von Lennart Rettler
Eine Person zeigt ihren Laptop, eine weitere liegt im Bett. Dann folgt eine Person am Laptop auf der Arbeit, eine andere Person scheint zu spazieren. Jemand gießt Pflanzen und ein anderer sitzt ebenso vor dem Laptop. Das sind Ausschnitte dessen, was mir die App BeReal an einem Dienstagmittag anzeigt.
Seit 2020 gibt es die französische App, die erst seit diesem Sommer richtig einschlägt. Ihr Prinzip ist ziemlich schnell erklärt: User*innen posten jeden Tag einen Beitrag. Dieser besteht aus einem Foto der Front- sowie einem Foto der Rückkamera, welche gleichzeitig aufgenommen werden. So entsteht ein kurzer Ausschnitt des Alltags, der dokumentiert, was eine Person gerade erlebt und wie sie selbst dabei aussieht. Die Beiträge können nur von akzeptierten Freund*innen gesehen werden und auch erst dann, wenn die User*innen selbst einen Beitrag hochgeladen haben. Be Real versendet jeden Tag eine Benachrichtigung zu einer zufälligen Uhrzeit. Mit der Benachrichtigung haben die User dann exakt zwei Minuten Zeit, um einen Beitrag hochzuladen. Wer jetzt Angst hat, dass die App-Nutzung zu konstanter Smartphone-Aufmerksamkeit verpflichtet, sei schnell entwarnt: Es lässt sich auch noch nach diesen zwei Minuten, selbst vier Stunden später, ein Beitrag hochladen. Allerdings muss man dann mit der sozial ächtenden Konsequenz leben, ein Late gepostet zu haben. Denn dieser Begriff verziert für alle sichtbar den Beitrag des Zuspätkommers.
Schade ist, dass in der deutschen Benachrichtigung die Worte „Zeit für Be Real“ verwendet werden. Im Englischen heißt es schlichtweg „Time to Be Real“, versehen mit zwei aufdringlichen, gelben Warnzeichen. Der englischsprachige Ausruf verdeutlicht alles, was die App uns versprechen möchte. Mit Eintritt der Benachrichtigung ist es Zeit, real zu sein – zumindest über die Dauer der Beitragserstellung. Damit bedient die App ein Verlangen, dass unsere digitale Welt prägt, das Verlangen nach Authentizität, nach realness. Die App baut ihre Daseinsberechtigung auf der Prämisse auf, dass unsere Selbstpräsentation auf allen anderen sozialen Medien weniger authentisch, gar fake, sei.
Jetzt lässt sich darüber streiten, ob die Beiträge auf dieser Plattform wirklich realer sind als bei der Konkurrenz. Anbringen lässt sich, dass es diverse Wege gibt, den Authentizitätsanspruch der App zu umgehen. So posten viele User ihren Beitrag einfach später, einige denken sicherlich schon morgens über den perfekten Moment für ihren heutigen BeReal-Beitrag nach, andere sind sicher auch in der Lage sich innerhalb von zwei Minuten perfekt zu inszenieren. Diese Diskussion ist müßig. Viel interessanter ist zu sehen, was uns die App über unser gestörtes Verhältnis zum Authentizitätsbegriff und der digitalen Welt verrät.
Authentizität erlebt täglich Hochkonjunktur bei allem, was in irgendeiner Weise mediale oder digitale Sphären umfasst. Marken sollen auf Social Media unbedingt authentisch sein. Gleiches gilt für Politiker*innen und besonders für Influencer*innen. Sportmannschaften auf der ganzen Welt lassen sich dokumentarisch inszenieren, um ein scheinbar authentisches Bild von sich selbst zu präsentieren. Vergessen bleibt dabei, dass digital vermittelte Präsentation nie authentisch sein kann. Authentizität ist ein Begriff, der dieser Tage vor allem strategischer Natur ist. Authentizität wird als Teil einer Verkaufsstrategie für Beziehungen angeboten, wohlwissend, dass es sie in diesen Beziehungen eigentlich nicht geben kann. Es gibt keine authentischen Marken, es gibt keine authentischen Influencer*innen. Authentizität ist ein Zuschreibungsprozess, und ein solcher lässt sich wunderbar beeinflussen. Und genau das konterkariert den eigentlichen Anspruch an den Begriff.
Viele empfinden Selbstdarstellung als Gegenspieler von Authentizität. Selbstdarstellung wird ermöglicht durch Zeitvorsprung zwischen Planen und Handeln. Je mehr Möglichkeiten ich habe, über meine Selbstpräsentation nachzudenken, desto stärker kann ich sie verändern. Wenn auch das in der realen Welt ebenso gilt, ermöglicht digitale Interaktion einen deutlich größeren Zeitvorsprung. Wenn ich möchte, unternehme ich 2000 Selfie-Versuche, bis ich das Beste gefunden habe. Wenn ich möchte, überlege ich 30 Minuten lang, bis mir der lustigste Spruch einfällt. Durch das zeitliche Limit probiert BeReal, die Menschen genau hier in ihrer Selbstdarstellung zu begrenzen.
Nun sollte aber die Frage erlaubt sein, ob Menschen überhaupt in diesem Prozess begrenzt werden sollten. Interessant ist, dass unser heutiger Anspruch an Authentizität in digitaler Darstellung stark von den Wünschen abweicht, die wir ursprünglich an den digitalen Raum hatten. Dafür lohnt sich ein Blick auf die Arbeiten Sherry Turkles, einer Soziologin des MIT. Sie setzte sich besonders in den frühen Jahren des Computers und der Digitalität mit den menschlichen Beziehungen zu diesen auseinander. In den 80er-Jahren forschte sie vor allem zu MUDs (Multi-User-Dungeons/ Multi-User-Domains), was wir heute am ehesten als MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role-Playing Games) bezeichnen würden. Also Online-Rollenspiele, bei denen man mit anderen Menschen interagieren kann. In den von Turkle erforschten Anfängen stützte sich die Interaktion der Spieler vor allem auf Chat-Nachrichten.
In vielen Interviews stellte Turkle fest, dass die Spielenden schnell zu Meistern der eigenen Selbst-Präsentation und Selbst-Kreation wurden. Sie erklärte die Spielenden der MUDs zu Pionieren unserer digitalen Identitätsbildung. Man kann also sagen, wenn immer Influencer*innen überlegen, welcher Filter für das Foto des neu eingerichteten Wohnzimmers am meisten das Gefühl von Geborgenheit vermittelt, tun sie nichts anderes als MUD-Spielende, die sich ein neues digitales Kleidungsstück aussuchen.
Dabei ging es in diesem Abschnitt der digitalen Weltgeschichte nie wirklich um Authentizität. Ganz im Gegenteil: Die Möglichkeit, Identität digital zu kreieren, wurde als begrüßenswerte Alternative zum eintönigen bzw. beschränkten Alltag angesehen. Nicht umsonst wird der Computer bei Turkle auch als Second Self bezeichnet. Turkle hat viel über das Verhältnis von Online- zu Offline-Identitäten veröffentlicht, wobei sie stets betont, dass die Online-Identitäten selten eine vollständige Alternative zur Offline-Persönlichkeit darstellen. Menschen tendieren vielmehr dazu, bestimmte Aspekte des eigenen Selbst hervorzuheben. Turkle umschreibt diesen Aspekt mit dem Ausruf You are what you pretend to be und vielleicht sagt es ja wirklich viel mehr über uns aus, wenn wir uns zeigen, wie wir gesehen werden wollen, als eine möglichst reale Selbstdarstellung – egal ob als Avatar in MUDs oder mit Hilfe des perfekten Urlaubsfoto auf Instagram.
Jedoch ist die digitale Welt, bzw. die menschliche Wahrnehmung dieser, in den Hochzeiten der MUDs eine ganz andere gewesen als heutzutage. Digitale und reale Welt wurden als getrennte Räume wahrgenommen. Deshalb galt es als gesellschaftlich akzeptiert, in der digitalen Welt eine andere Identität zu verkörpern als sie in der realen Welt zu sein scheint. Das gilt für Online-Rollenspiele heute noch in ähnlicher Weise.
Unser Alltag ist mittlerweile jedoch durchgängig von Digitalität geprägt. Vor einem Bewerbungsgespräch, suchen Arbeitgeber nach Linkedin-Profilen, vor dem ersten Date die potentiellen Partner*innen nach Instagram-Auftritten. Durch soziale Medien ist eine Trennung von digitaler und realer Welt kaum mehr möglich. Auch Turkle beschrieb bereits die Verschmelzung beider Welten, die in Zukunft nur noch stärker werden wird. Genau deshalb ist Authentizität für uns so wichtig. Weil die digitale Welt kein Alternativraum, sondern primär eine Erweiterung unseres realen Lebens und Erlebens darstellt. Diese Verschmelzung nimmt viel vom utopischen Potential des Digitalen, sich selbst neu und erweitert erfinden zu können. Unser Anspruch an Authentizität gipfelt im Verlangen, auch digital als reale Person gelten zu müssen, z. B. durch eine immer wieder diskutierte Ausweispflicht im Internet. Vielleicht sollten wir dieser Verschmelzung entgegenwirken, vielleicht sollten wir uns etwas vom Identitätskreationspotential des Digitalen beibehalten.
Auch wenn BeReal gerade eine beruhigte Alternative zur übersteigerten Darstellung auf Konkurrenzmedien darbietet, bleibt die Frage, wie lange das Interesse am Gewöhnlichen wohl anhalten wird. Denn mal ganz ehrlich; Wer will wirkliche Authentizität? Wer will täglich sehen, wie alle nur ihrer Arbeit nachgehen, vor dem Laptop sitzen oder im Bett liegen? Authentizität ist oft leider langweilig. Ich plädiere also dafür: Don’t be real! And don’t be fake. Be what you pretend to be.