von Philip Schwarz
In den vergangenen Jahren hatten das Feuilleton und kulturinteressierte Menschen nicht zum ersten und sicher nicht zum letzten Mal Gelegenheit, die Freiheit der Kunst gegen moralische Urteile und Ansprüche der sogenannten “Politische Korrektheit” zu verteidigen. Eine Liste dieser Kontroversen, die weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf chronologische Ordnung erhebt, würde die folgenden Fälle enthalten: Rassismus in Kinderbüchern, Mohammed-Karikaturen, das Gomringer-Gedicht Avenidas an der Wand einer Berliner Hochschule, #vorschauenzählen, Dekolonialisierung des Kanons, Nobelpreis für Peter Handke, Woody Allens Memoiren. Auch in Bereichen, die zwischen den Polen E und U eher der Unterhaltung zugeordnet werden, ist diese Debatte lebendig, beispielsweise, wenn es um den Kampf gegen Sexismus in Videospielen geht, die sich in Bezug auf Ästhetik und Charakterdesign auf stereotype Weise vorwiegend an ein heterosexuelles Cis-männliches Publikum richten.
In all diesen Fällen gibt es nicht wenige Kommentator*innen, die sofort bereit sind, darzulegen, warum die betreffenden Kunstwerke nicht Gegenstand einer moralisch motivierten Kritik sein könnten. Die Fälle sind sicherlich unterschiedlich, aber die Kommentierung ist in einer Hinsicht strukturell ähnlich: Sie etabliert eine Dichotomie zwischen der Kunst und der Moral. Die im traditionellen Feuilleton sowie in den sozialen Netzwerken vorgebrachten Argumente suggerieren, dass „die Kunst“ von „der Moral“ zu trennen sei. Dieses Argument wird selten explizit artikuliert, aber eine aufmerksame Lektüre der entsprechenden Wortmeldungen zeigt, dass es überall vorausgesetzt wird. Die Zurückweisung moralischer Kritik an Kunst bezieht ihre vermeintliche Autorität und Legitimität zu einem großen Teil aus dieser Voraussetzung. Dies äußert sich beispielsweise in der wiederholt vorgebrachten Argumentationsfigur von der Autonomie der Kunst, die diese gegen moralische Kritik immunisiere. Wenn die Sphäre der Kunst in sich geschlossen und gegenüber moralischer Kritik immun ist, lässt sich die moralische Kritik als unsachlich und dem Thema nicht angemessen zurückweisen, ohne dass eine inhaltliche Auseinandersetzung nötig wäre. Tatsächlich aber ist die These von der Abgrenzbarkeit zwischen Kunst und Moral hinfällig, weil die Forderung nach der Moralfreiheit der Kunst ihrerseits eine moralische Forderung darstellt.
Was genau ist nun gemeint, wenn Moral und Kunst voneinander getrennt werden sollen?
Wie man sich diese Trennung vorstellen kann, lässt sich zunächst metaphorisch mit zwei Brettspielen, für die unterschiedliche Regeln gelten, verdeutlichen: Die Kunst nach moralischen Gesichtspunkten zu beurteilen wäre demnach ebenso sinnlos, wie die Schachregeln auf Mensch-ärgere-dich-nicht anwenden zu wollen und umgekehrt. Es spricht aber Einiges dafür, dass die Abgrenzung zwischen Kunst und Moral nicht so eindeutig ist, wie die zwischen den Spielregeln von Schach und Mensch-ärgere-dich-nicht. In beiden Bereichen haben wir es mit einer Form des Werturteils zu tun. Etwas kann moralisch wertvoll sein oder künstlerisch wertvoll oder auch beides gleichzeitig. Die Immunitätsthese geht davon aus, dass der künstlerische Wert den moralischen vollkommen verdrängt: Wenn etwas nur ausreichend künstlerischen Wert hat, wäre demnach die Frage nach dem moralischen Wert unerheblich.
Natürlich lassen sich Kunst und Moral unterscheiden. Bestimmte Dinge lassen sich moralisch beurteilen, aber es wäre sinnlos, nach ihrem künstlerischen Wert zu fragen. Umgekehrt ist etwa die Frage, welche Beethoven-Symphonie die schönste ist, eine nach dem ästhetischen Wert und nicht nach dem moralischen. Aber das bedeutet nicht, dass es sich bei Kunst und Moral um zwei autonome Felder handelt, deren jeweilige Gegenstandsbereiche sich wechselseitig ausschließen. Warum sollte der Umstand, dass etwas Kunst ist, es dem Bereich der moralischen Beurteilung entziehen? Moralische und künstlerische Urteile sind verschiedene Urteile, die sich auf verschiedene Kategorien beziehen. Daneben gibt es zahlreiche weitere Kategorien wie etwa die juristische, die soziologische, die ökonomische usw. Die Kategorien und Urteile betreffen aber immer denselben Gegenstand, auf den sie sich beziehen.
Ein Verlag, der ein Manuskript im Postfach hat, kann fragen, ob es künstlerisch interessant ist, er kann fragen, ob es moralisch richtig wäre, es zu veröffentlichen, er kann fragen, ob es sich lohnt, oder ob es erlaubt ist. Jede dieser Fragen bezieht sich auf eine andere Kategorie der Bewertung, und jedes Urteil über eine der Kategorien steht erst einmal für sich. Insofern stimmt es auf den ersten Blick, dass Moral und Kunst voneinander unabhängig sind. Ein künstlerisches Urteil bezieht sich auf eine andere Kategorie – beantwortet eine andere Frage – als ein moralisches. Diese Kategorien sind aber nicht isoliert voneinander. Urteile, die sich auf eine Kategorie beziehen, sind für Urteile in anderen Kategorien nicht bedeutungslos. Wenn der Verlag zum Beispiel entscheidet, dass es juristisch nicht zulässig ist, ein Manuskript zu veröffentlichen, kann das auch bedeuten, dass es sich ökonomisch nicht lohnen würde, weil die Veröffentlichung einen teuren Gerichtsstreit nach sich ziehen würde. Es gibt auch Fälle, in denen der moralische Wert durch den künstlerischen Wert begründet wird: Würden wir nicht beispielsweise sagen, dass es moralisch falsch ist, einer anderen Person die Auseinandersetzung mit einem Stück Kunst aufzuzwingen, das diese Person als langweilig, hässlich oder anderweitig wertlos empfindet?
Worum geht es in der Moral? Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, das zu schützen, was wichtig ist, und Menschen zu ermöglichen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen. (Wer möchte, kann diese Bedürfnisse „Werte“ nennen.) Mit jedem Bedürfnis, das eine Person hat, geht ein moralischer Anspruch an andere Personen einher, dieses Bedürfnis zu berücksichtigen.
Was das Bedürfnis auszuschlafen damit zu tun hat
Einer Person den Besuch eines Museums, Films, Konzerts oder was auch immer aufzunötigen, dem sie künstlerisch nichts abgewinnen kann, ist also deswegen moralisch falsch, weil diese Person davon abgehalten wird, stattdessen etwas zu tun, das ihr wichtig ist. Wenn ich versprochen habe, Sonntags früh um acht beim Umzug zu helfen, wäre es moralisch falsch, einfach im Bett liegen zu bleiben, weil viele andere Personen Pläne gemacht haben, die sie aufgeben müssen, wenn ich nicht da bin, um zu helfen. Sie werden also in einem gewissen Umfang daran gehindert, das zu tun, was sie sich wünschen und dadurch in ihren Ansprüchen an mich verletzt. Anders stellt sich die Frage aber dar, wenn ich auf dem Weg zur Verabredung einer Person begegne, die Erste Hilfe benötigt und ins Krankenhaus gebracht werden muss. Ihr Bedürfnis nach körperlicher Gesundheit ist im Zweifel wichtiger als das Anliegen meiner Freund*innen, eine verlässliche Hilfe beim Umzug zu haben. Daher könnte man hier argumentieren, dass es moralisch falsch wäre, mein Versprechen zu halten, anstatt dem Unfallopfer zu helfen. Eine Entscheidung zu treffen, bedeutet immer, verschiedene Bedürfnisse abzuwägen. Für jedes Bedürfnis gibt es Gründe, ihm den Vorzug zu geben. Sie abzuwägen bedeutet zu entscheiden, welche Bedürfnisse aus guten Gründen wichtiger sind als andere. Wenn ich entscheide, im Bett liegen zu bleiben, wäge ich nicht etwa moralische Verpflichtungen gegen mein davon unabhängiges egoistisches Verlangen nach Schlaf ab. Ich urteile, dass mein Bedürfnis und damit mein moralischer Anspruch ausschlafen zu können Vorrang hat gegenüber dem Anspruch auf Zuverlässigkeit, den die anderen an mich haben. Auch egoistische Entscheidungen sind in diesem Sinne moralische Entscheidungen.
Genauso verhält es sich mit der Forderung, dass die Kunst gegenüber moralischen Ansprüchen immun bleiben müsse. Die Frage „Ausschlafen oder Versprechen halten“ ist keine Frage von Egoismus gegen Moral, sondern eine Frage danach, wessen Bedürfnisse wichtiger sind, und die Frage „Freie Kunst oder Political Correctness“ ist keine Frage von Kunst gegen Moral, sondern ebenfalls eine Frage nach dem Vorrang bestimmter Bedürfnisse gegenüber anderen.
In beiden Fällen geht es um verschiedene Dinge, die Menschen wichtig sind und dabei zumindest bis zu einem gewissen Grad unvereinbar. In dem Moment, in dem darüber diskutiert wird, welche Personen ihre Bedürfnisse erfüllen dürfen und welche dafür auf die Erfüllung ihrer Bedürfnisse verzichten müssen, führen wir unvermeidlich eine moralische Diskussion. Dass Kunst langweilig oder ästhetisch uninteressant wird, wenn sie moralischer Beurteilung unterworfen ist, ist nur dann ein Problem, wenn der Genuss interessanter Kunst als wichtiges Bedürfnis verstanden wird. Das Argument ist dann ungefähr folgendes: unser Leben wäre ärmer, wenn wir keinen Zugang zu interessanter Kunst hätten, und es ist moralisch falsch, Bedingungen zu schaffen, in denen unser Leben ärmer ist. Deswegen wäre es moralisch falsch, Kunst moralisch zu beurteilen. Aber genau das geschieht, indem dieses Argument vorgebracht wird. Es setzt ja voraus, dass das Bedürfnis nach interessanter Kunst Vorrang hat vor den Bedürfnissen, die in der Forderung nach politisch korrekter Kunst Ausdruck finden.
Noch offensichtlicher wird es, wenn die Immunitätsthese durch den Verweis auf Anliegen verteidigt wird, die außerhalb der Kunst liegen. Je nach Zusammenhang werden hier verschiedene Anliegen herangezogen. So wird etwa argumentiert, dass die Kunst eine gesellschaftliche Funktion erfülle und so dazu beitrage, Bedürfnisse zu erfüllen.
„Aber die weitaus ernstere Folge ist die Bedrohung des Lebensraums, nicht nur der Kunst, sondern auch der freien Entfaltung der Bewohner dieses Raums. Diese hängt ganz wesentlich mit unserer Befähigung zusammen, in Möglichkeitsräumen, im Imaginierten und im Geträumten unterwegs sein zu können, die Normativität des Faktischen zu durchbrechen und die Vorstellungskraft als Korrektiv einzusetzen.“
Ganz ähnlich ist das Argument, dass Satire wenn schon nicht alles, dann doch sehr viel dürfen muss, um ihre Funktion, wichtige Diskussionen anzustoßen, wahren zu können. Hier wird also das Anliegen, eine bestimmte Art der Diskussion zu ermöglichen gegen das Anliegen der “Politischen Korrektheit” abgewogen und für wichtiger befunden. Dies wurde vor allem deutlich, in der Diskussion um die Entfernung von Eugen Gomringers Gedicht Avenidas von der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule, in deren Verlauf die Übermalung zu einem „Generalangriff auf unsere Kultur und damit auf unsere Freiheit“ erklärt wurde. Gerade hier wird suggeriert, die Immunitätsthese habe mit Moral nichts zu tun. Auf der einen Seite die „Tugendterroristen“ mit ihren überzogenen moralischen Forderungen, auf der anderen Seite die Verteidiger (absichtlich nicht gegendert) der Freiheit. Wenn nun aber Freiheit kein moralisches Anliegen ist, weiß ich nicht, was überhaupt eines ist.
Auch die Forderung nach mehr Diversität und das Beharren darauf, dass nur Talent zählen solle, ist eine Variante dieses Konfliktes. Die Forderung, dass die Kunst von nicht-weißen, nicht-heterosexuellen oder allgemein von Künstler*innen marginalisierter Gruppen mehr Sichtbarkeit erhalten solle, wird oft dadurch zurückgewiesen, dass es doch nur um Qualität gehen solle. Auch dies ist ein moralisches Argument. Denn entweder heißt es auch hier wieder, dass die Kunst unabhängig bleiben müsse, um interessant sein zu können. Dann wird sie wieder als ein Bedürfnis behandelt, und es muss eine moralische Abwägung stattfinden. Oder aber der Gedanke ist, dass die Künstler*innen einen Anspruch darauf haben, für ihre Arbeit angemessen erfolgreich zu sein. Dann wäre das Argument, dass es unmoralisch sei, den künstlerischen Erfolg von anderen Kriterien abhängig zu machen als vom ästhetischen Wert des Werkes.
Die Sache mit den Kinderbüchern
Im Fall der Redaktion von Kinderbüchern wird mit Authentizitätsüberlegungen argumentiert:
„Einzelne Wörter in älteren Texten mögen aus heutiger Sicht problematisch scheinen, heißt es dann, aber das sei eben die Wortwahl der Autor/-innen, die dem Sprachgebrauch der damaligen Zeit entspreche. In das so entstandene sprachlich-literarische Gesamtkunstwerk dürfe man nicht eingreifen. Wenn Preußler einmal N~lein geschrieben habe, solle er auch fünfzig Jahre später dazu stehen, und erst recht dürfe ein Text nicht verändert werden, wenn die Autorin – wie im Fall von Astrid Lindgren – bereits verstorben sei.“
Je nachdem, wie diese Argumentation verstanden wird, wird hier der Anspruch der Leser*innen auf das unveränderte Buch oder der Anspruch der*des Verfassers*in auf die Bewahrung des ursprünglichen Werkes gegen den Anspruch auf diskriminierungsfreie Sprache verteidigt. Auch dies ist eine Abwägung verschiedener moralischer Ansprüche.
Damit geht es nicht mehr darum die Kunst als autonome Sphäre vor dem ungerechtfertigten Angriff durch externe Maßstäbe zu verteidigen, sondern es geht um die Vermittlung zwischen verschiedenen Anliegen. Die Kunst kann also gar nicht frei von moralischer Beurteilung sein, weil bereits die Forderung genau danach eine moralische Bewertung der Kunst voraussetzt. Die Argumentation besteht im Wesentlichen darin, den Kritiker*innen entgegenzuhalten, sie hätten keine Autorität in der Angelegenheit, und sie seien deswegen gar nicht erst anzuhören. Aber wenn die Forderung, die Kunst müsse der Moral entzogen sein, um interessant bleiben zu können, ihrerseits eine moralische Forderung ist, dann haben wir es hier nicht mit zwei abgetrennten Bereichen zu tun.
Kunst moralisch zu beurteilen ist dann ähnlich wie die Frage, ob es in Ordnung ist, zur Verabredung zu spät zu kommen, wenn das die einzige Möglichkeit ist, dem Unfallopfer zu helfen. In beiden Fällen haben wir es mit verschiedenen Bedürfnissen zu tun, zwischen denen auf irgendeine Weise vermittelt werden muss.
Was bedeutet dies nun für die Debatte?
Wenn wir verstanden haben, dass die Verteidigung der Kunst gegen die moralische Kritik ihrerseits ein moralisches Bedürfnis vertritt, stellt sich die Frage, um die es hier geht anders dar. Die Beschreibung der Situation durch die Vertreter*innen der Immunitätsthese ist schlicht falsch. Es ist nicht so, dass an den in sich geschlossenen Bereich der Kunst äußere Maßstäbe angelegt werden, die hier nicht sinnvoll anwendbar sind. Es ist vielmehr so, dass verschiedene moralische Anliegen abzuwägen sind. Das Anliegen an interessanter Kunst ist eines davon, und es ist unbestreitbar ein berechtigtes Anliegen. Die Welt wäre in der Tat ärmer, gäbe es keine interessante Kunst.
Auch die anderen Bedürfnisse sind ohne Zweifel berechtigt. Die Kunst hat eine gesellschaftliche Funktion, durch die bestimmte Bedürfnisse erfüllt werden. Diese müssen berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite stehen die Anliegen der Betroffenen: der Wunsch nicht mehr mit einer Sprache konfrontiert zu werden, die jahrhundertelang zur Rechtfertigung und Verharmlosung von Gewalt, Unterdrückung und systematischer Benachteiligung benutzt wurde. Der Anspruch, die eigene Geschichte zu erzählen und damit Gehör zu finden. Und – denn wir sollten uns keinen idealistischen Illusionen hingeben – das Anliegen, auf einem hart umkämpften Feld, in dem es nicht immer gerecht zugeht, wirtschaftlichen Erfolg zu haben. Eine Entscheidung zu treffen und dabei Gründe abzuwägen bedeutet immer zu fragen, was wichtig ist und wie die Welt aussehen soll. Oft nur im Kleinen: Kaffee oder Tee? Aufstehen oder Liegenbleiben? Die Blaue Krawatte oder die Rote? Aber oft geht es um die großen Dinge: Freiheit oder Gerechtigkeit? Veränderung oder Status Quo? Immer wieder müssen wir aushandeln, welche Anliegen wichtiger sind, aus welchen Gründen sie das sind, und welche Gründe gute Gründe sind. Dies ist eine äußerst schwierige Aufgabe. Aber wir tun dies tagtäglich in Bezug auf alle möglichen Fragen und sind dabei erfolgreich. Warum sollte es in dieser Frage anders sein?