von Samuel Hamen
In ihrem „Tal der Herrlichkeiten“ braucht Anne Weber nicht viel, um ihre Hauptfigur in ihrer ganzen Erbarmungswürdigkeit zu porträtieren: einen Strand, ein Meerestier und einen vom Leben gezeichneten Mann, der sich kraftlos zu Boden fallen lässt. „In kaum einer Handbreit Entfernung, aber von Sperber ungesehen, lief ein Einsiedlerkrebs an ihm vorüber, mit einem Teil seiner Beine sein schützendes Gehäuse festhaltend, mit vier weiteren Haus und Leib vorwärtsbewegend, scheinbar unbekümmert, als wäre der Liegende kein ungleich größeres und somit bedrohliches Lebewesen, sondern eine angeschwemmte tote Robbe oder ein Stein.“
Von diesem „Mann in Not“, der im ersten Drittel stark an einen der mitleidwürdigen grauen Männerfiguren in Wilhelm Genazinos Romanen erinnert, erzählt die 1964 geborene Weber in ihrem Buch, das bereits 2012 bei S. Fischer veröffentlicht wurde und nun in überarbeiteter Fassung bei Matthes & Seitz erscheint. (Der „Deutsche Buchpreis“, den Weber 2020 für „Annette, ein Heldinnenepos“ erhalten hat, wird sicherlich mit ein Grund für diese Neuauflage gewesen sein.) Während der bretonische Wind die Gischt aufschäumt, während Sperber hinfällt, verdrängt, trinkt und offensichtlich ein hundsmiserables Leben führt, wird eine denkbar einfache Geschichte erzählt: von zwei Menschen, die sich finden und zu Liebenden werden.
Bei einem Spaziergang trifft Sperber auf eine Frau, die nur Luchs genannt wird. Der erste Kontakt am Strand der beiden ist missraten, aber was zählt, ist die magnetische Wirkung, die beide ab dem Treffen auf der Mole aufeinander ausüben. Im Gegensatz zu Pascal Merciers dahintuckerndem „Nachtzug nach Lissabon“, einem Roman, der sich einer ganz ähnlichen Konstellation widmet, ist die Frau aber weit mehr als eine Revitalisierungscrème für die faltige Seele des Mannes. Sie ist nicht nur ein Aufhänger für seine Geschichte, sondern wird im Laufe der Handlung auch in ihr Recht gesetzt.
Sperber bezeichnet sich selbst als „eine Art Neuling oder Trottel der Liebe“ – seine erste Ehe endete unglücklich, der Teenager-Sohn sitzt in Kanada und lässt die Briefe des Vaters unbeantwortet. Über Luchs erfährt der Leser noch weniger: Sie arbeitet in einem Krankenhaus, entstammt einer wohlhabenden Familie und wohnt in einem kleinen Appartement in Paris. Die biografischen Koordinaten sind in der Tat nebensächlich: Weber stattet ihre Figuren gerade so weit mit Hintergrunddetails aus, dass sie nicht als bloße Andeutung zwischen den Zeilen verschwinden.
Arm oder reich, Akademiker oder Arbeiter, Provinz oder Hauptstadt – diesen Parametern, die heutzutage oftmals Romanen aus Frankreich wie Deutschland ihren gesellschaftskritischen Drive geben, wird kaum Beachtung geschenkt; sie sind nicht ausschlaggebend, auch wenn sie den Figuren notgedrungen eingeschrieben sind. Die knapp zehn Jahre, die seit der Erstveröffentlichung vergangen sind, machen sich nicht nur an dieser Stelle bemerkbar. Sperber wird nicht – und diese Erkenntnis zeigt, wie schnell sich Lektüregewohnheit und -kritik ändern können – als der mittelalte, weiße Mann porträtiert, für den man heute reflexartig nur – Stereotyp, der er ist – ein wenig Mitleid und viel Groll hegt.
Weber schreibt vielmehr über eine ganz besondere ménage à trois, aufgespannt zwischen weltlicher Derbheit und metaphysischer Apartheit. Den dritten Part, in dem sich alles spiegelt, bricht und verstärkt, stellen die bretonische Küste, später die französische Hauptstadt dar. In deren Formen und Farben werden die Seelenzustände der Figuren wenn auch nicht konkret, so doch atmosphärisch spürbar, als Druck, als Ladung, die nun plötzlich die Leben dieser Einsamen durchfährt. Es dämmert und dunkelt. Das Licht bricht sich an der Schattenlinie des Horizonts, schilfähnliche Gewächse bahnen sich ihren Weg durch den Asphalt: „Das sich zurückziehende Meer hatte eine hauchdünne Wasserschicht hinterlassen, auf der sich das Himmelsblau und die wenigen darauf vorüberziehenden Wolken spiegelten, und wie schon einmal war es Sperber, als hätte ihn jemand auf den Kopf gestellt und als liefe er zwischen weißen Wolken hindurch über den Himmel.“
Innen und Außen trüben sich gegenseitig ein. Dadurch wird aber – und das macht Webers Roman aus – nichts verklärt, sondern überhaupt erst als Phänomen, als Zustand und Gefühl greifbar. Zu keinem Zeitpunkt glitscht Webers Prosa dabei in diesen unerträglichen Schwulst ab, in das Wabern einer Literatur, die sich daran berauscht, angeblich tiefe Wahrheiten zu raunen, um Liebe und Zärtlichkeit schlussendlich doch zur bloßen Gefühligkeit zu degradieren. Das ist in Anbetracht der Love-Maschinerie, die mit ihren Herzchen und ihrer Kuppelei-Rhetorik das emotionale Miteinander (und das Sprechen darüber) so nachhaltig überzuckert hat, eine bemerkenswerte Leistung.
Webers Sätze sind herb, einer grundsätzlichen Melancholie abgetrotzt, die einen gelehrt hat, sich in Belangen der Liebe vor jedem Kitsch zu hüten. In diesem Sinne darf Webers „Tal der Herrlichkeiten“ auch nicht damit enden, dass Luchs und Sperber dem Spätsommer-Sonnenuntergang entgegenpromenieren. „Doch was, wenn sie recht gehabt hätten in jener frühen Morgenstunde?“, fragt die Erzählerstimme zwischendurch, als beide sich in Paris gefunden haben. „Was, wenn sie wirklich geborgen wären? Für immer? Für das kleine Immer ihrer Lebenszeit?“
Ohne zu viel zu verraten: Auch wenn Weber Liebe als ein existenzielles, überzeitliches Gut beleuchtet, verliert sie deren gesellschaftliche Rahmung nicht aus dem Blick. Sexistische Gewalt wird auch ihre Figuren niederringen, so gerne diese sich auch als von Raum und Zeit Enthobene betrachten wollen. Es wirkt, als hätte die Autorin sich an den entscheidenden Erzählstellen davor in Acht genommen, der Romantik und ihrer Verlogenheit nicht auf den Leim zu gehen – und das umso mehr, je stärker Sperber und Luchs sich ihr schutz- und hemmungslos hingeben.
Im dritten und letzten Teil des Romans wagt sich Sperber dann nach der Küste und der Stadt in eine dritte Zone vor, in einen Raum tatsächlicher Dämmerung. Den gängigen Realismus, um den sich „Tal der Herrlichkeit“ von Beginn an wenig schert, lässt Weber ohne jeden Abschiedsschmerz hinter sich. Das ist nur folgerichtig: Schließlich hat auch ihre Hauptfigur sich längst von einer Realität befreit, die ihr nichts mehr zu sagen und nichts mehr zu bieten hat.
Beitragsbild von Antoine Similon