Okayfinden – Leif Randts ‚Allegro Pastell‘

In Leif Randts handlichem Roman Allegro Pastell (Kiepenheuer & Witsch, März 2020, 288 S.) passiert wenig und die äußere Handlung ist mehr oder minder die abgeschmackteste, die man sich vorstellen kann: Ein nicht mehr ganz junger Mann führt ein zufriedenes Leben und eine glückliche Beziehung zu einer etwas jüngeren Frau, dann treten Irritationen ein, die unter anderem dazu führen, dass sie einem anderen Mann und er einer anderen Frau (die er aus seiner Vergangenheit kennt) näherkommt, und Entscheidungen werden erforderlich. Aber: In diesem Buch geht es nicht um die Handlung, sondern um anderes. Es steht in einer großen und alten Tradition des Erzählens, die die Fährnisse von Paarbeziehungen nutzt, um aus ihnen heraus Allgemeineres zu beschreiben. Was ist dieses Allgemeinere bei Allegro Pastell?

Vielleicht lässt es sich so sagen: Wenn man jung ist, möchte man sich auf eine beeindruckende, aber unaufgeregte Weise von anderen abheben, sich zugleich eine unverwechselbare Identität schaffen und dabei vor allem keine Fehler machen, um nicht hinterrücks angreifbar zu werden. Wenn man älter wird, erkennt man, dass es im Leben noch anderes gibt, und dass es nicht schlimm sein muss, in gewissen Hinsichten langweilig, unspektakulär, nervös oder auch fehlerbehaftet zu sein. Es ist jedoch eine zumindest in gewissen Kreisen beliebte Vorstellung, dass es selbst in diesem abgeklärten Zustand (der häufig mit Erwachsensein gleichgesetzt wird) noch Kriterien gibt, an denen sich die Qualität einer Lebensform im Vergleich zu anderen entscheidet. Diese Kriterien müssen dann notwendigerweise sehr subtil sein, da ja gerade entschieden wurde, dass Langeweile, Verwechselbarkeit, handelsübliche persönliche Schwächen und Ähnliches nicht mehr die Maßstäbe sein können. Vom Aushandeln und Anwenden solcher Kriterien handelt Randts Buch. Es stellt von der ersten bis zur letzten Seite in erster Linie extrem nuanciert dar, wie bestimmte Menschen in einem bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhang über sich und übereinander urteilen, und das vor allem in ästhetischer Hinsicht.

Da mir zu Recht nachgesagt wird, dass die wenigen Rezensionen, die ich für 54books schreibe, immer zugleich die Verfasser*innen der Bücher als Personen in unzulässiger, höchst oberflächlicher Weise kritisieren, muss ich an dieser Stelle noch loswerden, dass ich von einem Autor, von dem es heißt, er lebe in Berlin sowie noch an einem zweiten Ort, und der auf offiziellen Fotos eine Baseballmütze trägt, ganz allgemein nur das Schlimmste erwartet habe und insbesondere nicht, dem skizzierten Projekt gerecht zu werden. Ganz im Gegenteil macht Randt seine Sache jedoch hervorragend. Ein so außerordentlich lesbares Buch, in dem es eigentlich um nichts geht, muss man erst einmal schreiben können. Doch zum Stil später mehr.

Die schwierige Sache mit dem Generationenbuch

Die ästhetische Grundoperation von Randts Figuren ist das Eigentlich-doch-ganz-okay-Finden, das von einem Hauch unaufdringlicher Kritik gefärbt ist. Die zugewandte, distanzierte, gleichschwebende Aufmerksamkeit, die sie sich selbst und einander widmen, immer im Bewusstsein eigener (leichter) Überlegenheit, hat etwas Therapeutisches, weswegen es nicht wunder nimmt, dass mehrere Personen im Buch Therapieerfahrung haben und eigentlich alle dazu neigen, wie Psychotherapeut*innen oder ihre Klient*innen zu reden, was im Text selbst reflektiert wird (94). Man könnte das Buch auf den simplen Nenner bringen: Einige westdeutsche Menschen im Jahre 2018 finden das meiste in sich und um sich herum eigentlich ganz okay, denken und reden in sehr reflektierter Weise darüber und erleben sich dabei ein ums andere Mal als lebenstauglich und stilsicher, gerade auch im Vergleich zu Dritten.

Es war wohl unvermeidlich, dass Randts Roman Generationenbuchcharakter zugesprochen wird. Nun ist es in Deutschland ohnehin schwierig geworden, als weißer, formal gebildeter Mensch unter 70 ein belletristisches Werk bei einem Verlag zu platzieren, das nicht irgendwie als Generationenbuch gelesen wird, aber Allegro Pastell hat es besonders dick abbekommen, denn die Hauptfiguren sind Tanja Arnheim (30), Berliner Autorin, die ihr erfolgreiches Romandebüt hinter sich hat, und Jerome Daimler, ein paar Jahre älter und selbstständiger Webdesigner. Die allen Generationenbuch-Verdikten zugrunde liegende falsche Gleichsetzung eines Milieus mit einer Generation bietet sich hier besonders an. Stellen wir uns vor, der kaum universeller zu denkende Plot um eine Fernbeziehung Maintal–Berlin und verschiedene Affären involvierte nicht zwei selbstbestimmt mediennah Tätige, sondern z.B. einen Verfahrenstechniker und eine Fachinformatikerin, jeweils festangestellt bei Sanofi bzw. der Telekom – viel repräsentativer für die jüngere deutsche Mittelschicht ginge es nicht, aber in Deutschland schreibt nun einmal niemand Romane über Fernbeziehungen zwischen Verfahrenstechnikern und Fachinformatikerinnen, hingegen rekrutieren sich Feuilleton und Literaturbetrieb aus auf Stilfragen fixierten Medienmenschen, wie sie diesen Roman bevölkern, weswegen verständlich ist, dass sie meinen, hier ginge es nicht bloß um sie, sondern um alle und alles. Dafür kann Randts Buch aber nichts, das nirgendwo einen universellen Anspruch auch nur impliziert. Dass er ein weiteres der vielen Bücher geschrieben hat, in dem es um Schriftsteller*innen geht, ist ihm nicht vorzuwerfen, und dass der Literaturbetrieb insgesamt es nicht schafft, einmal eine vergleichbar profilierte Neuerscheinung über das Leben von Thirtysomethings in repräsentativeren Lebenssituationen hervorzubringen, natürlich genauso wenig.

Alles eine Frage der Gestaltung

Worum geht es nun aber thematisch bei den feinen Unterschieden, die Arnheim und Daimler im allgemeinen Okayfinden dann doch machen? Was kennzeichnet das beschriebene Milieu außer einer Lebensform, die durch eine bestimmte Art ästhetischen Urteilens geprägt ist?

Da ist beispielsweise ein hochkompetenter, technisch perfektionierter Umgang mit Drogen, der durch das ganze Buch hindurch detailliert beschrieben wird, von Namen und Bruchrillen der verschiedenen Ecstasy-Tabletten, die per Smartphone-App identifiziert werden, bis hin zu Farbe und Modellbezeichnung des Vaporizers, mit dem Daimler »kleine Portionen verschiedener Hybridsorten« (112) Cannabis konsumiert. Im Gegensatz zum Klischee hergebrachter Popliteratur findet kein ostentatives Einordnen von Markenprodukten, Musik, Kultur und insbesondere überhaupt keine Ab- oder Aufwertung der Oberfläche der Konsumgesellschaft statt – mittelgutes asiatisches Essen in angejahrten Einkaufszentren oder Maultaschen im Speisewagen, selbstironisch Christ sein oder Hinduismus als Option zur Lebensgestaltung begreifen sind genauso einigermaßen in Ordnung wie Heiraten, mit 70 Datingapps benutzen, als nicht mehr junger Mensch hartnäckig einen »Melodic-Hardcore«-Lebensstil mit beginnendem Leberschaden (172) führen und alles andere auch. Die Charaktere beseelt ein Wille zur Offenheit, zum Gutfinden, dazu, »Freude nunmehr als eine stetige Option [zu] begreifen« (109). Dasselbe gilt für zwischenmenschliche Beziehungen, die in jeder Hinsicht (sexuelle Orientierung, emotionale Verbindlichkeit, Mono- oder Polygamie, Stellenwert von Sexualität überhaupt, Kinder haben oder nicht) Aushandlungs- und Gestaltungssache sind.

Implizit spricht daraus ein ums andere Mal, dass die Protagonisten sich als Menschen überlegen begreifen, die eine geringere Reflexionstiefe erreichen, nicht in der Lage sind, die Reize in ihrem Leben so sensibel auszutarieren und für die daher noch nicht alle Phänomene genauso »ungebrochen angenehm und entspannt, teils erlösend und schön, aber auch ein klein wenig austauschbar, unpersönlich und egal« (212) geworden sind, wie es etwa Sex für Daimler ist. Natürlich ist dieser Zustand nur auf dem Gipfel eines imposanten Berges aus Privilegien denkbar – Daimler wie Arnheim sind (insbesondere nach den Maßstäben ihres Milieus) körperlich sehr attraktive, sportliche, disziplinierte, intelligente und akademisch gebildete Menschen, deren Biographie keine Probleme aufweist, die ihre alltägliche Lebensführung materiell beeinträchtigen könnten, und deren Zukunft keine solchen erwarten lässt.

Was daher ebenfalls nicht in diesem Buch vorkommt, sind irgendwelche Geldsorgen, und alles andere würde auch das Konzept durchkreuzen. Soweit Finanzen überhaupt ein Thema sind, ist durch eine Balance zwischen ganz ordentlichem Einkommen aus selbstbestimmter, kreativer Tätigkeit, Absicherung durch reiche Eltern und selbstverständlichen Verzicht auf größere Ausgaben (wie etwa ein eigenes Auto) die Sicherheit gegeben, dass schon nichts passieren wird. Dies ist in der Tat die milieutypische, ja das geschilderte Milieu erst ermöglichende materielle Situation und zudem etwas, was in der Presse fortwährend als angebliches Generationenthema verhandelt wird. In Wirklichkeit ist das Erlangen und Behalten finanzieller Sicherheit für die Mehrheit der jüngeren erwerbsfähigen Deutschen natürlich eine der wichtigsten, wenn nicht überhaupt die wichtigste Lebenspriorität: Sämtliche einschlägigen Studien legen nahe, dass zwischen 60 und über 90 Prozent der Menschen in Arnheims und Daimlers Altersgruppe hierzulande großen Wert auf einen gesicherten Arbeitsplatz legen. Die junge »Generation«, der es »zu gut geht« und die daher Zerstreuung, existenzielle Herausforderungen oder Ähnliches sucht, existiert nicht als Generation (soweit Generationen überhaupt existieren, was die Sozialwissenschaft heutzutage mehrheitlich eher verneint). Sie ist lediglich ein Nischenmilieu, und es ist Randt zugute zu halten, dass seine Figuren niemals den Ausbruch suchen, weil ihnen bei aller Privilegiertheit doch sehr klar ist, wie gut es ihnen geht.

Keine Angst vor Adjektiven

Der Stil des Buchs ist das genaue Pendant zu seinem Inhalt: geschult am klassischen bürgerlichen Roman und in gewisser Hinsicht völlig konventionell, aber höchst ausgereift und vielfältig gebrochen. Das beginnt mit einem Einsatz englischer Vokabeln, der so übertrieben ist, dass er wie eine schiefe Anspielung auf die 80er-Jahre anmutet, in denen man deutschen Yuppies herablassend unterstellte, Ausdrücke wie »jetzt ist die Crew endlich komplett in der Location« zu benutzen. Wenn man bei Randt selbst durchaus noch einen »Vater«  hat, ist das korrekte Wort für einen Mann mit Kind im eigenen Alter »Dad«, alles ist »cute«, und »gebounct« wird auch. Die Beschreibungen sind stets dicht, präzise und wertfrei, und glücklicherweise ist nichts von der pathologischen Abneigung gegen Adjektive zu merken, die den deutschen Literaturbetrieb in weiten Teilen immer noch peinigt. Dabei transportieren die Adjektive stets Information, genauso wie die Dialoge, die die Großspurigkeit ebenso wie die Trivialität der Alltagskommunikation junger Akademiker*innen perfekt einfangen und dabei nie aufgesetzt oder unrealistisch wirken. Man kann es kaum hoch genug hängen, dass hier ein deutscher Roman vorliegt, in dem wirklich alle Dialoge gelungen sind und man niemals den Eindruck hat, hier würde nolens volens fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen geschrieben. (Sämtliche wörtliche Rede ist in diesem Buch übrigens, obwohl in Anführungszeichen stehend, kursiv gesetzt, was überraschenderweise nachhaltig irritiert.) Leise Ironie gegenüber den Charakteren zeigt sich bei den wenigen Unsinnsaussagen, die sie tätigen (wenn etwa Daimler Peter Handke zum Schweizer erklärt, 212) – fast wünscht man sich, Randt hätte darauf verzichtet zu demonstrieren, dass er dann doch noch eine Stufe höher steht als die eigenen Figuren.

Man muss das Konzept des Buchs nicht mögen, man kann es wahlweise statt als bloße Deskription auch als Anklage oder Bauchpinselung des beschriebenen Milieus lesen. Sicher lassen sich gesellschaftskritische Spitzen aus Allegro Pastell ableiten, lässt sich zeigen, dass das politische Bewusstsein der Protagonist*innen lachhaft unterentwickelt ist – wenn zum Beispiel Daimler über die gesellschaftsermöglichende Funktion von Antifaschismus reflektiert, ohne eine Sekunde darüber nachzudenken, ob er hierzu eigentlich beiträgt (83f.); oder wenn Arnheim vermutet, dass »die meisten in ihrem Umfeld sich eine globale Diktatur westlicher Wissenschaft wünschten, regional repräsentiert von Frauen, die viele Sprachen beherrschten und auf eine mütterliche Weise sympathisch aussahen« (222). Aber diese wenigen Momente sind nur eine Dreingabe aufs Dahinplätschern der glücksbewussten und lebenskompetenten Haupterzählung. Die Lektüre des Buchs lohnt sich so oder so bereits aufgrund der Qualität der Prosa. Tun Sie mir aber einen Gefallen und verzichten Sie darauf, wie Doris Akrap oder Ijoma Mangold zu glauben, es würde hier irgendeine Allgemeinaussage über »die deutsche Mittelklasse« oder eine ganze Generation oder gar Deutschland insgesamt gemacht. Das tut dieser Roman nicht und auch kein anderer.

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