von Tobias Gralke
„Und was mach ich jetzt?“, fragt die Wissenschaftlerin, die gerade erfährt, dass ihre Stelle trotz guter Arbeit nicht verlängert wird. Sie könne ja einen Projektantrag stellen, sagt ihre Vorgesetzte – oder in die Wirtschaft gehen und nach dem Doktor zurückkommen, rät die Politikerin. Alle drei Figuren werden verkörpert von der gleichen Person, nach 60 Sekunden beginnt der Video-Loop von vorn: #ichbinhanna als snackable content, der Protest gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz und die Arbeitsbedingungen im akademischen Betrieb, jetzt auch auf TikTok.
Das Video vom 26. Juni dieses Jahres ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens, die Plattform: Während #ichbinhanna zuerst auf Twitter (und mit Abstrichen auf Instagram), dann in traditionellen Medien Wellen schlug, finden sich auf TikTok gerade einmal vier Videos mit diesem Hashtag (dafür mit immerhin zusammengenommen 470.000 Views). Zweitens, die Akteurin: Judith Ackermann (@dieprofessorin) ist Forschungsprofessorin für Digitale und vernetzte Medien in der Sozialen Arbeit an der FH Potsdam – und sie ist „Offizielle Creatorin“ im Rahmen des konzerneigenen Förderprogramms #LernenMitTikTok.
Handelt es sich bei dem Video also um eine Auftragsarbeit? Wie verhält es sich zu vergleichbaren ‚nicht-offiziellen‘ Videos auf TikTok? Und welche Rolle spielt die Plattform selbst bei der zunehmenden Entwicklung solcher Inhalte zwischen Wissenschaftskommunikation, politischer Aufklärung und Unterhaltung?
TikTok wächst
TikTok, die am häufigsten heruntergeladene App im Jahr 2020, war seit ihrem Erscheinen im Jahr 2016 eine sub- und popkulturelle Spielwiese für alle, denen Instagram zu glatt, Twitter zu elitär, YouTube zu verschwörungslästig und Facebook kein Begriff mehr ist. Eine Plattform, die zwar genauso durchkommerzialisiert wie alle anderen erscheint, mit weniger Daten- und Jugendschutz, mehr Zensur und Diskriminierung, dafür aber: schnell, kreativ und ohne Boomer.
Spätestens seit letztem Jahr beeinflusst die Plattform ihre Inhalte aber nicht mehr nur durch Shadowbanning und Unterdrückung von Kritik am Konzern, sondern auch durch öffentlichkeitswirksame, millionenschwere Förderprogramme. Dadurch verändert sich auch die Nutzer*innenstruktur. Im Mai 2020 startete #LearnOnTikTok, kurz darauf auch der deutsche Ableger. Ziel sei es, so die Pressemitteilung, „ein Ökosystem des Lernens zu schaffen, in dem kreative Videoinhalte im Kurzformat immer und überall verfügbar sind. Vom Fachwissen von Mediziner*innen, Sexualpädagog*innen und Lehrer*innen über Life Hacks, Motivationstipps oder Kochideen“. Mittlerweile läuft die zweite Runde des Programms, das allein in Deutschland über mehr als 4 Millionen Euro verfügt. Wieviel davon an einzelne Creator*innen geht, ist nicht bekannt. Aber sie werden, so heißt es in der Pressemitteilung, „für ihre Teilnahme am Programm entlohnt und durch eine Influencer-Agentur professionell betreut.“
Der Erfolg des Programms hat viel damit zu tun, dass es auf TikTok bereits länger eine selbstorganisierte Kultur der Wissenschaftskommunikation gab (aus der auch einige der mittlerweile offiziellen Creators hervorgegangen sind). Wer unter dem Hashtag #science nachsieht, findet eine große Vielfalt von Themen und Videos, die sich mit wissenschaftlichen Phänomen auseinandersetzen: von mikroskopisch vergrößertem Menstruationsblut über das Trinkverhalten von Hunden und die Evolutionsgeschichte des Nilpferds bis hin zu wundersamen Flüssigkeiten und selbstgebastelten Plastikflaschenraketen (natürlich aber auch eine Fülle an Desinformation und Pseudowissenschaft).
Die Kommunikationswissenschaftler*innen Jing Zeng, Mike Schäfer und Joachim Allgaier haben für diese TikTok-spezifische Wissenschaftsbegeisterung den Begriff ‚vernacular science‘ vorgeschlagen. Dabei gehe es weniger um einen Gegensatz zur akademischen Wissensproduktion, als vielmehr um vernetzte kulturelle Praktiken, die die Grenzen zwischen Amateur- und Profi-Wissenschaft aufweichen. Drei Typen dieser vernakulären, also eigenständig herausgebildeten Kultur der Wissenschaftskommunikation lassen sich den Forscher*innen zufolge auf TikTok ausmachen: 1) ‚affective science memes‘. Das meint Inhalte mit Wissenschaftsbezug, deren Viralität vor allem durch ihre Referentialität und ihre emotionale Wirkung befeuert wird. 2) Inhalte, die vorrangig ästhetische Qualitäten von einzelnen Wissenschaftsphänomenen herausstellen. 3) ‚nerdy is the new trendy‘. Das meint Videos, in denen vor allem Fun Facts oder überraschende Einzelinformationen geteilt werden. Insgesamt betrachtet erweitere TikTok zwar so nicht das Spektrum öffentlicher Repräsentationen von Wissenschaft (ein starker Fokus liege auch hier auf Naturwissenschaften und populären Einzelpersonen), füge aber zumindest interessante Facetten hinzu – zum Beispiel eine Aufwertung des Prozesses gegenüber dem verwertbaren Ergebnis.
Politische Wissenschaft
Wenn #LearnOnTikTok nun die Produktion wissenskommunikativer Inhalte finanziell fördert, macht sich die Plattform damit also eine gewachsene spielerische Kultur zunutze, verändert sie aber auch aktiv in eine offiziellere Richtung. Das Vorgehen („strategische Diversifizierung der Inhalte“, wie es in der Pressemitteilung heißt) passt zu den Bemühungen um Zielgruppenerweiterung, in deren Zuge TikTok zunehmend versucht sein Geld an so ziemlich alle Institutionen des deutschen Bürger*innentums zu verteilen – von cis-Männer-Fußball über die Bayerische Staatsoper und andere Kulturorte bis hin zu korrupten CDU-Politiker*innen.
Vor diesem Hintergrund ist TikToks Einsatz für Wissenschaft und Bildung vor allem als geschickte Wachstumsstrategie zu verstehen. Sie korrespondiert gleichzeitig mit dem verbreiteten Ideal des niedrigschwelligen, lebenslangen Lernens sowie mit der veränderten öffentlichen Wahrnehmung von Wissenschaft im Zuge der ökologischen Krise und der Pandemie. Noch vor wenigen Jahren wäre der Ausruf „Listen to the science!“ mit Sicherheit kein Schlachtruf geworden, hinter dem sich eine globale Bewegung versammelt. Genauso wenig hätten Figuren wie Christian Drosten oder Anthony Fauci als rechtspopulistische Feindbilder getaugt. Sich in Zeiten zunehmender Wissenschaftsfeindlichkeit auf die Seite ‚der Bildung‘ zu stellen, hilft TikTok dabei, sich in Reaktion auf die vielfältige Kritik der letzten Jahre als verantwortungsbewusstes, vielleicht sogar progressives Netzwerk zu inszenieren.
Dazu gehört es auch, dass TikTok sich nicht auf ein weltanschaulich neutrales Bildungsverständnis zurückzieht, sondern zum Teil explizit diskriminierungskritische Inhalte fördert. Ein Beispiel dafür ist der Kanal @WillkommenZuhause, der aus der ersten Phase des #Lernen-Programms hervorgegangen ist. Unter dem Dach von RTL macht das mehrköpfige Team seitdem antirassistische Bildungsarbeit im TikTok-Format: Mit einfachen Begriffserklärungen, Einordnungen, Kommentaren und Tipps erzielt der Kanal regelmäßig hohe Klickzahlen, erzeugt kontroverse Diskussionen und geht dabei über ein liberales, bloß individualistisches (Anti-)Rassismusverständnis hinaus. Thematisiert werden strukturelle Zusammenhänge wie institutionelle Rassismen, koloniale Kontinuitäten und mediale Verzerrungen – knapp und zugespitzt, aber nie überdreht oder unzulässig verkürzt, vor allem verständlich und zielgruppengerecht.
Natürlich überschreitet @WillkommenZuhause damit nicht die Grenzen dessen, was im Rahmen plattformkapitalistischer Verwertungslogik akzeptabel ist. Materialistische Zusammenhänge werden ausgespart, auch Rassismen bei RTL oder TikTok selbst werden natürlich nicht thematisiert. Es ist in diesem Sinne davon auszugehen, dass RTL und TikTok den Kanal weniger aus emanzipatorischem Anspruch betreiben, als vielmehr deshalb, weil er spezifische Zielgruppen anspricht und Interaktionen generiert. Das macht die Inhalte aber nicht schlecht oder irrelevant: Der Kanal bildet eine dringend benötigte, kritische Insel in der menschenfeindlichen Ursuppe, die sich wie in jedem sozialen Netzwerk auch auf TikTok früh herausgebildet hat. Genauso steht er zusammen mit anderen Kanälen für eine ganze Bandbreite von Bildungsformaten, die sich auf TikTok derzeit zwischen Vernakulärkultur und gefördertem Infotainment entwickelt.
Es wäre darum auch zu einfach, die vernetzte Wissenskultur rund um #LernenMitTikTok als beliebig, oberflächlich oder rein unterhaltungsorientiert zu verstehen. Eher sollte es den institutionalisierten Kultur- und Bildungsbetrieb, viel mehr noch seine öffentlichen Förder*innen beunruhigen, dass TikTok es zunehmend schafft, spielerische, partizipative Massenkommunikation mit institutionell geförderter Wissens- und Kulturvermittlung zu verbinden. Unter jüngeren Menschen gelten Webvideos bereits seit längerem als „Leitmedium“. Mit seinen Programmen stößt TikTok nun weiter in Nischen der Kultur- und Bildungsförderung vor, die bislang noch weitgehend dem Staat überantwortet sind. Sollen diese Aufgaben in Zukunft nicht Konzernen überlassen werden, die ihr Gesellschaftsverständnis dem jeweiligen Markt anpassen, auf dem sie wachsen und profitieren wollen, müssen Kultur, Wissenschaft und Bildung nicht nur besser ausgestattet, sondern auch weniger marktorientiert gestaltet werden. „Und was mach ich jetzt?“ – in Zeiten von Drittmittel-Prekarität und Innovationsfixiertheit, von rechtem Kulturkampf und ideologischer Einflussnahme auf politische Bildungsträger*innen durch den Staat, von politischer Wissenschaftsfeindlichkeit und chronischer Unterfinanzierung könnte die Antwort von Kulturschaffenden und Wissenschaftler*innen sonst bald immer häufiger lauten: „Ich gehe zu TikTok.“