Braune Held*innen, große Literatur – ‚Das Paradies meines Nachbarn‘ von Nava Ebrahimi und das weiße Feuilleton

von Maryam Aras

 

„In der Vagheit fühle ich mich geborgen“, lässt Nava Ebrahimi ihre Heldin Mona in ihrem ersten Roman Sechzehn Wörter sagen. Mona ist, wie die Autorin selbst, im Iran geboren und in Köln groß geworden. Anders als ihre Schöpferin ist Mona, 34, Ghostwriterin eines  Ghostwriters für Celebrity-Autobiographien. Als ihre Großmutter in Maschhad stirbt, reist sie mit ihrer Mutter in den Iran und eine roadmovieartige Geschichte, entlang erzählt an sechzehn persischen Wörtern und Redewendungen, nimmt ihren Lauf.

„[…] da ist noch eine andere Sprache, deine Muttersprache, glaube ja nicht, die Sprache, die du sprichst, wäre deine Sprache. Regelmäßig war ich ihnen ausgeliefert, diesen Wörtern, die nichts mit meinem Leben zu tun hatten, nichts mit der Art wie ich täglich das Fahrradschloss öffne, nichts damit, wie ich im Restaurant Essen bestelle oder im Frühling Winterkleidung verstaue. Nichts hatten sie mit meinem Leben zu tun, trotzdem, oder gerade deshalb brachten sie mich immer wieder in ihre Gewalt. Doch dann, einer Eingebung folgend, übersetzte ich ein Wort und es war, als hätte ich es entwaffnet.“

Mit ihrem Debütroman hatte Ebrahimi ein faszinierendes Programm ihres Schaffens vorgelegt). Sprachästhetisch und inhaltlich alle Halbtöne von Identität in between und Fremdsein im eigenen Land (in welchem auch immer) treffend, hat sie sich nicht nur einen Teil ihrer eigenen Biographie von der Brust geschrieben, sondern auch eine so spannende Story komponiert, dass man nach der letzten Seite kaum fassen kann, wie diese Geschichte gerade geendet hat. 

 Das Übersetzen aus einer fremdgewordenen Muttersprache, um damit ein Entwirren der eigenen Lebensstränge einzuleiten, ist für Sina Khoshbin, den Anti-Helden in Nava Ebrahimis zweitem Roman, keine Option. Seine Muttersprache ist Deutsch und alles, was er von seinem iranischen Vater zu haben scheint, sind Name, Aussehen und das Trauma dessen Abwesenheit. War Sechzehn Wörter“ ein Konzept-Buch, so ist Das Paradies meines Nachbarn eine Fallstudie. Hier geht es um drei Männer und die sichtbaren und unsichtbaren Pfade, mit denen ihre Lebensgeschichten zwischen Deutschland und Iran miteinander verbunden sind. Die Hauptfigur Sina umreißt die Autorin mit großer erzählerischer Genauigkeit: sein zurückhaltendes Wesen, das seiner alleinerziehenden Mutter das Leben so leicht wie möglich machen will. Seine Zögerlichkeit, als Produktdesigner eines Münchener Designbüros auch mal kühne Entwürfe abzuliefern, und seine ebenso auf Sparflamme laufende Ehe mit Katharina, einer Resilienzforscherin aus gutem Hause, die unbeeindruckt von dem gemeinsamen Leben der beiden, immer in ihrer eigenen Form zu verharren scheint.

Neben Sina lässt Ebrahimi ihre Leser*innen in die Perspektiven von Ali Najjar und Ali-Reza schlüpfen.[1] Ali Najjar tritt in Sinas Leben, „mehr Ereignis als Mensch“, und das empfindliche Gebilde seines Münchener Familienlebens gerät endgültig aus dem Gleichgewicht. Ali Najjar ist ein Star unter Produktdesignern, eine schillernde Persönlichkeit, und Sinas neuer Chef. Er versteht es, den Medien genau so viel von seiner Lebensgeschichte als Kindersoldat im Iran-Irak-Krieg zu füttern, dass alle gebannt zuhören und seine zynischen Verweise auf deutsche Bauteile der irakischen Senfgasfabriken ungehindert im Netz umherschwirren können.

Identitätskrise und Gummiinsel

Doch Sina ist in seiner Identitätskrise rezeptiv wie ein Schwamm. Er wittert den Menschen hinter der Fassade. Gleichzeitig sucht er sich selbst in Ali Najjar. Dieses Zusammenspiel der beiden Figuren, die als zwei Pole verschiedener Konstruktionen von Maskulinität entworfen sind, ist ausgesprochen stimmig. Ebrahimi ist eine eindrucksvolle Erzählerin, die ihre Charaktere mit Widersprüchlichkeiten in ihren Selbstnarrationen ausstattet, dramatisiert durch oft kaum wahrnehmbare Perspektivwechsel, innere Monologe oder Dialoge, die teilweise nur die Stimme einer Figur wiedergeben. Abgerundet werden die Charaktere durch die Außenwahrnehmung der jeweils anderen Figuren. Erfunden hat Ebrahimi diese Erzählweisen selbstverständlich nicht, aber eine so überzeugende Umsetzung, die ähnlich packende Charaktere zu Tage fördert, ist einfach selten in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Als Ali Najjars Mutter im Iran stirbt, kontaktiert ihn ihr Ziehsohn Ali-Reza, ein Versehrter eben jenes irakischen Giftgases, das durch deutsche Hilfe im Iran-Irak-Krieg zum Einsatz kam. Als vierzehnjähriger Freiwilliger war er Teil des menschlichen Minenräum-Kommandos aus iranischen Jungs, die einen Plastikschlüssel Made in China um den Hals trugen, um auf schnellstem Weg ins Paradies zu gelangen. „Lebende Märtyrer“ werden Kriegsversehrte wie Ali-Reza im Iran genannt. Sie sind eigentlich ein wichtiger Teil der offiziellen Ordnung, aber ihre Veteranenrenten werden von der Rezession aufgefressen und die postrevolutionäre Gesellschaft, der Kriegsrhetorik müde, interessiert sich nicht mehr sonderlich für ihr Leid. Umhegt und gefangen in der Fürsorge der Pflegemutter hatte sich Ali-Reza so in sein Schicksal ergeben. Mit ihrem Tod wurde auch für ihn ein Strom neuer Ereignisse losgetreten.

In Dubai nun will Ali-Reza Ali Najjar den letzten Brief der Mutter übergeben. Sina gerät zwischen die Fronten. In einer zwielichtigen Hotellobby findet sich Sina dann Ali-Reza gegenübersitzend. Vor einer filmreif gezeichneten Kulisse beginnt ein regelrechter Showdown. Ali Najjars sorgfältig gescriptete Lebensgeschichte fällt in sich zusammen. Seine Geschichte und sein Charakter sind als Gegenstück zu Sina gezeichnet. Ebrahimi schreibt einen attraktiven Mann Mitte 40, der Inbegriff eines Selfmademans („Najjar“ bedeutet Zimmermann auf Persisch). Schon lange muss er nicht mehr auf Geld achten. Eine scheinbar perfekte Rags-to-Riches-Story. Sie schlägt sich in geschliffenen Beschreibungen von Ali Najjars Büroeinrichtung nieder, die genauso viel über ihn aussagen wie über Sina, durch dessen Augen wir dieses Spiel von Oberflächen und reduzierter Möblierung betrachten.

Ali Najjar und Sina nennen sich „Perser“. Da klingt nicht nur schicker als Iraner, es dient auch der Distinktion von anderen, als muslimisch eingeordneten Migrant*innen. Wie es ist, als iranisches, braunes Kind im Vorstadtdeutschland der 1980er und 1990er Jahre aufzuwachsen, hat Ebrahimi schon in ihrem ersten Roman schmerzlich beschrieben. Auch in diesem Roman spielt das Braunsein in einer weißen Mehrheitsgesellschaft eine Rolle, wenn auch unterschwelliger. Zumindest sind Sinas Erfahrungen als nicht-weißer Mann eher diffus. Doch es gibt sie, die ewige Frage nach der „wirklichen“ Herkunft, die misstrauischen oder neugierig exotisierenden Seitenblicke seiner zumeist weißen Mitmenschen. Ebrahimi benennt diese Kategorien nicht klar. Warum auch, es geht ja um einen Charakter, dem sein eigenes Sein gerade erst dämmert. Und doch schreibt sie die Unsicherheiten einer Identität, die ihr Leben lang damit zu kämpfen hatte „irgendwie anders“ zu sein, in ihre Hauptfigur ein. „Du musst immer besser sein als die anderen, um weiterzukommen“, das Mantra aller immigrierten Eltern – Sina lebt es unausgesprochen: Bloß nicht unangenehm auffallen, nicht weniger eloquent sein, besonders höflich sein und nie zu laut und bloß, bloß nicht irgendwelchen Stereotypen muslimischer Männlichkeit entsprechen! Ali Najjar, der als Teenager nach Deutschland gekommen ist, spielt dagegen bewusst mit diesen Bildern. Möglich ist ihm das, weil er es sich in seiner Blase finanziellen und medialen Erfolgs leisten kann.

Sina sucht auf seiner Suche nach sich selbst Kontakt zu seinem Vater. Einem Geschäftsmann und Lebenskünstler, den er sich seit seiner Jugend irgendwo in L.A. an einem Pool sitzend vorstellt. Er scheint die Verkörperung seines Familiennamens „der Optimist“ (Khoshbin) zu sein – ganz im Gegensatz zum Sohn. Dessen innere Zerrissenheit versinnbildlicht Ebrahimi in großartiger Alltagspoetik durch eine Gummiinsel aus Sinas letztem Italienurlaub, die die kleine Tochter unbedingt in der Wohnung behalten wollte. Die Luft ist längst raus. „So erging es vermutlich jedem aufblasbaren Gummiteil. Kaum eines fuhr ein zweites Mal in den Urlaub.“ Doch liegt die Insel im Wohnzimmer und erinnert ihn so ständig an seine Unfähigkeit, sie wegzuräumen. 

Die Deutungsmacht des Feuilletons

Seit Das Paradies meines Nachbarn im Februar erschien, ist es von der deutschen und österreichischen Literaturkritik sehr positiv aufgenommen worden. Doch wie es oft so ist (und auch schon bei Ebrahimis Debüt zu beobachten war), finden nur bestimmte Aspekte des Romans ihren Weg in die Rezensionen, andere bleiben unerwähnt. Welche Teile nicht rezipiert werden, ist dabei kein Zufall.

In einer sonst sehr ausgewogenen Besprechung schreibt Norbert Mappes-Niediek in der Frankfurter Rundschau: „Werke wie die von Nava Ebrahimi werden immer noch gern in die Schublade der „Migrantenliteratur“ gesteckt, ganz so, als könnte es im 21. Jahrhundert noch so etwas wie Nationalliteratur geben. Besser beschrieben ist es Weltliteratur in einem neuen Sinne.“

So positiv es auch gemeint sein mag, es stellt sich eben doch die Frage: Was ist denn dann diese „Migrantenliteratur“ oder wenn – wie es hier anklingt – diese Kategorie an sich kritisch beäugt wird: Was ist denn dann eine „neue deutsche Literatur“ (wenn es denn keine Nationalliteratur mehr gibt)?

Als „Migrantenliteratur“ wurden in der Germanistik lange Werke von Einwander*innen erster Generation wie die der Schriftstellerin und Dramatikerin Emine Sevgi Özdamar oder des Dichters SAID betitelt. Von Carmine (Gino) Chiellino passender als „interkulturelle Literatur“ kategorisiert, ist sie per se Teil einer Nationalliteratur, gleichzeitig ist interkulturelle Literatur aus einer Sicht geschrieben, die von mehreren Kulturen geprägt ist. Ebrahimis Schaffen ist aus einer Binnensicht geschrieben. Wäre das hier ein literaturwissenschaftlicher Aufsatz, so wäre diese Kategorisierung formal hilfreich. Es geht dabei nicht darum, ob ihre Bücher zu einer Nationalliteratur gehören „dürfen“. Sie sind auf Deutsch geschrieben und daher automatisch verortet. 

Hier geht es um viel mehr, denn Literaturkritik ist in ihrer Funktion keine Einbahnstraße, die Literatur und ihre Autorinnen nur interpretiert und kategorisiert, sondern auch Literaturvermittlung, die potenziellen Leser*innen zugewandt ein Buch in einen bestimmten Zusammenhang stellt. Es geht also um die Deutungsmacht der Literaturkritik. Mit dieser ist die Frage nach einer Leser*innenschaft bestimmter Bücher verbunden: Von wem für wen wird Literatur empfohlen? Wer kauft und findet durch sie Zugang zu bestimmter Literatur, wer findet sich in dieser wieder? Wenn ein etablierter weißer Kritiker also schreibt, diese Literatur sei explizit keine „Migrantenliteratur“, sondern „Weltliteratur“, dann steckt neben einer großen Wertschätzung darin auch die implizite Zuordnung, an wen sich seiner Meinung nach diese Literatur richte.

Nava Ebrahimis Romane sind große Literatur. Sie gehören allen ihren Leser*innen. Aber ganz besonders gehören sie jenen Leser*innen, deren Lebenswelt sie wiedergeben, und die in der Lage sind, die Poetik der Autorin in all ihren Zwischentönen zu lesen.

Genau das vermag weiße Literaturkritik kaum. Bei allem guten Willen wird postmigrantische Literatur von weißer Kritik in aller Regel nur auf explizit geschilderte Rassismus- oder Othering-Erfahrungen hin besprochen. Eine Rezeption von feinsinniger Binnensicht-Metaphorik, die gerade in Ebrahimis Romanen so auschlaggebend ist, findet selten statt. Wie auch? Es braucht hier Schwarze und Literaturkritik of Color, um diese Poetologien zu verstehen und sie einer Leser*innenschaft zugänglich zu machen, die endlich sich und ihre Lebenswelten in Literatur wiederfindet. Ebrahimis Romane sind natürlich auch Weltliteratur. Diesen Begriff zu gebrauchen, um sich der Benennung ihrer postmigrantischen Perspektive zu entziehen, ist jedoch inhaltlich unsauber und verfehlt die eigentliche Thematik.

Nava Ebrahimi, Olivia Wenzel oder Deniz Utlu sind Autori*nnen postmigrantischer Literatur. Warum dieser Begriff? Die Historikerin Fatima El-Tayeb weist zurecht darauf hin, dass wir als Gesellschaft noch weit von einem „post“migrantischen Zustand entfernt sind. Die gleichen Debatten über Rassismus oder ein inklusiveres Miteinander, die wir heute nach dem Terroranschlag in Hanau führen, wurden so oder ähnlich nach den rassistischen Brandanschlägen von Solingen, Mölln und Rostock geführt. Der Fortschritt ist denkbar klein. Das gilt gerade auch für den Kulturbetrieb, und insbesondere für die vermeintlichen „Hochkultur“-Bereiche Theater und Literatur. Wenn hier von postmigrantischer Literatur die Rede ist, dann um der Perspektive der Autor*innen, die sie schreiben, gerecht zu werden.

Analytisch betrachtet wäre diesen Autor*innen auch mit Chiellinos „interkultureller Literatur“ genüge getan. Die Selbstbezeichnung Migra, Migrakids, Schwarz oder post-xxx (z.B. iranisch) sagt aber mehr. Sie beinhaltet sowohl eine Weigerung, die Herkunftskultur (der Eltern) zu assimilieren, als auch die selbstbewusste Artikulation einer Identität, die von Rassismuserfahrungen und Othering in der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft Narben davongetragen hat. Für alle Leser*innen jener Mehrheitsgesellschaft, die den Horizont ihrer Sicht tatsächlich erweitern möchten, ist dieser Begriff eine Einladung zu lernen und in Perspektiven von BIPoC-Autor*innen einzutauchen. BIPoC-Literaturkritik kann auch weißen Leser*innen hier helfen, aufmerksamer und sensibler zu lesen. „Kontrapunktisch“ nennt Edward Said jene „Vielheit der Sicht, die ein Bewusstsein der gleichzeitigen Dimensionen ermöglicht“, wie es nur Exilanten können, die immer mindestens zwei kulturelle Dimensionen mitdenken (Said 2002: 148). Das Kontrapunktische wohnt genauso der postmigrantischen Literatur inne, vielleicht sogar in besonderem Maße: Sie hat nicht nur zwei kulturelle Ursprünge, sondern auch eine Binnensicht, die sich so oft als Teil und wieder nicht als Teil dieser beiden Ursprünge wahrnimmt, sie auch immer von außen betrachtet.

Ebrahimi mag nicht, wie Toni Morrison es einmal für sich und ihre Schwarze Leser*innenschaft formuliert hat, nur für Migra-Leser*innen schreiben. Jedoch, bewusst oder nicht, Literatur, die ohne einen „white Gaze“ postmigrantische Realitäten abbildet, ist automatisch einem Publikum zugewandt, das diese Realitäten teilt. Im weißen Mainstream ist das ist ein subversiver Akt, den postmigrantische kulturelle Produktion, sei es Film, Literatur oder Theater, leisten kann. Die Agency ihres Publikums umverteilen. Es ist an der Zeit, dass das deutschsprachige Feuilleton und der Literaturbetrieb erkennen, dass es diese Leser*innen und ihre Agency gibt.

 

[1] Ali-Reza ist ein gängiger iranischer Doppelname, Ali Najjar sind Vor- und Nachname der Figur.

Said, Edward. (2002), Reflections on Exile and Other Essays (Cambridge: Harvard University Press).

Photo by Ekaterina Novitskaya on Unsplash

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