte unverdrossen und egoistisch sich selbst, während scharenweise Günstlinge seinen Ausführungen lauschten. 

„Zeit, nicht mehr mit ihm ins Bett zu steigen“, schrieb Lina Thomsgård in Aftonbladet. Zeit, ihn nicht mehr zu „bemuttern“, riet Elin Cullhed in Dagens Nyheter und verglich die Mechanismen, die eine fortgesetzte männliche Kulturdominanz sichern, mit einer „dysfunktionalen Heterobeziehung“. Ohne seine „Bücherhebammen“, ohne Verlagsredakteurinnen in „farbenfrohen Clogs“, die alles, was er so sagt, mit einem Lachen kommentieren, wäre er nichts. Das Jahr 2015 wurde mit einem Artikel der Göteborgsposten-Journalistin Malin Lindroth eingeleitet, die die Forderung aufstellte, dem „Pakt“ mit dem Kulturmann den Garaus zu machen. Zum damaligen Zeitpunkt beteiligten sich nur wenige Männer an diesem Diskurs. Ließen sie sich blicken, dann nur, um brüderliche Einmütigkeit zu bekunden. Zum Beispiel Bo Madestrand in Dagens Nyheter, wenn er einen deutschen Künstler – Sigmar Polke – als „waschechten Kulturmann“ beschreibt. Er, der „mit Wuschelfrisur und blutunterlaufenen Augen“ Drogen einwarf und sich in Südamerika und Pakistan „durchschlug“, scheint „ein Kerl gewesen zu sein, mit dem man sich amüsieren konnte“.

Am witzigsten und pointiertesten war das Manifest der jungen Poetry-Slam-Künstlerin Olivia Bergdahl in der gleichen Zeitung. Nach einer Liste mit den weniger schmeichelhaften Definitionen des Kulturmannes („ein charmanter Schuft“, „etepetete“, „konservativ“ usw.) mahnt sie an: „Lest feministische Literatur. Wenn ihr kulturell etwas erleben wollt, dann konsumiert jede zweite Frau und jeden zweiten Mann. Passt auf, welche Geschichten erzählt werden. Vergesst nicht, dass weitaus mehr Menschen eine Periode haben als einen kräftigen Bartwuchs.“

Åsa Beckmann meinte, der Attraktionswert des Kulturmannes liege in höchstem Maße in seinem künstlerischen Schöpfungsvermögen. Er besäße „eine Superkraft“, mit der sich seine Frauengeschichten in einen „formvollendeten Sonettkranz“ umwandeln ließen. Literatur und Kunst entfalten ihre Wirkung im Inneren, moralische Dimensionen ausgenommen. Aber gilt das nicht auch für Literatur und Kunst von Frauen? Folgen wir Olivia Bergdahls Empfehlung zur Bitextualität, erweist der Begriff der kulturellen Superkraft sich plötzlich als komplexer, wird er Ganz- und nicht Halbwissen.

Dann sticht übrigens auch ins Auge, weshalb der geschlechterdiskriminierende Tunnelblick, der den Werken des Kulturmannes zu eigen ist, so selten hinterfragt wird. Denn als Phänomen ist der Kulturmann eigentlich schon bis ins letzte Detail ergründet – gerade in der Literatur. Bereits seit dem modernen Durchbruch, als die Kulturfrau ihren geschlechtskritischen Blick in die Öffentlichkeit einbringt, sowas von ins Abseits verfrachtet.

Als Buhlapparat, „der seine Salonerfolge stolz zur Schau trägt“, wurde Georg Brandes, der intellektuelle Starmagnet der 1880er-Jahre, bereits in Victoria Benedictssons autobiographischem Werk Stora boken (Das große Buch) enttarnt. 1916 fertigte Edith Södergran ebenjenen Männertypus mit folgendem geflügelten Wort ab: „Du suchtest eine Frau und fandst eine Seele/Du bist enttäuscht“. In Selma Lagerlöfs Charlotte Löwensköld (Ü.: Paul Berf) und Anna Svärd, beide in den Zwanzigerjahren erschienen, begegnen wir dem Kulturmann in der Figur des Karl-Artur Ekenstedt, einem Pfarrer mit poetischer Ader. Dieser besitzt – ähnlich wie Gösta Berling – einen „hochbegabten und edlen Geist (…), der zukünftige Größe verheißt“, bis sein Hochmut ihn zu Fall bringt und ihn in einen beckmessernden, lallenden Marktplatzapostel verwandelt. In Stina Aronsons Feberboken (Fieberbuch, 1931) macht sich der Dichter Hugo (Artur Lundkvist) aus dem Staub, als die Kulturfrau Mimmi eine amor intellectualis einfordert.

In sämtlichen Gattungen ist der Kulturmann mit dem Maß der Frau gemessen und als zu leicht befunden worden. Man nehme sich Tove Janssons Persiflage männlicher Autobiographien vor, Muminvaters wildbewegte Jugend (1968, Ü.: Birgitta Kicherer) und überlege, wie elegant sie Muminvaters Selbstauffassung als Genie ins Lächerliche zieht: „Ganz allgemein hält man Genies ja für anstrengend und schwierig, ich selbst habe mich davon allerdings noch nie gestört gefühlt.“

In Märta Tikkanens weltberühmtem Gedichtzyklus Die Liebessaga des Jahrhunderts (Ü.: Verena Reichel) ist er der Ehemann, der versoffene einsame Wolf, der „an die Brillanz/atemberaubender Solopartien“ glaubt. In Schwindlerinnen (2011, Ü.: Hedwig M. Binder) beschrieb Kerstin Ekman geistreich und niederschmetternd die Kunst, sich als Frau fünf Jahrzehnte lang durch eine Kulturöffentlichkeit zu lavieren, die von „männlicher Selbstverliebtheit“ beherrscht wird. Hier wimmelt es von misogynen Kulturpersönlichkeiten, großspurigen Selbstbekennern, intellektuellen Möchtegernpäpsten, und in der Schwedischen Akademie von mehr als nur einem selbstgefälligen „Herrn“, der sich am wohlsten fühlt, wenn er „Frauen unterrichten“ darf.

2013 setzte Lena Andersson die Tradition mit dem Enthüllungsporträt des Hugo Rask fort, der „große visuelle Poesie“ schafft (Widerrechtliche Inbesitznahme, Ü.: Gabriele Haefs). Und da habe ich trotzdem nur einige wenige beliebige Beispiele aus der langen und unterhaltsamen Bildungstradition herausgegriffen, die die Anspruchshaltung des Kulturmannes auf Zugehörigkeit zu einer vermeintlichen gesellschaftlichen Oberklasse im Allgemeinen und auf Frauen im Besonderen auf den Prüfstand stellt.

Deswegen donnert sich der Kulturmann zum Riesen unter Zwergen auf. Er benötigt ganze Wagenladungen untergebener Adepten, die ihn unreflektiert nachahmen und ihn – um Lina Thomsgårds treffende Beobachtung einzubringen – zitieren, wenn er sich selbst zitiert. Als zusätzlicher maskuliner Beistand wird häufig ein Vertrauter zu seinem persönlichen Fahnenträger auserkoren. Karl Oves dienstwilliger Freund Geir in Knausgårds autofiktionalem Romanzyklus ist ein Beispiel hierfür. Oder Hugo Rasks merkwürdiger Gefährte Dragan, „inoffizieller Berater und Gesellschafter“. Zusammen ziehen sie als „Die 2“ eine Illusionsshow ab: „Seit Jahrzehnten saßen die beiden Kumpane Abend für Abend in Hugos Stammkneipen und sprachen über die Verkommenheit der Welt und was man dagegen unternehmen sollte.“ Lena Andersson überhöht diese Form der männlichen Freundschaft nicht, sie lässt Ester denken, Dragan sei abstoßend und hinterlistig. Gleichwohl aber ist er der beste Freund, und nur ihm teilt Rask seine wichtigsten kreativen Gedanken mit.

Sich ins Gespräch einklinken, das können Frauen sich aus dem Kopf schlagen. Das lässt sich dann so verstehen, als würden sie in ihrem Eifer, etwas herzumachen, zu viel reden, was Widerrechtliche Inbesitznahme auch zeigt. Die Frau hat die Funktion, stillschweigend die Rolle des Sexobjekts einzunehmen, sie muss als heterosexuelles Alibi herhalten für das hochgestimmte, inbrünstige Fühlifühl zwischen Männern, das Eve Kosofsky Sedgwick in ihrem Klassiker Between Men: English Literature and Male Homosocial Desire (1985) als homosoziales Begehren bezeichnet.

Dass sich der Kulturmann bei seinem Imageaufbau weiblicher Sexualobjekte bedient, war über lange Zeit der sprichwörtliche unsichtbare Elefant im Porzellanladen. Am allerschlimmsten ist die Verleugnung dann, wenn zur Aufrechterhaltung des männlichen Geniekults junge Mädchen missbraucht werden. 1979 wurde literarische Pädophilie urplötzlich zur schwedischen Hochkultur erklärt. In diesem Jahr erschien nämlich Stig Larssons Die Autisten, ein Roman, in dem sechzehn Nuancen eines Ichs Teenagern, gar einer Neunjährigen Gewalt antaten. (A. d. Ü.: Gemeint ist hier nicht  der weltberühmte Krimiautor, der 1954 in Skelleftehamn geboren wurde,  sondern der unbekannt gebliebene Regisseur, der 1955 in Skellefteå zur Welt kam.) Das Buch brachte es zu einem minor classic für aufstrebende Jungliteraten. Karl Ove Knausgård, der Larsson bewundert, debütierte 1998 mit dem Roman über die krankhafte erotische Obsession des Lehrers Henrik Vankel für die dreizehnjährige Mirjam (Aus der Welt). Und in Leben verknallt sich der Vertretungslehrer in seine dreizehnjährige Schülerin Andrea.

Nein, paranoid bin ich nicht, aber ich frage mich schon, welchen Zweck diese Dreizehnjährigen in der Literatur erfüllen. Sie üben ja bestimmt nicht bloß deshalb eine solche Anziehungskraft aus, weil sie so schutzlos sind. Claus Elholm Andersen, der die erste Doktorarbeit über Knausgårds Romanzyklus verfasst hat, meint, das Mädchen Andrea nehme – genau wie Karl Oves Frau Linda – den stummen Part in einer Dreiecksbeziehung zwischen Karl Ove und seinem allerbesten Freund Geir ein. („På vakt skal man være.“ Om litterariteten i Karl Ove Knausgårds Min kamp, 2015).

Diese Lesart hat ihre Berechtigung. Nachdem Karl Ove im zweiten Teil Norwegen verlassen hat und in Stockholm am Hauptbahnhof angekommen ist, schlägt sein Herz höher, als er auf dem Bahnsteig Geir erblickt. Die starke Anziehungskraft, die am ersten Abend zwischen den Seelengefährten besteht, blockt Geir mit einem Verweis auf Karl Oves sexuelle Beziehung zur Teenagerin Andrea ab. Zur gleichen Zeit, als Karl Ove in Stockholm seinen Kontakt zu Geir wiederaufnimmt, beginnt er seine Beziehung mit Linda.

Elholm Andersen stellt die These auf, die Freundschaft zwischen Karl Ove und Geir sei mit einem „homosozialen Begehren“ aufgeladen, laut Kosofsky ein durchgängiges Thema der literarischen Tradition. Schon seit der Ethik- und Tugendlehre des Aristoteles erlebt die männliche Zweierbeziehung eine Hochphase, und in den Bekenntnissen des Augustinus (397) ist der Erzähler von tiefster Trauer ergriffen, da der Freund, ohne den „seine Seele nicht leben kann“, tot ist. In der Frühromantik geht Friedrich Schlegel noch einen Schritt weiter und schwärmt von der Innigkeit der Freundschaft als der wahren Erhabenheit, die das innere Kunstwerk des Menschen offenlege. 

So eine magische Verschmelzung von männlicher Freundschaft mit künstlerischem Schaffen charakterisiert die Beziehung zwischen Karl Ove und Geir. „Was ich jetzt schreibe, wäre ohne ihn undenkbar gewesen“, denkt Karl Ove im letzten Teil, aus dem hervorgeht, dass er seinen Freund mehrmals am Tag anruft. Bereits im zweiten Teil ist Geir mit seinem blendenden Lächeln annähernd die wichtigste Person („einer, der unter die Oberfläche drang und damit den Unterschied ausmachte“). Aber damit es nicht ausartet (heißt: homosexuell wird), braucht es Frauen. Also auch in Min kamp. Mit Geir, schreibt Knausgård, teile Karl Ove „das Innere und das Innige“. Bei Linda, so lässt er Karl Ove selbst denken, verstummt er: hat nichts zu sagen, nichts zu denken, nichts zu antworten. Es ist also keine Überraschung, dass Linda und Geir einander verabscheuen, denn sie konkurrieren um Karl Ove. Woher kennen wir das? In Widerrechtliche Inbesitznahme gibt es zwischen Ester und Rasks Freund Dragan den gleichen Wettstreit um Hugo Rask.

Ein großer Einwand gegen den Kulturmann ist sein im Grunde reaktionäres Menschenbild. Bei seiner Kollegin, der Kulturfrau, lässt sich eine solche Vorstellung nur schwerlich finden, ihr Werk zeichnet sich nämlich oft durch ein aufrichtiges Interesse am Menschen aus, sogar für den Typus mit grandioser Persönlichkeitsstörung, zu dem auch der Kulturmann zählt. Für ihn ein Anlass, sich mit den künstlerischen Leistungen von Frauen nicht abzugeben oder sie zu banalisieren und – aus lauter Selbstbesoffenheit – lieber nach männlichen Verbündeten Ausschau zu halten.

Doch die Bestätigung durch Männer geht, wie Simone de Beauvoir in Das andere Geschlecht hervorgehoben hat, trotz allem noch immer „mit eine[r] ständige[n] Anspannung“ einher. Deshalb benötigt der Kulturmann den Typus Frau, der Männer zum Idol erhebt, denn „ihr Blick [hat] nicht die abstrakte Strenge des Männerblicks, er lässt sich betören“. Wie Lena Andersson schreibt, weiß Ester Nilsson Hugo Rask erst dann zu würdigen, als „er diesen intensiven und zugleich ungeschützten Ausdruck [zeigt].“ Mit anderen Worten: Am effektivsten springt der Kulturmann auf sofortige Bewunderungsstimulanzien an. Im Klartext: auf Schleimscheißerei. 

An dieser Stelle ist Platz für eine historische Einsicht, formuliert von Sofia, Leo Tolstoys Ehefrau und Sekretärin, die ins Grübeln kommt, als sie 1890 für ihren Gatten die Reinschrift seines Tagebuchs (97 Bände!) anfertigt: „Diese Selbstvergötterung kommt in seinen Tagebüchern überall zum Vorschein. Es ist geradezu erstaunlich, wie für ihn die Menschen nur in dem Maße existiert haben, wie sie ihn unmittelbar betrafen.“ Das ist eine präzise Beobachtung. Noch heute lebt diese Sorte Kulturmann wie in einem fest mit dem Deckel verschlossenen Einmachglas. Erst dann, wenn die Bewunderer scharenweise ans Glas klopfen, erwacht er zum Leben und zieht seine Ego-Show ab.

Denn der Kulturmann ist zuallererst auf Idealisierung aus, eine Droge, ohne die er nicht leben kann. Die Frauen braucht er, damit sie ihm das Heroin der Vergötterung besorgen und es ihm spritzen. Um „die Figur des Mannes in doppelter natürlicher Größe widerzuspiegeln“, sollen sie sich mit ihrer „magische[n] und köstliche[n] Kraft“ verfügbarhalten, so schreibt es Virginia Woolf in Ein Zimmer für sich allein. Oder wie Simone de Beauvoir die Sache auf den Punkt bringt: Der Mann verlangt von der Frau eine „Treue ohne Wechselseitigkeit“, einen Blick von außen, „der seinem Leben, seinen Unternehmungen, ihm selbst einen absoluten Wert verleiht“.

Selber kann er allerdings keine entsprechende Bestätigung zurückgeben, denn sonst bekommt der mühselige aufgebaute Mythos seiner eremitenhaften Grandezza Risse. Ebendeshalb findet der Kulturmann an den Texten der Kulturfrau keinen Gefallen; er unternimmt daher sein Äußerstes, um einen männlichen Kanon beizubehalten. Er ist sich im Klaren, dass ihm von Klassikern wie Ein Zimmer für sich allein und Das andere Geschlecht ganz übel zumute werden würde, womöglich würden sie ihn gar schonungslos bloßlegen. (Siehe Roy Andersson, der eingeräumt hat, die Vorlage für Hugo Rask zu sein, aber damit prahlt, Widerrechtliche Inbesitznahme nicht gelesen zu haben.)

Was nun, wenn Lena Anderssons Leistung darin besteht, mit Ester Nilsson die letzte Vestalin an der flackernden Flamme des Kulturmannes erschaffen zu haben? Im antiken Rom musste die Vestalin das heilige Feuer im Tempel hüten, damit es niemals verlosch. Das zumindest erklärt, wieso das Publikum gereizt reagiert, wenn sie darauf beharrt, ihren Abgott Hugo mit „dem erotischen Potenzial“ ihrer Formulierungen zu verführen. Oder die furchteinflößende Erkenntnis, dass beide nur ein Lieblingsthema kannten, nämlich Hugo Rask. Ester, die wider besseren Wissens als Stalkerin auftritt, versetzt nicht nur den Chor ihrer Freundinnen, sondern auch die Öffentlichkeit in Unruhe. Das erinnert uns an unser infantiles Bedürfnis nach einem Objekt, das wir idealisieren können, „Papa, komm nach Haus, wir sehnen uns nach dir“, wie ein anderer Kulturmann (Evert Taube, A. d. Ü.) in „Lillans sång“ schrieb – kurz, an unseren eigenen Beitrag zur Aufrechterhaltung des männlichen Geniekults.

Wie auch immer, wenn man den untertänigen Hofstaat sieht, der sich um die bejahrten Alphamännchen der Kultur schart, verwundert es natürlich, dass der Kulturmann immer noch seinen Lohn einheimsen kann, obwohl der Geniekult ja in seine Bestandteile zerlegt worden ist. Und wenn kulturell tätige Frauen dazu genötigt werden, sich selbst zu unterschätzen und sich den Kulturmann, der die vergangenen und gegenwärtigen Leistungen der Kulturfrau herabwertet, zum Vorbild erwählen, wird es bis in alle Ewigkeit so weitergehen. Mit den Scheuklappen der männlichen Monokultur ausgestattet, bringen die Kulturvestalinnen den Bluff, dass Selbstvergötterung, Koketterie und männliches Selbstmitleid eine Bedingung nicht nur für große Kunst, sondern auch für die Erhaltung des sogenannten Bildungserbes sind, in Umlauf. So wird immer neuen Generationen eingeflüstert, sie sollten wie kleine Kinder zu den Papas der Kultur aufschauen.

Eine Berliner Mauer trennt die Kulturöffentlichkeit mit einer hohen Valuta (die K-Mann-Zone) von jener mit einer niederen (der K-Frau-Zone). Durch die Grenzkontrolle schaffen es nur Männer und Frauen, die sich für eine Festigung der kulturmännlichen Dominanz einspannen lassen, heißt, die bewundern können, was Männer bewundern: Literatur, Kunst, Filme, Theaterstücke von Männern, Männerklassiker, Männer, die andere Männer bewundern. In der K-Mann-Zone gibt es eine Devise: konsequent vernachlässigen und abfertigen, was intellektuelle Feministinnen schreiben, forschen, denken – da könnte die selbstgefällige Spezies des Kulturmannes ja in Grund und Boden kritisiert werden.

Hier bezieht man sich ausschließlich auf männliche Vorläufer, männliche Theoretiker und Philosophen, die in fremden Sprachen schreiben. Das ist ein bisschen so wie in einer Militärdiktatur. Massenweise Erfüllungsgehilfen und Zampanos praktizieren den quasireligiösen Glauben an den Kulturmann, den Größten und Weisesten, der eine überlegene Definition allgemeinmännlicher Zustände abliefert. Vereinfachung ist die einzige akzeptierte Methode. Aus Mangel an Stimulanz erstarrt das Hirn schon früh, aber das tut nicht weh, und wenn es passiert, spürt man es nicht. Was Ester Nilsson, nebenbei bemerkt, an Hugo Rask beobachtet, dessen „Kopf auf hohem Niveau erstarrt zu sein und sich nicht mehr bewegt zu haben [schien]“ (die Erklärung für Hugos zwanzig Jahre alte Phrasen und Anekdoten).

Schlimmer als die selbstverliebte Dicktuerei diverser Kulturmänner allerdings ist das stümperhafte Festhalten an einer Deutungshoheit, die die Bewertung von Literatur über Jahrhunderte hinweg gleichgeschaltet hat. Im Ernst, das wirklich schadhafte Verhalten des Kulturmannes besteht in seinem Amt als höchster Wertindikator an der Kulturbörse. Dort herrscht heute noch der double standard, den Virginia Woolf bereits 1929 in Ein Zimmer für sich allein bemängelt hat, nämlich die einfältige Auffassung, dass männliche Themen allgemeinmenschlich seien, während weibliche Themen als triviale oder politische Formen einer uninteressanten Sondervariante des Menschseins abgespeist werden. Aber natürlich nicht, wenn es um Schilderungen von Frauen als Schoßhunde geht, die sich nach ihren Herrchen verzehren.

Reden wir über schwedische Preispolitik. Reden wir über Geld. Money talks. Je größer der Preis, desto weniger Preisträgerinnen – diesen Schluss legt eine einfache Suche in der Preislandschaft nahe (Stand: Frühjahr 2015). Begonnen beim Nobelpreis mit seinen kläglichen vierzehn Frauen und neunundneunzig Männern, kann man einfach nur weiterheulen: Den Övralid-Preis (300 000 SEK) haben neun Frauen, aber 62 Männer erhalten, den Nordischen Preis der Akademie (400 000) drei Frauen und 27 Männer, den großen Preis von der Gemeinschaft der Neun (300 000) 22 Frauen und 111 Männer, den Gerhard-Bonnier-Preis (200 000) fünf Frauen und 22 Männer, den Kellgren-Preis (200 000) fünf Frauen und 32 Männer, den John-Landquist-Preis (150 000) zwei Frauen und 26 Männer, den August-Preis in der Kategorie Belletristik (100 000) neun Frauen und 18 Männer, den Essaypreis der Schwedischen Akademie (100 000) neun Männer, aber keine einzige Frau. Sogar dann, wenn man das letzte Jahrzehnt mitberücksichtigt, muss man feststellen, dass die traditionelle Geschlechterquote, die es in den Kassen männlicher Autoren weitaus öfter klingeln lässt, noch immer Bestand hat.

Einzig und allein, wenn der Preis den Namen einer Frau trägt, haben die Frauen bessere – wenn auch nicht immer gleiche – Chancen. Mit dem seit 2002 vergebenen Alma-Preis (fünf Millionen Kronen) sind sieben Frauen und fünf Männer ausgezeichnet worden. Der Stina Aronson-Preis (100 000) wurde sechs Frauen und fünf Männern zugeteilt, der Astrid-Lindgren-Preis „der Neun“ (125 000) vier Frauen und zwei Männern. Den Moa-Preis, der den Wettkampf in diesem Zusammenhang für sich entscheidet, haben 27 Frauen und drei Männer erhalten. Aber der Lagerlöf-Preis (100 000) ist an 13 Frauen und 18 Männer gegangen und der Lotten von Kræmer-Preis (150 000) an 13 Frauen und 20 Männer.

Aber, kontert irgendwer, in den Jurys sitzen heutzutage doch auch Frauen. Allerdings, und das zeigt fast schon ein bisschen zu deutlich auf, dass das Patriarchat immer noch in vollem Schwange ist und auch von (bestimmten) Frauen gefördert werden kann. In diesem Kontext ist die Kulturfrau als initiiertes, bitextuelles Gegengewicht zur monotextuellen Vorherrschaft des Kulturmanns zu verstehen. Ihre ästhetischen Urteile sind in der freien Zone zu finden, westlich der Berliner Mauer. Dort hat die Demokratie das Sagen. Es geht lustiger zu, aber weniger glamourös, sprich weniger Militärparaden und schwarze Limousinen. Man liest Autor:innen, Klassiker:innen, Kritiker:innen, Forscher:innen. Anders als in der hochgejazzten K-Mann-Zone gibt es hier keinen Visumszwang. Alle, die einen voraussetzungsfreien, für verschiedene subversive Deutungen offenen Literaturdiskurs wünschen, sind hier willkommen. Es wird einem nie langweilig und man hört nie bei Papa nach, ob man frei denken darf.

Fraglos hat Ester Nilsson exemplarische Vorgängerinnen, die uns die Augen öffnen sollen. Mit ihrer Figur Thea Sundler verabreicht Selma Lagerlöf eine Schockimpfung gegen das Gebaren der Vestalinnen. Mit ihrer dümmlichen Anbetung des „Genies“ Karl-Artur streicht sie den Preis für sich ein: „Schlag mich, gib mir einen Fußtritt! Ich komme doch wieder. Mich kannst du niemals loswerden.“ In Anna Svärd (Ü.: Pauline Klaiber-Gottschau) erregen Theas Unterwerfungsgesten Abscheu, aber sie hat eine Gabe: eine ölige, schleppende, leicht lispelnde und honigsüße Stimme, mit der sie den eingebildeten Karl-Artur bezaubert und ihn glauben macht, das Niederste in ihm sei das Höchste.

Lagerlöfs Roman ist nämlich eine meisterliche Fallstudie über die Psychopathie des Kulturmannes. Unter Karl-Arturs trügerischem Charme verbirgt sich eine manipulative Unverfrorenheit. Es mangelt ihm an Schuld- wie an Verantwortungsbewusstsein, und wenn er vollen Ernstes meint, es mit Christus aufnehmen zu können, muss man sagen, dass er seinen Einfluss wohl ein bisschen überschätzt. Aber nicht schmunzeln, der Typ, der sich einbildet, dass die großen (Männer-)Geister verflossener Zeiten durch ihn hindurch sprechen, tritt genauso in den Kultursendungen von heute auf.

Auch Sara Lidman verpasst der Idealisierung des Mannes eine Klatsche. Nicht nur durch die schrittweise Entzauberung von Didrik, dem Wortführer aus dem Eisenbahnzyklus. Die Geschichte der Kronkätnertochter Märit aus Im Land der gelben Brombeeren (1955) fungiert als eine Art Entwöhnungsmittel. Märit wird von allen umschwärmt, denn sie ist so schön wie blitzgescheit, aber sucht sich aus allen ihren Brautwerbern ausgerechnet den Habenichts Robert aus, der ihrer Meinung nach eine hochentwickelte Seele haben muss, weil er wortkarg ist und eine durchscheinende Hungerhaut hat. Sie versorgt ihn und wird „ausgenutzt wie eine Kuh“. Im letzten Stadium der Schwindsucht fällt es ihr wie Schuppen von den Augen und sie sieht ihren Geliebten, wie er ist: selbstbezogen, faul und verbiestert. Als sie stirbt, bricht es aus ihr heraus: „Ach, was bin ich doch für ein Genie – heiraten sollen hätte ich dich!“

Es ist vermutlich kein Zufall, dass Ester Nilsson erst dann, als sie Hugo Rasks Leseliste (Camus, Majakowski, Tschechow und einen Band mit Hitlers Tischgesprächen) sausen lässt und sich stattdessen an ein paar Zeilen von Sonja Åkesson erinnert, mit einem Schlag erkennt, worin die künstlerische Stärke des Hugo Rask liegt: „Die reflexmäßige Lüge und das Verharren an der Oberfläche von allem Menschlichen trennten ihn davon, was er suchte. (…) Er wollte nicht verstehen, was es in anderen gab, denn dort könnten sich Aggressionen und Anklagen gegen ihn verbergen. (…) Er wollte anklagen dürfen, anstatt verstehen zu müssen. Daraus entstand begrenzte Kunst. Aber niemand war so gut darin, aus seinen Begrenzungen eine Tugend zu machen, seine Schwächen zu verbergen und sie virtuos aussehen zu lassen. Das war sein großes Talent, mit dem er die Welt betrog.“

Was für eine harsche Kritik an der Ästhetik des Kulturmannes, Treffer versenkt. Hier wird beanstandet, wie eingeschränkt die „Superkraft“ ist, eine Befähigung, mit der der Kulturmann laut Åsa Beckman seine Schwachstellen in einen „Sonettkranz“ umwandelt. In Ester Nilssons Worten entsteht daraus „begrenzte“ Kunst, die vor zwischenmenschlichen Erfahrungen zurückscheut, ein psychischer Abwehrmechanismus im Sinne Freuds, wenn auch in ansprechendem Gewand.

Deshalb kann ich Beckman ihre These, Frauen hätten sich von den Kulturmännern nicht nur wegen der Aussicht auf sozialen Status verlocken lassen, sondern auch, weil sie „mit Ideen und Gefühlen verknüpft [seien], die tatsächlich lustig, wunderbar, lebensverändernd sind“, nicht wirklich abkaufen. Diese Vorstellung speist sich eher aus dem, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu als Illusio bezeichnet – oder soziale Illusion. Die Illusio ist ein Produkt der charismatischen, fast schon religiösen Ideenlehre von einem höheren ästhetischen Schöpfertum, das sich in einer männlich codierten Bildungstradition bewegt.

Hierbei handelt es sich um ein Spiel, in das die Teilnehmenden sich selbst investieren, um die Vorteile abstauben zu können, die der Gewinner des Spiels bereits zu besitzen scheint: Macht, „Ehre“, Sex-Appeal. Hinterfragt werden darf die Illusio nicht, denn sie operiert mit allen peinlichen Zugeständnissen und hohen Einsätzen, die die Nachbeter leisten müssen, um den männlichen Geniekult fortführen zu können. Anders formuliert: Damit der Kulturmann seine zentrale Stellung auf dem kulturellen Feld beibehalten kann, müssen alle Untergebenen, Männer wie Frauen, „glauben“, er sei ein ewiges, erhabenes Phänomen, das ein Monopol auf echte Bildung habe. So ein festgewachsener kultureller Reflex hat gefährlich viel mit anderen fundamentalistischen Ideologien gemein. 

Aber bestimmt ist es nur noch eine Frage der Zeit, ehe das Gespött den Kulturmann kalt erwischt und er auf den Boden der Tatsachen plumpst. Das jedoch verlangt von den co-abhängigen Rotten, die den Traum an eine von narzisstischen Kulturmännern angeführte Geisteselite nicht loslassen können, eine aktive Selbstprüfung. Vielleicht hat ja Lena Anderssons Ester Nilsson ein Rezept hierfür: „Wer liebt, braucht nicht anzubeten. Für die Anbetenden muss das Objekt intakt bleiben, um nicht bei der Entdeckung von Mängeln zu bersten. Wer hingegen liebt, kann in seinem Urteil frei sein.“

Der kritischste Blick, deutet Lena Andersson an, ist womöglich auch der liebevollste, und in der Tradition weiblichen Schreibens hat sie viele Vorgängerinnen. Vielleicht müssen wir den Kulturmann „lieben“ (wenn auch in Maßen!), anstatt ihn zu „verehren“. Das sollte der Kulturfrau eine Chance zur (Wieder-)Entdeckung geben und uns allen eine sachkundigere und weniger eintönige Kulturdebatte.  

Beitragsbild von Randall Meng

Gewalt und Mimesis in Zeiten der Wahl – Über das Fehlen weiblicher Macht

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In Deutschland verwandelte sich der Wahlkampf im Sommer in eine politische Hexenjagd. Frankreich hingegen wärmte sich für seine bevorstehende Kampagne mit der Präsentation toxischer Männlichkeit auf. In beiden Gesellschaften geht es dabei um die Aufrechterhaltung eines etablierten Systems durch Mimesis und Gewalt.

Eine Analyse.

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“Sich den Alltag abschminken” – Ein feministisches Kollektiv zwischen Sorgearbeit und Autor:innenschaft

von Katharina Walser

Am Anfang steht eine Gruppe von Müttern, die schreiben. Sie beschließen über das Schreiben zu schreiben. Über die Vorurteile, die Hindernisse, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Vereinbarkeit von Pflege und Kunstschaffen. Es entsteht ein Austausch, es entstehen gemeinsame Textstücke, es folgt im Frühjahr 2021 eine Veröffentlichung im Edit Magazin unter dem Titel Fragment I, der erste Kollektivtext der Gründer:innen von Writing with CARE/RAGE. Die Gründer:innen, das sind die Autor:innen Lene Albrecht, Daniela Dröscher, Berit Glanz, Verena Güntner, Sandra Gugić, Elisabeth R. Hager, Kathrin Jira, Svenja Leiber, Caca Savic, Julia Wolf und Maren Wurster. Sie schreiben in ihrem Fragment über das Muttersein und über das Sein als Autor:in. Es spannt sich ein Raum auf zwischen privaten Szenen und struktureller Kritik am misogynen Literaturbetrieb und an der staatlichen Anerkennung von Care-Arbeit. Vergangenes Wochenende findet dann die erste Konferenz statt. Es geht auch hier um „Schreiben und…“.

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Zwiesprache (zur Care-Situation) in Krisenzeiten

von Barbara Peveling

 

Die Coronakrise ist, so Angela Merkel, die größte Herausforderung für Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg. Mittlerweile dauert die Pandemie über ein Jahr und es ist deutlich geworden, dass durch ihre Auswirkungen ein sozialer Backlash ausgelöst wurde. Frauen sehen sich, vor allem durch die Schließung von Schulen und Betreuungseinrichtungen, wieder in alte Rollenmuster gezwungen, und damit auf gesellschaftliche Plätze zurückversetzt, die sie eigentlich schon längst hinter sich lassen wollten. Der soziale Druck ist hoch und lastet unvermittelt wieder auf den Schultern der Frauen. Weiterlesen