von Barbara Peveling
Der vergangene Sommer war sicherlich das internationale Reise-Comeback nach Corona. Die europäischen Länder erlebten eine rekordverdächtige Saison, während Flüsse und Seen durch den Klimawandel austrockneten, überschwemmten Touristen die südlichen Gegenden. In Griechenland ging der Massentourismus mit 16.000 Besucher*innen an der Akropolis pro Tag sogar als Rekord in die Geschichte ein. Die Schließungen während der Pandemie waren hier genutzt worden, um das Kulturerbe barrierefrei zu machen, außer einem Aufzug wurde auch der Zugang zu den Gebäuden des Denkmals betoniert. Viele Intellektuelle sahen in diesen Umbauten und Veränderungen einen Skandal. Müssen Denkmäler, Ensembles und Stätten des kulturellen Gedächtnisses wirklich allen Menschen barrierefrei zugänglich sein und werden diese damit automatisch Opfer der Demokratisierung von Wissen?
Die Weltbevölkerung wächst stetig und parallel dazu wachsen auch die Umweltprobleme. Eine Alternative, um Kulturstätten vor der Bedrohung von Massenbesuchen und Klimawandel dauerhaft zu schützen, sind diese nachzubauen, um die Originale zu erhalten oder, wenn diese aufgrund von Klimabedingungen nicht zugänglich sind, diese überhaupt sichtbar zu machen. In Frankreich wurde 2015 mit der Grotte Chauvet zum ersten Mal der Nachbau eines Kulturerbes eröffnet. Sieben Jahre später eröffnete in diesem Sommer mit dem Museum Cosquer in Marseille eine weitere und die mittlerweile dritte Replik einer prähistorischen Grotte. Diese Unterwassergrotte liegt eigentlich weit außen am Stadtrand von Marseille und am Anfang des Naturparks der Calanques.
Eine der Besonderheiten der Grotte Cosquer ist nicht nur, dass sie sich unterhalb des Meeresspiegels befindet, sondern auch, dass viele der Malereien, die ihre Wände zieren, Tiere zeigen, die heute in ganz anderen, kälteren Regionen leben, wie Bisons, Saigaantilopen, Seehunde und Pinguine. Die prähistorischen Darstellungen von Tieren wie Pinguinen sind der kunsthistorische Beweis, dass die Strände der Grotte in der Vergangenheit mit Eis bedeckt waren. Den in der Grotte vor 33 000 bis 20 000 Jahren wirkenden Künstler*innen ist es gelungen, eine der existentiellen Tragödien irdischen Lebens festzuhalten, und zwar die Auslöschung einer existierenden Biodiversität auf lange Dauer. Der große Pinguin, wie er auf den Kunstwerken der Grotte Cosquer zu sehen ist, existiert heute nicht mehr. Damals, vor 19.000 Jahren, als die Grotte von den Jäger*innen des Jungpaläolithikums benutzt wurde, war das Klima in Südeuropa deutlich kälter als heute. Die skandinavischen Länder und Kanada waren mit einer 3000 Meter hohen Eisschicht bedeckt und unbewohnbar. In Frankreich reichten die Gletscher von den Alpen bis zu den Pyrenäen. Die sogenannte Eiszeit kippte vor gut 10.000 Jahren in ein wechselndes und schließlich immer wärmeres Klima, dieser Klimawandel hält bis heute an und wurde durch den Einfluss der Menschen in den letzten zweihundert Jahren auf eine Weise potenziert, dass bald noch viel mehr Lebewesen von unserer Erde verschwinden werden.
Der Begriff Museum kommt aus dem Altgriechischen und bezeichnet ursprünglich ein Heiligtum, heute beschreibt er die Darstellung und Sichtbarmachung von Kulturgütern, moderne Tempel des kulturellen Gedächtnisses. In seinen Überlegungen zu einem Paradigmenwechsel im Museum postulierte der Kulturwissenschaftler Gottfried Korff die Beunruhigung, die durch einen Wahrnehmungsschock ausgelöst wird. Der Besucher soll in eine Wahrnehmungssituation gebracht werden, die seine vorherrschenden Betrachtungsmaßstäbe und Wertvorstellungen ins Schwanken bringt und somit Zugang zu neuen, unbekannten Horizonten des Wissens und der kulturellen Wahrnehmung bedeutet.
In Bezug auf die Nachbauten von historischen Kunstwerken stellt sich vor allem die Frage nach der Authentizität. Statt zwischen jahrtausendalten Steinwänden zu wandeln, stehen die Besucher*innen vor bemalten Styroporwänden. Und die Zeichnungen an den Wänden, sind nicht mit Kohle oder Steinen gemalt, sondern wurden durch 3-D Projektionen von modernen Künstler*innen reproduziert. Das Gefühl der Authentizität, so Soziolog*innen, setzt vor allem durch die Bewegung des Besuchers im Raum ein, durch die aktive Aneignung des Ortes und weniger durch den Originalzustand der Objekte. Bei dem Besuch der Repliken stehen Besucher und Besucherinnen zwar nicht vor dem originalen Kunstwerk, aber haben doch die Möglichkeit, eine authentische Erfahrung, im Sinne von einer virtuellen Reise in das kulturelle Gedächtnis der Menschheitsgeschichte, zu unternehmen.
Im Gegensatz zu den beiden Originalen der anderen nachgebildeten Kunstwerke der Felsmalerei in Frankreich, der Chauvet– und der Lascaux-Grotte, ist die Grotte Cosquer aus Sicherheitsgründen kaum noch zugänglich. Die Künstler*innen, Architekt*innen, Wissenschaftler*innen und Handwerker*innen, die am Nachbau beteiligt waren, konnten also nicht auf die eigene Erfahrung der Betrachtung des Originals zurückgreifen. Die Replik der Höhle wurde von dem Unternehmen Déco Diffusion in Toulouse realisiert, das Team war auch bereits am Nachbau der Grotte Chauvet beteiligt. Die Künstler und Künstlerinnen mussten dabei immer wieder improvisieren. Es ist also auch Kunst in der Kunst, die Reproduktion schreibt sich in die Geschichte menschlicher Kreativität ein, die zwischen den beiden Darstellungen vergangene Zeit dehnt sich aus und die Frage nach Original und Fälschung wird in den Hintergrund gedrängt. „Plötzlich tauchte in der Nacht vor meinen Augen im Styropor die Mähne eines Löwen auf“, erzählt ein Mitarbeiter im Interview. Diesen Moment der künstlerischen Verbindung zwischen dem Original aus der Prähistorie und seiner Nachbildung in der Gegenwart beschreibt er als atemberaubend, damit wird auch deutlich, dass das, was unsere menschliche Existenz ausmacht nicht nur ein individuelles Genie ist, mit dem wir einzelne Künstler (hier bewusst männlich gesetzt) feiern, sondern ein kollektives Gedächtnis, das die gesamte Menschheit ohne Ausnahme von Geschlecht und Herkunft im Bewusstsein trägt und über Generationen weitergibt.
Die Malereien an den Felswänden wurden lange als bloße Darstellungen von schamanischen oder totemistischen Kulthandlungen und weniger als künstlerischer Ausdruck gewertet. Die Wissenschaft hat längst eingesehen, dass die frühe Kunst wichtiger Bestandteil der menschlichen Geschichte ist und damit als weitaus komplexer zu werten als es in früheren Denkansätzen der Fall war. Die Sicht auf das Fremde und Unbekannte unserer Kultur wird nicht mehr als barbarisch bezeichnet, so auch die Kunst aus der jüngeren Altsteinzeit. Dieses Wissen ist überdeckt von herkömmlichen kulturellen Stereotypen über „Höhlenmenschen“, die von ihren Instinkten geleitet, als wilde Horden, durch die damals noch teilweise vereiste Landschaft zogen. Das, was Gottfried Korff als Wahrnehmungsschock bezeichnet, gehört zur Demokratisierung von Wissen, indem genau solche Stereotypen und Vorurteile bei dem Museumsbesuch gebrochen werden. Die Alchimie der Authentizität ist nicht abhängig von dem Original, sondern von der Qualität des Erlebnisses des Ausstellungsortes.
Wer den Nachbau der Grotte Cosquer besuchen will, der muss zum alten Hafen von Marseille reisen. Hier steht die Villa de la Méditerranée, die 2013 eröffnet wurde, um Ausstellungen zu beherbergen, als Marseille europäische Kulturhauptstadt war. Dass sich der Nachbau der Höhle also einer vorgegebenen architektonischen Struktur anpassen musste, unterscheidet ihn von den anderen beiden Nachbauten von Höhlenkunst in Frankreich, genauso wie die Tatsache, dass diese Höhle eigentlich unter Wasser liegt. Und so begibt sich der Besucher auf die Reise unter Wasser. Tatsächlich ist das Gebäude der Villa ins Meer gebaut worden. Der Besucher betritt es über eine Brücke, neben dieser liegt auch das kleine Fischerboot vor Anker, mit dem Henri Cosquer und das von ihm zusammengestellte Team aus Hobbytauchern seines eigenen Verein 1991 hinaus zu den Felsen der Calanques fuhren, um die Höhle zu erforschen.
An dieser Stelle der Entdeckungsgeschichte der Grotte beginnt auch die Reise der Besucher*innen, denn diese befinden sich auf schwankendem Grund, ganz wie es Gottfried Korff in seinem Paradigmenwechsel formulierte. Mit einem Aufzug geht es hinunter in die Tiefe, denn die Grotte liegt etwa 37 Meter unter dem Meeresspiegel. Selbstverständlich reisen die Besucher*innen nicht tatsächlich in diese Meerestiefe, denn dann müssten noch aufwendigere Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden, aber der Nachbau vermittelt die Vorstellung des Eintauchens in die Tiefe, der Besuch wurde so authentisch wie möglich konzipiert. Unten angekommen, dürfen die Besucher*innen in kleinen Wägelchen Platz nehmen.
Der Zugang ist barrierefrei, Menschen jeglichen Alters, unabhängig jeglicher körperlicher Einschränkungen ist der Besuch zugänglich. Mit einem Audioführer ausgestattet folgen die Besucher*innen den Parcours der Entdeckung von Henri Cosquer und seinem Team. Ein Höhepunkt des Besuches ist der Moment, als Henri seine Taschenlampe auf einen Stein ablegt und auf der Höhlenwand gegenüber wie durch Zufall, eine menschliche Hand auf der Steinwand entdeckt. Dieser Augenblick wird durch technische Affekte an den Wänden und auditive Untermalung im Audio-Guide beim Besuch der Höhle rekonstruiert, genauso wie die Entdeckung der drei Pinguine oder die auf alle Ewigkeit im Kalk gefangene Krabbe. Alle Darstellungen und Besonderheiten in der Originalgrotte haben nicht nur einen Platz in dem Nachbau, sondern werden hier auch in Szene gesetzt.
Bei dem Besuch werden also zwei Narrative parallel erzählt, zum einen die Entdeckung der Grotte selbst, zum anderen die Geschichte der menschlichen Existenz in der Region und Nutzung der Grotte über die Zeiten hinweg. Hinzu kommt noch der lange Weg von der Erforschung der Grotte bis zu ihrer Nachbildung. Die Historie wird zu einer unendlichen Geschichte, die sich selbst erzählt, die Kunst der Steinzeit erweitert die Kunst der Gegenwart, sie zieht sich wie der Faden der Ariadne selbst durch die Menschheitsgeschichte. Und mittendrin, in diesem kleinen Wägelchen, das jeweils sechs Menschen pro Besuch durch die Replik der Höhle kutschiert, sitzt schließlich der Besucher oder die Besucherin ganz allein für sich und hört und sieht und staunt. Der Zugang zu dem, was Gottfried Korff Wahrnehmungssituation nennt, ist nahezu vollständig barrierefrei. Weder Mobilität noch Sprache oder Schrift bilden eine Barriere beim Besuch, der Nachbau der Cosquer Grotte ist ein Beispiel für inklusiven Zugang zu kulturellem Wissen und stellt gleichzeitig seine Demokratisierung dar.
Der Zugang zu der Replik ist auch unabhängig von inkorporiertem kulturellen Kapital. Nach Pierre Bourdieu bedeutet verinnerlichtes kulturelles Kapital beispielsweise Lesekompetenz oder die Fähigkeit, sich komplexe Inhalte aufgrund von erlerntem Wissen zu erschließen. Mit Bildungsgebäuden wie die Grotte Cosquer und anderen Nachbauten, wird also kein etabliertes Bildungsbürgertum reproduziert. Es findet keine horizontale Wissensvermittlung statt, sondern eine vertikale, die, da barrierefrei, für breite Bevölkerungsmassen konstruiert ist. Große Massen an Besucher*innen stellen kein Problem dar, sondern, im Gegenteil, das Gebäude wurde für sie konstruiert. Vielleicht wäre es für manche Menschen schöner, wenn ein Besuch mit dem Gefühl stattfindet, ein absolutes Privileg nur für sich allein zu erleben. Der Besuch wird spektakulärer, wenn sich mit der Betrachtung das Gefühl verbindet, zu dem Vertreter einer außerwählten Schicht zu gehören, Teil derer zu sein, die Zugang haben, zu diesem einen, so besonderen Erlebnis. Diesen Anspruch auf Exklusivität erfüllen Repliken bewusst nicht. Es ist stattdessen ihre Aufgabe die Demokratisierung von Wissen zu unterstützen und nicht die Reproduktion von Eliten. Denn auch das Gefühl, an einem sozial zugänglichen Ort zu sein, der niemanden ausschließt, kann als ein Privileg verstanden werden.
Auch dieses Versprechen hält die Replik der Grotte Cosquer. Das exklusive Erlebnis findet weniger in der körperlichen Anstrengung und Exklusivität der Beobachtung als in der geistigen und visuellen Wahrnehmung und damit im Kopf des Betrachters statt. Denn wenn man sich in der Dunkelheit der Ausstellungshalle, ausgestattet mit Kopfhörer, umgeben von der Stimme des Audioführer und des Lichts der Installationen befindet, ist man plötzlich allein mit der kreativen Darstellung aus Jahrtausenden und jenen Menschen aus der Vergangenheit, die für ihre Existenz nicht nur einen kreativen Ausdruck finden wollten, sondern diesen auch auf Dauer festzuhalten suchten. Und dass ihnen dies gelungen ist, davon zeugt der Besuch in der Replik. Es ist diese einmalige Verbindung zu dem kulturellen Gedächtnis menschlichen Daseins, die diesen Besuch zu einem einmaligen Erlebnis macht, selbst wenn wir uns als Menschen in einer Masse bewegen, so ist jeder Einzelne für sich doch einmalig, und um dieses Bewusstsein zu stärken, brauchen wir mehr barrierefreie Denkmäler. Im kulturellen Gedächtnis verankert bleibt die Geschichte der Menschheit in ihrer Einmaligkeit authentisch. Die Alchemie der Authentizität wird durch die Wahrnehmung, durch das Eintauchen in den Gegenstand der Betrachtung ausgelöst und dies einer möglichst breiten Bevölkerung barrierefrei zugänglich zu machen, ist auch Teil einer Demokratisierung von Wissen.
Photo von Mael BALLAND auf Unsplash