von Titus Blome
Wer sind wir, wenn die Arbeit unser Leben ist? Diese Frage ist das Kernstück der Dystopie »Severance« auf Apple TV+, das stille Serienhighlight des Jahres. Im Mittelpunkt der neun Folgen steht die zweifache Geschichte von Mark Scout (Adam Scott), der in der Abteilung für Macrodata Refinement (MDR) der ominösen Lumon Industries arbeitet. Zweifach deshalb, weil Mark doppelt existiert – einmal im Büro und einmal außerhalb.
Mark und seine Kolleg*innen haben sich der Severance-Prozedur unterzogen, die durch ein Hirnimplantat eine Zweiteilung der Erinnerungsströme vornimmt. Das bedeutet, dass sie sich jeweils in einen »innie« und einen »outie« spalten – ein Erinnerungsstrom mit dazugehöriger Persönlichkeit, die innerhalb und eine andere, die außerhalb des Büros aktiv ist. Dabei haben Outies keinen Zugriff auf die persönlichen Erinnerungen der Innies und umgekehrt. Outie-Mark stellt sich morgens in den Aufzug des Büros, sein Implantat wird aktiviert und er wacht – aus seiner Perspektive – nach nur wenigen Sekunden acht Stunden später im selben Fahrstuhl wieder auf.
Der Eingriff ist freiwillig. Mark hat sich ihm unterzogen, um wenigstens einen Teil seines Tages fernab der Erinnerung an seine Frau Gemma zu verbringen, die bei einem Autounfall ums Leben kam. Schon der erste Moment, in dem er dem Publikum vorgestellt wird, zeigt ihn weinend in seinem Auto. Dann hängt er sich seinen Firmenausweis um und läuft durch das Lumon-Gebäude zum Aufzug. »See you this evening«, sagt ihm ein Sicherheitsbeamter. »See you soon«, antwortet Mark.
Work-Life-Severance
Der »severed floor« sieht aus, als hätten Wes Anderson und Steve Jobs sich dort gemeinsam ausgetobt. Lange, labyrinthische Flure von strahlendem Weiß, voll leerer Konferenzräume und mit LED-Deckenleuchten. Die Einrichtung der Räume ist Mid-Century Modern doch Computer und andere technische Geräte verleihen der Ästhetik eine beabsichtigte Zeitlosigkeit. Die Macrodata-Refinement-Abteilung ist übermäßig groß, mit nur vier Tischen in der Mitte und Trennwänden zwischen ihnen. Die Computer sind schick, doch leisten wenig, sie wirken wie Spielzeuge. Obwohl die Symmetrie im Büro perfekt ist, rückt die Kameraführung den Spiegelpunkt nie mittig ins Bild. »Everything’s just a little bit off, which is really uncomfortable«, erklärte der Produktionsdesigner Jeremy Hindle gegenüber Variety.
Während aktuell die immer stärkere Verflechtung von Arbeit und Freizeit, will heißen: die Kolonisierung der Lebenszeit durch die Arbeit unter dem Deckmantel der Flexibilität und der Selbstoptimierung, im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Diskussion steht, geht »Severance« in die entgegengesetzte Richtung. Die im Zeitalter des Smartphones eigentlich veraltete strikte Trennung von Arbeit und Freizeit wird auf die Spitze getrieben und mit wortwörtlich chirurgischer Präzision vollzogen.
Der Arbeitsplatz in der Serie ist eine Parallelwelt, eine perfekte kleine Blase des Kapitals, abgetrennt von sämtlichen störenden Außeneinflüssen, sogar den eigenen Erinnerungen. Bei einem Kennenlernspiel für Helly (brillant gespielt von Britt Lower), die Marks ehemaligen Lieblingskollegen Petey (Yul Vazquez) ersetzt, sollen alle jeweils etwas über sich erzählen. Als Irving (John Turturro), der etwas pedantische Dienstälteste, an der Reihe ist, meint er lediglich: »Something about me is that I know all nine core Lumon principles«, denn mehr kennt er nicht. Sogar Helly weiß ihren eigenen Namen nicht und muss ihn erst von Mr. Milchick (Tramell Tillman) erfahren, dem aalglatt gut gelaunten Aufseher, der im Gegensatz zu den anderen nicht severed ist.
Im Auge der Arbeit
Die Innies von Mark und seinen Kolleg*innen, deren Existenzen auf den severed floor beschränkt ist, sind menschlich und doch weniger-als-menschlich. Sie wirken wie Abstraktionen, Skizzen von Personen, flüchtig gezeichnet mit betriebseigenen Kugelschreibern. Die Grenzen des Büros sind die Grenzen ihrer Welt und dieser Fakt spiegelt sich in ihrer Eindimensionalität. Irving bezieht seine Identität aus seiner Liebe für die Firmenregeln, die er quasi-religiös verfolgt und predigt. Dylan (Zach Cherry), der vierte im Bunde, verfolgt eifersüchtig den Gewinn der wertlosen kleine Trophäen, die Lumon für besondere Tüchtigkeit aushändigt.
Ohne ihre persönliche Erinnerungen konnten sie alle von Lumon zu kleinen Zahnrädern erzogen werden, die ihre vorgegebene Aufgabe verrichten: das monotone Ordnen verschlüsselter Zahlenkolonnen, von denen sie nicht einmal wissen, wofür sie einstehen. Sie kennen nicht genug, erfahren zu wenig, um mehr zu sein als das. Jeder ihre Schritte, in den Computern, auf den Gängen, wird durch Kameras überwacht. Wer Regeln bricht, wird im zynisch »break room« betitelten Raum diszipliniert, bis er bricht. Die Mitarbeiter*innen können sich dagegen kaum wehren, weil eine Kündigung einem Selbstmord gleichkommt. Sollte ihr Outie das Büro nie wieder betreten, wachen sie auch nie wieder im Fahrstuhl auf, sie hören auf zu existieren.
Die Prämisse der Sendung gibt sich als foucauldianischer Fiebertraum, die Miniaturversion einer Disziplinargesellschaft par excellence. Die Lumon Mitarbeiter*innen werden in vollständiger Sichtbarkeit gehalten, jede*r kriegt einen festen Platz im Büro und in der Hierarchie. Über allem ragen Mr. Milchick, Mrs. Cobel (Patricia Arquette) und Mr. Graner (Michael Cumpsty), die über Produktivität und Einhaltung der Firmenprotokolle wachen und Regelbrüche abstrafen.
Jedoch wurde bei Lumon die größte Schwachstelle solcher Gesellschaften ausgebügelt: ihre Lücken. Gibt es bei Foucault noch Momente zwischen den Disziplinierungskontexten (der Schule, der Fabrik etc.) in denen das Individuum unbeobachtet bleibt und Widerstand mobilisieren kann, löscht die Severance-Prozedur diese Möglichkeit aus. Außerhalb des Büros, außerhalb des Panoptikums des severed floor, existieren Mark und seine Kolleg*innen nicht – sie sind dazu verdammt, ein Subjekt rein nach der von Lumon Industries vorgegebenen Logik zu sein.
Genau in diese dystopische Spannung hinein entfaltet sich Stück für Stück der Plot der Serie. Denn, die disziplinäre Maschinerie ist schwerfällig und unflexibel und so wird alles Neue zum Störfaktor.
Sand im Getriebe
Es beginnt mit der Ankunft Hellys, die Dinge in Frage stellt, die den anderen längst selbstverständlich geworden sind. Sie möchte direkt wieder kündigen, doch die Führungsebene will ihre Nachrichten nicht an ihren Outie weiterleiten. Hellys eskalierender Antagonismus provoziert immer wieder Machtdemonstrationen von Lumon. Sie stellt ein Gefahr für die Produktivität dar und muss diszipliniert werden. Dies schmiedet die MDR-Abteilung zu einer Schicksalsgemeinschaft wider Willen zusammen.
Auch außerhalb des Büros berühren sich die Welten, als der dort depressive Trinker Mark plötzlich von seinem ihm unbekannten Arbeitsfreund Petey aufgesucht wird. Dieser hat das Unmögliche geschafft und seine beiden Erinnerungsströme wieder reintegriert. Er ist auf der Flucht vor Lumon, die angeblich Böses im Schilde führen. Um der Sache auf den Grund zu gehen, woran in dem Unternehmen überhaupt gearbeitet wird, bittet er Mark um Hilfe. »What if you’re murdering people eight hours a day and don’t know it?« fragt er, worauf Mark nur antwortet, nur antworten kann: »Am I?«. Erst tut er es ab, doch schließlich beginnt auch er nach Antworten zu suchen, beunruhigt durch alles, was ihm durch das Abspalten seines Innies fehlt.
Ben Stiller, Regisseur von sechs der neun Folgen, steigert die Spannung in manchmal quälender Langsamkeit. Durch die langsam aufkommenden Widerstände des Macrodata-Refinement-Departments, durch erste Abweichungen von der Routine, beginnen die Angestellten zu mehr zu werden als dem, was Lumon für sie vorsieht. Die Charakterentwicklung ist deshalb so spannend, weil sie so grundsätzlich ist. Wo vorher kaum Persönlichkeiten waren, höchstens Eigenarten, bilden sich zunehmend komplexe Charaktere, die sich wiederum an der Gegenwehr gegen die immer despotischer erscheinenden Lumon Industries stärken.
Die Serie widmet sich jedem Charakter auf eigene Weise. Im ewigen Labyrinth der Büroräume trifft Irving auf Burt (Christopher Walken) aus der »Optics and Design«-Abteilung. Beide entwickeln eine tiefe Zuneigung zueinander, aus der langsam mehr erwächst – mit einer tragischen Wendung. Für Burt missachtet Irving sogar mehrfach die von ihm so geschätzten Firmenregeln. Dylan wiederum erfährt, dass sein Outie einen Sohn hat und in seiner wütenden Erkenntnis, was Lumon ihm vorenthält, wächst er über sich selbst hinaus.
Innie-Mark findet ein Buch, dessen Autor der ihm unbekannte Schwager seines Outies ist, ein selbsternannter Visionär und Guru, und das seinen Weg ins Büro gefunden hat. Auf dem Klo sitzend liest er Sätze wie »Your so-called boss may own the clock that taunts you from the wall, but my friends, the hour is yours« und »Your job needs you, not the other way around«. Um die Weisheit dieser Aphorismen, die anderswo wohl einem Abreißkalender angemessen wären, versammeln sich Mark, Dylan, Irving und Helly und erklären Lumon den Kampf.
Eine Dystopie unserer Zeit
Der Plot außerhalb des Büros verfolgt währenddessen eher die Struktur vieler klassischer Thriller. Ein Mann, der versucht mehr und mehr über den ominöse Megakonzern herauszufinden und dabei fast unfreiwillig in eine Welt aus Intrige, Mord und dunklen Geheimnissen stolpert. Es ist durchaus dramatisch, aber scheint eher dafür gedacht, die Konflikte innerhalb des Büros für das Publikum zu schärfen. Wirklich spannend wird es erst, wenn sich die Handlungsstränge Innen und Außen zunehmend miteinander verflechten. Warum ist Marks Chefin Mrs. Cobel auch seine Nachbarin und nennt sich Mrs. Selvig? Wer hat Petey bei der Reintegration seiner Erinnerungen geholfen? Was tut Lumon überhaupt? Fragen, die die Serie aus der Sicht einer Person, doch zweier Persönlichkeiten anteasert, doch nie endgültig beantwortet.
»Severance« hat durchaus Ähnlichkeiten zu Shows wie »Black Mirror«, verzichtet aber auf das bedeutungsschwangere Zwinker-Zwinker, dass das dargestellte Szenario nur ein paar Jahre entfernt sei. Die dystopische Botschaft der Serie entfaltet sich in einem in sich geschlossenen Gedankenspiel, welches es schafft, Arbeit und Freizeit auf subtile Weise gegeneinander aufzubauen und auszuspielen. Dabei gibt sie sich keineswegs entlang der naiven Zweiteilung von Arbeit = Böse, Freizeit = Gut, sondern arbeitet mit mehr Nuance.
Outie-Mark ist eine tragische Figur, die zu viel trinkt und lieber acht Stunden des Tages verliert, als sie in Trauer um seine tote Frau zu verbringen. »I just feel like […] this isn’t the same as healing«, sorgt sich seine Schwester um ihn. Innie-Mark hingegen ist kein schlechter Mensch, nur ein eindimensionaler. Das Potenzial für Wachstum und sein Wille dazu wird in der Serie immer wieder aufgezeigt. Keiner der beiden ist vollständig ohne den anderen. Außen beraubt Mark sich der Möglichkeit, sich durch etwas anderes zu definieren als seine Trauer. Innen ist Mark fremdbestimmt von einer Macht, die er nicht in Frage stellen kann, weil eine Alternative unvorstellbar ist.
»Severance« führt das Bedürfnis des kapitalistischen Systems ad absurdum, sich der Menschlichkeit der eigenen Subjekte zu entledigen und nur die verwertbaren Teile nachfragen zu können. Die Serie erzählt davon, wie sich der Widerstand der Arbeiter*innen bildet, der chirurgisch umgangen werden sollte. Die Serie baut diese strukturelle Ebene so brillant aus, dass das, was überhaupt gearbeitet wird, dabei fast zum MacGuffin, zum inhaltslosen plot device gerät. Die Serie warnt aber nicht vor der Arbeit per se, sondern vor dem, was passiert, wenn die einem Arbeitsverhältnis inhärenten Machtbeziehungen nicht mehr in Frage gestellt werden.
Ein Stück im New Yorker zieht die kluge Parallele zwischen der Kontrolle im Lumon-Büro und Amazon, die kürzlich in einer firmeninternen App Worte wie »slave labor«, »union«, »plantation« oder »pay raise« gesperrt haben. In einer zunehmend algorithmisch fremdbestimmten und mediatisierten Arbeitswelt sind die so dringend notwendigen Lücken im Panoptikum der Arbeit schwerer und schwerer zu finden.
Photo by Stephen Caserta on Unsplash