Das Foto als Orakel – Die Medien feiern im ‚ikonischen‘ Bild Donald Trumps sich selbst

von Jacob Birken

Wie viele Apparate um etwa elf nach sechs am 13. Juli auf einem Veranstaltungsgelände nahe der Kleinstadt Butler in Pennsylvania ausgelöst wurden, werden wir kaum aufrechnen können. Ein junger Mann drückte achtmal auf den Abzug eines Gewehrs, bevor er selbst von einem Scharfschützen des US-Geheimdiensts erschossen wurde. Noch bevor, während und nachdem die Kugeln des Attentäters einen Zuschauer im Publikum töteten und Donald Trump auf der Bühne am Ohr verletzen, drückten viele weitere Finger auf die Auslöser von Fotoapparaten. Zwischendurch schienen sich Waffen- und Medientechnik zu synchronisieren, wie in einem Foto, auf dem als grauer Streifen am Himmel wohl das Geschoss zu sehen ist, kurz bevor es Trumps Ohr streift. Das Attentat wird schnell zum Medienereignis, und für die Medien ist es wichtig, gerade ihren Beitrag als das eigentliche Ereignis hervorzuheben. „A powerful photograph that could change America forever“, so der Titel eines Artikels von Philip Kennicott in der Washington Post, in dem der Kunstkritiker ein weiteres, schnell in der internationalen Presse verbreitetes Foto diskutiert.

Die Aufnahme Trumps, wie er mit blutbeflecktem Gesicht die Faust reckt, umringt von seinen Bodyguards und mit der US-Flagge im Hintergrund, sei unmittelbar „legendär“ geworden, bestätigt Tyler Austin Harper im Atlantic. „Die Bilder des blutverschmierten Donald Trump mit der emporgerichteten Faust werden in die Geschichtsbücher eingehen“, prophezeit in Deutschland der Spiegel. Wie Kennicott ahnt auch Autor Claus Hecking, dass Bilder Folgen haben könnten – „womöglich werden sie dafür sorgen, dass Trump sich seinen Traum erfüllt und wieder ins Weiße Haus einzieht“; im Guardian sorgt sich wiederum Jonathan Jones – „with one image, he may have won the 2024 US presidential election.“

Mehr noch als das Attentat selbst scheinen die Bilder in den US-amerikanischen Wahlkampf und überhaupt die Welt der Politik eingebrochen zu sein, als wären sie eine Naturgewalt. Und – das ist der erstaunliche Dreh in diesem Diskurs – diese Gewalt ist letztendlich Trump selbst. In Faust, Blut, Flagge artikuliert sich sein brutales Politikverständnis. Für Kennicott und Jones wird wirklich, was bislang nur Ideologie war, und in beiden Texten ist es das Blut, das diese Wirklichkeit bezeugt und zugleich an eine weitaus größere politische Mythologie anschließt. Blut sei für Trumps Rhetorik wesentlich, so Kennicot kritisch. Da wäre das gute Blut der wahren „red-blooded patriots“ und – ganz gemäß faschistoiden Ideologien von ‚Blut und Boden‘ – das verunreinigte der „outsiders“. Jetzt sei also Trumps Blut zu sehen, das ‚gute‘, das er mit seinen Anhänger:innen teile. Jones stellt dies in den größeren Zusammenhang religiöser Opferkulte. „That man really raises his fist in defiance in a mystically patriotic instant myth of resurrection“, staunt er.

In einem bemerkenswerten Vorgang verschwindet hier das historische Ereignis – ein Attentat auf einen Präsidentschaftskandidaten – hinter der Deutung eines Bilds, in dem ebendieses Ereignis aufgezeichnet wurde. Dabei lösen sich Kausalverhältnisse, Zusammenhänge von Ursachen und Zwecken auf, die Fotografie wird zum Orakel, aus dem allerlei über die Vergangenheit und die Zukunft herausgelesen kann und erstaunlich wenig über die Gegenwart: Es geht nicht länger um die Schüsse während der Kundgebung am 13. Juli, sondern um die Auswirkungen des Bilds auf die Wahl im November und deren Rolle in zukünftigen Geschichtsbüchern. Unklar wird auch, wer dieses Bild überhaupt erzeugt hat.

Auf den Auslöser der Kamera drückte der Pressefotograf Evan Vucci, der bereits für seine Fotos der Proteste nach der Ermordung George Floyds 2020 den Pulitzer-Preis erhalten hatte. Dennoch sollten wir anerkennen, dass es Trump sei, der dieses Bild gemacht habe, schreibt Jones, und auch Hecking im Spiegel sieht darin „ein Meisterstück der politischen Kommunikation“ des Politikers. Für Florian Illies wird Trump durch die Bilder seiner Verwundung zum Schöpfer des eigenen Mythos wie zuvor Van Gogh mit seinem Selbstbildnis mit bandagiertem Ohr (1889), das selbstverständlich bald nach dem Attentat entsprechend memefiziert wurde.

Der eine Moment

An dieser Stelle lässt sich tatsächlich nicht eindeutig bestimmen, wer oder was die Entstehung dieser Bilder auslöste. Der TV-Entertainer Trump ist sich bewusst, dass er bereits durch seine Präsenz zur Bildproduktion beiträgt, und wird diese ebenso bewusst mitgestalten. Zugleich wäre dies nicht möglich, wenn nicht der Medienapparat selbst dafür präsent wäre. „The job is all about anticipation“, sagt Evan Vucci in einem Interview mit dem Guardian; Trump fotografiert er seit dem ersten Wahlkampf vor acht Jahren. Antizipation heißt, mitten im Geschehen zu wissen, was als nächstes passiert, welchen Weg beispielsweise der angeschossene Trump durch die Menge nehmen wird, um ihn dann vor die Linse zu kriegen. Vor einem weiteren Horizont würde Antizipation allerdings ebenso heißen, ein bildwürdiges Ereignis zu erwarten, wenn man acht Jahre lang einen rechten Demagogen bei seinen öffentlichen Auftritten begleitet.

Am Ende ist dies ein geschichtsphilosophisches Problem, inwiefern also aus unzähligen verflochtenen Vorgängen der eine Moment herausgezogen und als ein historisches Ereignis benannt werden kann. ‚Die Geschichte‘ macht dies nicht von allein; sie muss von jemandem geschrieben oder jedenfalls vermittelt werden. In Augenblicken wie diesem scheint dieser Prozess zu kippen: Das Festhalten des historischen Moments wird zum Hauptereignis. Wir könnten das auf eine hypermediatisierte Kultur schieben, aber selbst dann stehen dahinter Entscheidungen. Nichts erzwingt die Entscheidung so gut wie jeder Zeitung und jedes Magazins, einen Artikel über das ‚ikonische‘ Bild zu veröffentlichen, während andere Artikel ungeschrieben bleiben.

Besonders irritierend ist, wenn der Text als Bild- oder Medienkritik verfasst ist, wenn Kennicott, Illies oder Jones einen mahnenden Ton über die politischen Folgen dieser Fotografie als Propagandamittel anschlagen – und dennoch dazu beitragen, ebenjenes Bild immer weiter zu reproduzieren. Die Kritik verliert damit zumindest ihre aufklärerische Funktion: Falls das Foto durch seine allzu effektive Bildrhetorik unausweichlich dazu beiträgt, einem verurteilten Kriminellen eine zweite Amtszeit zu verschaffen, wäre es ethisch geboten, es schlichtweg nicht abzudrucken. Falls seine Kraft, genug Menschen zur Wahl Trumps zu überzeugen, nur bedingt ist – die Autor:innen dieser Artikel scheinen jedenfalls sich und ihre Leser:innen davon auszunehmen – wäre wichtig, die Bedingungen dafür zu erfahren. Pragmatisch betrachtet wird der ‚ikonische‘ Status dieses Fotos nur dadurch belegt, dass es in der diesen Status behauptenden Presse immer wieder abgedruckt wird. Zynisch betrachtet handelt es sich um eine Machtdemonstration der Medien, gewissermaßen autopoietisch ein Ereigniszu schaffen, hinter das selbst das reale Attentat zurücktreten muss.

Henri-Cartier Bressons ‚entscheidender Augenblick‘ wird zum Maßstab der Weltgeschichte umgekehrt. Wo es dem Fotografen Bresson noch darum ging, „im Sekundenbruchteil die Bedeutung einer Tatsache und die strenge Organisation der visuell wahrgenommenen Formen, die diese Tatsache ausdrücken, zu erkennen“, rückt der technische, formale Aspekt zunehmend in den Vordergrund, während die Frage nach der ‚Bedeutung‘ der abgebildeten Tatsache zur nachgelagerten Frage der Deutung wird.

Interpretationssucht

Ein derart auf Selbstbestätigung aufbauender medialer Apparat wird seinerseits durchschaubar. Am Montagmorgen nach dem Attentat sagte Journalist Quentin Lichtblau voraus, wie in den Medien demnächst Kunstwissenschaftler von niemandem gestellte Fragen – „Wofür steht eine nach oben gereckte Faust? Und was ist das eigentlich für eine Flagge im Hintergrund?“ – beantworten würden; am Nachmittag scherzte ich zu einem Freund, dass ich besser selbst schnell einen Artikel zum Thema schreiben sollte, bevor jemand ikonographische Bezüge zu Christusdarstellungen in den Fotos entdeckt. Leider zu spät – ich hatte mich noch nicht an die Arbeit gemacht, als Jones im Guardian sowohl Lichtblaus nicht gestellte Fragen nach Faust und Flagge ausführlich beantwortete und im blutenden Trump und seiner Leibwache Matthias Grünewalds Isenheimer Altar (1512-16) und eine Kreuzabnahme Roger van der Weydens (ca. 1435) wiedererkannte.

Eine solche Analyse, wie Jones sie hier mit seinen historischen Rückbezügen vornimmt, geht zumindest darüber hinaus, ein Bild geradeheraus als ‚ikonisch‘ zu bezeichnen. Mein Anliegen ist auch nicht, solchen Interpretationen zu widersprechen. Viel eher beschäftigt mich das Interesse an der Interpretation selbst, an der Vorannahme, dass bestimmte Bilder eben ‚ikonisch‘ seien und dies einen besonderen Umgang mit ihnen notwendig mache. Überraschend ist, auf welche Weise kunst- und medientheoretische Konzepte dabei alltäglich werden. Roland Meyer schreibt von einer „wilden Ikonologie“: „Wir sind mittlerweile alle Bildwissenschaftler:innen.“

Jedem Bild wird größtmöglicher Gehalt und Kontext zugestanden, um daran wie im Proseminar das eigene Wissen und die analytischen Werkzeuge zu beweisen. Zwischen der (gefühlten) eigenen Expertise und der (gefühlten) Bedeutsamkeit des Gegenstands entwickelt sich eine Rückkopplung, die Euphorie der Erkenntnis und der Teilhabe an einem historischen Ereignis. Der Kunsthistoriker Jones leitet den Zusammenhang zwischen dem Trump-Foto und Joe Rosenthals Aufnahme der Marines, die 1945 auf der japanischen Insel Iwo Jima die US-Flagge hissen, explizit in einem Zeitungsartikel her, der ehemalige BILD-Redakteur Julian Reichelt braucht dafür lediglich „Ikonisch!“ über eine Bildfolge auf X zu schreiben, in der zwischen dem Weltkriegs- und dem Attentats-Bild noch die Aufnahme dreier Feuerwehrmänner mit US-Flagge in den Ruinen des World Trade Center im September 2001 steht.

Relevant ist, welche politische Funktion dieses ‚Bildwissen‘ jeweils hat. Das abfragbare Wissen bleibt dabei gleich – es geht um bestimmte Motive, die in bestimmten räumlichen und zeitlichen Konstellationen eine bestimmte, bekannte Bedeutung haben. Als Ikonografie ist das zuallererst eine lexikalische Angelegenheit. Kunsthistoriker:innen können so anhand von tradierten Bildformeln identifizieren, wer oder was zu sehen ist: Die christliche Heilige, die mit einem Rad und Palmzweigen abgebildet wird, ist Katharina von Alexandrien; wenn auf einer byzantinischen Ikone ein Mann mit Hundekopf auftaucht, wird es der heilige Christophorus sein; Statuen von Buddha und den Boddhisatvas können anhand ihrer Haltungen und Handgesten bestimmt werden. Was aber, wenn diese Methode für alle Bilder und alle Bildinhalte geöffnet wird?

Aby Warburg versuchte dies in den 1920ern in seinem Mnemosyne-Bildatlas, wo er die Darstellung verschiedener ‚Pathosformeln‘ – körperlicher Ausdrucksformen – von der Antike über die Renaissance zur Bildkultur des frühen 10. Jahrhunderts nachverfolgte. Damit verändert sich aber das Verständnis von Wissen, und der Umgang damit. Zuallererst geht es nicht länger um die eindeutige Identifikation, sondern um ein Wiedererkennen, das selbst eine Ahnungsein kann. Als Caravaggio Ende des 16. Jahrhunderts die heilige Katharina mit Rad und Palmzweig malte, wusste er um die genaue ikonographische Funktion dieser Bildelemente, und dass sie als ebensolche betrachtet werden würden; mit einer Axt und Eichenlaub wäre die Heilige einfach nicht erkennbar, eine falsche Darstellung.

Wenn heute in einer Modefotografie die Pose einer antiken Statue durchscheint, muss dies keine konkrete Referenz sein: Die Pose wurde über Jahrhunderte hinweg einfach oft genug aufgegriffen, um wiedergegeben und wiedererkannt zu werden, ob ihr jeweiliger historischer Kontext nun mitgedacht wird oder nicht. Damit wird das ‚Bildwissen‘ zu einer anthropologischen, psychologischen Angelegenheit, zu etwas mitunter Unbewusstem, das nicht nachgeschlagen werden kann, sondern aufgedeckt werden muss. Bilder werden spekulativ – sowohl in ihrer Rezeption wie in der Produktion. Eine ‚Spur‘ früherer oder gar überzeitlicher Bedeutungen kann in einem Bild ebenso gesuchtwie gelegt werden.

Gerade am Diskurs zu den Fotos vom Trump-Attentat zeigt sich, wie zentral diese Idee für die gegenwärtige Bildkultur ist. Der englische Schriftsteller Geoff Dyer fragt im New Statesman zurecht danach, wann die Bilder vom Attentat auf Trump zu entstehen begannen, wenn ihre Bedeutung durch den Nachhall Jahrzehnte oder Jahrhunderte ältere Bilder erzeugt wird. Diese Verdichtung von Vergangenheit und Zukunft ist strategisch. Indem Reichelt Vuccis Foto als ‚ikonisch‘ in die Reihe anderer US-amerikanischer, heroischer Flaggenbilder stellt, spekuliert er in mehrerlei Hinsicht auf die Wirkung dieser Bilder – zum einen darauf, dass die früheren Bilder US-amerikanischer Unbeugsamkeit auch im neuen wiedererkannt werden, zum anderen darauf, dass letzteres selbst auf gleiche Weise relevant bleibt. Vor dem Hintergrund des Wahlkampfs zieht es seine Bedeutung nicht aus dem überlebten Attentat, sondern aus dem vorausgesagten Wahlsieg – den dieses Foto in diesem Sinne zugleich symbolisch bezeugen wie performativ einleiten soll. Nicht zuletzt dient sich der Medienmann mit seiner Interpretation dem künftigen Herrscher als Hofschranze an, weil er die Zeichen richtig zu deuten weiß.

Wilden Forensis

Effektiv ist das eine vormoderne Praxis, die die modernistische Methode der Ikonologie aufgesogen hat. Offen bleibt die Frage, wie letztere Methode wiederum kritisch, aufklärerisch verwendet werden könnte – sowohl Kennicott wie Jones schreiben schließlich mahnend über die Wirkung, die das Foto haben könnte. Kennicott ergänzt Vuccis Foto um ein weiteres, aufgenommen durch Jabin Botsford von der Washington Post. Hier liegt auf der verlassenen Bühne ein einzelner Schuh – für den Kunstkritiker ein Anlass, eine ganze Palette an Analogien und Symbolen anzubieten. Dazu gehört, den Schuh im Zusammenhang zum Tod zu sehen, wie beispielsweise in den Bergen von Schuhen der Opfer von NS-Vernichtungslagern. Kennicott möchte hier vermutlich auf eine gefährliche Interpretation hinweisen, die den rechten, oft genug antisemitische Dogwhistles verwendenden Politiker Trump in die Nähe der Opfer des NS-Regimes rückt, aber letztlich ist es doch er selbst, der diesen obszönen Vergleich zieht. Warum?

Roland Meyer schreibt in einem Artikel zur „Wilden Forensis“, einer „Form der kollektiven, vernetzten Bildlektüre in den Sozialen Medien, die zugleich von einem produktiven Verdacht wie vom Wunsch nach Eindeutigkeit angetrieben wird.“ Tatsächlich wurde Vuccis Foto zum Anlass für allerlei quasi-forensische Untersuchungen; Trump-Gegner:innen unterstellten, dass das Attentat inszeniert und das Blut falsch sei. Die Bilder „produzieren fluktuierende Gegenbilder, denen man sich in ihrem Irritationspotential kaum entziehen kann“, wie Carolin Amlinger in der FAZ schreibt. „Wenn die Aufnahmen des Anschlags mit Markierungen, Pfeilen, Verweisen versehen werden, situiert man sie in einen neuen Sinnhorizont.“

„Too perfect“, kommentierte ein Influencer so auf X ein anderes Foto des blutenden Trump. Dies hat zweifellos damit zu tun, auf welche Weise Fotografien heute betrachtet werden. Ein Foto ist zugleich eine optische Aufzeichnung – und damit Evidenz für etwas – und ein Ausdrucksmittel für die Personen hinter und vor der Kamera. Entsprechend kann es ikonologisch auf seine Bedeutung hin untersucht werden; als professioneller Fotograf würde auch Evan Vucci instinktiv einen Bildausschnitt und Winkel wählen, in dem Trump, Flagge, Bodyguards in formalen Verhältnissen zueinander stehen, die ihrerseits an bekannte Bildformeln anschließen. Selbst auf formaler Ebene ist dieses Bild nicht vor der Analyse sicher, wenn beispielsweise in einem durchaus populären Post auf X ein „YouTube thumbnail designer“ anhand eines eher wirren Schaubilds auf X die meisterhafte Komposition von Vuccis Foto erläutert.

Dieser Drang zur Deutung scheint in unserer Kultur angelegt zu sein. Bereits 1964 schreibt Susan Sontag in der wütenden Glosse „Against Interpretation“ dazu, wie wir aus jedem Ding ein Maximum an Bedeutung herauszupressen versuchen, ohne es jemals als Ganzes zu betrachten. Der unbedingte Wille, die eigentliche Bedeutung hinter dem Sichtbaren zu entdecken, reibt sich an der Fotografie als Aufzeichnung eines kontingenten Augenblicks. „Too perfect“, das ist der entrüstete Widerspruch dazu, dass die im Bild festgehaltene Wirklichkeit einen so offensichtlichen Überschuss an Bedeutung haben könnte. Da die kulturell naheliegende Interpretation – Trump ist ein US-amerikanischer Held, weil in diesem Bild andere Bilder amerikanischen Heroismus nachhallen – falsch scheint, muss das Bild eine Fälschung sein. Für Trump-Anhänger:innen verläuft der Prozess umgekehrt: In der Aufnahme ist endlich eingefangen, was sie ohnehin bereits wussten – dass Trump der Heilsbringer sei, der im blutigen Kampf die USA wieder ‚groß‘ machen wird.

Eine fatalistische Bestätigung dieser ‚ikonischen‘ Leseweise des Fotos wie in Kennicotts oder Jones’ Artikeln mag ein Versuch sein, sich in einer ausweglosen politischen Situation heraus eine analytische Position zu erhalten – was das wem nützt, bleibt mir unverständlich. Vielleicht müssen wir dies als Endstadium der von Sontag beobachteten Kultur der (Über-)Interpretation verstehen. Interpretation, schreibt sie, sei die „Rache des Intellekts an der Welt“; Interpretation mache alles kontrollierbar und konform. Zur Beschwörung des ‚Ikonischen‘ durch Reichelt und Konsorten wäre dies der passende Bannspruch. Aber dafür bräuchte es vermutlich mehr, als in solchen vermeintlich mächtigen Bildern nur das Naheliegendste zu erkennen, nochmals zu benennen, was ohnehin alle darin sehen. Und dabei zu verkennen, dass diese Bilder eben nicht magisch über die Welt kommen, sondern gezielt auf den Weg gebracht werden. Die Fülle amerikanischer Flaggen bei Wahlkampfveranstaltungen, so Geoff Dyer, würde schon dafür sorgen, dass wirklich alles dort geschehende symbolisch überhöht würde.

Starke Bilder

Als Bildwissenschaftler kann ich gerne bestätigen, dass Vuccis Foto ein starkes Bild ist, aber was heißt das? Kennicott schreibt dazu: „Independent of how this photograph is read and interpreted, it is strongly constructed, with aggressive angles that reflect the chaos and drama of the moment, and a powerful balance of color, all red, white and blue […].“  Das ist eine treffende Beschreibung, doch sie wäre ebenso treffend für ein anderes Foto – eine von Angela Weiss geschossene Aufnahme von der Republican National Convention am 17. Juli, auf der Trumps moralisch wie finanziell bankrotter Kumpan Rudy Giuliani zwischen leeren Stuhlreihen zu Boden stürzt. Blau die Stühle, rot und weiß die darauf ausgelegten „Trump“-Banner; die Farbgebung und der strenge Rhythmus der Stuhllehnen wurden auch hier durch die Politspektakel-Industrie vorgegeben, in Erwartung jeglichen Chaos und Dramas, das da kommen möge.

Es wäre einfach, dieses Bild zu ‚interpretieren‘ – darin den lächerlichen Giuliani wiederzuerkennen, wie er nach Trumps Wahlniederlage 2020 aus Versehen in irgendeinem Industriegebiet eine Pressekonferenz abhält; wie er in Borat eindubioses Techtelmechtel mit einer jungen Journalistin beginnt; wie ihm während einer anderen Pressekonferenz zum vorgeblichen Wahlbetrug die Haartönung über die Wange zu rinnen beginnt. Und es wäre entsprechend einfach, es als Orakel für die kommende Wahlniederlage Trumps zu deuten. Es ist ein hämisches Foto, kaum weniger unangenehm als der blutende, faustreckende Trump zwei Tage zuvor; doch welchen Grund gibt es wirklich, das eine und nicht das andere als ‚ikonisch‘ in allen Medien zu verbreiten?

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