von Susanne Wedlich
Vielleicht fange ich am besten mit einem saisonalen Disclaimer an. Wenn ich mir eine Jahreszeit aussuchen müsste, würde ich dem Herbst nachlaufen, bis die Wehmut nicht mehr auszuhalten ist. Greenery, dem aktuellen Buch des Nature Writers Tim Dee musste ich angesichts des Untertitels Journeys in Springtime also mit der gebotenen Vorsicht begegnen. Zu Unrecht: Tim Dee denkt beim Frühling konsequent zyklisch den Herbst mit und jedem Anfang wohnt hier mindestens ein Ende inne, ob biologisch, ob in der Zeit oder im Raum.
Und manchmal hängt das auch zusammen. Der Brite Dee ist mit einer südafrikanischen Ornithologin verheiratet und teilt sein Jahr auf die beiden Heimatländer auf, pendelt also ähnlich longitudinal zwischen den Hemisphären wie die Schwalben, die er an einem Dezembertag bei seinem Haus kurz vorm Kap beobachtet. Ob er ihnen schon einmal im Sommer in England begegnet ist? Ob sie heimfliegen? Wo ist eigentlich das Daheim der Zugvögel – und des schreibenden Nomaden Dee? Er habe den Halt auf der Landkarte verloren, schreibt er.
Schließlich sei die Wintersonnwende in Südafrika im Juni, die Schwalben also dort, wo sie im Dezember auch sein sollten: as at home as they could be. Irgendwann würden sie aber wieder gen Norden fliegen und die ersten unter ihnen früh im noch jungen Jahr Südeuropa erreichen. This might be one definition of the beginning of spring. Spring moves north through Europe at a speed comparable to the swallows´ flights. Im Menschenmaß gerechnet: Der Frühling ist etwa im Schritttempo unterwegs und liefert eine Art grünen Faden für Dees poetisches Meisterwerk.
Einmal lesen ist nicht genug, so dicht sind hier Natur und Literatur mit Biografischem verwoben. Dees Reisen führen unter anderem in den Tschad und in die Sahara, nach Helgoland und an den Polarkreis. Wohin er aber auch geht, überall hat er mindestens ein Auge gen Himmel gerichtet. Vögel sind seine Frühlingsboten und noch mehr: Er ist ihnen schon ein Leben lang verfallen, beobachtet und beschreibt, atmet und lebt sie. Hier ist klar im Vorteil, wer den Rüppell´s warbler vom willow, olivaceous, subalpine, garden, Upcher und black-throated green warbler unterscheiden kann.
Ich kann das nicht, habe aber einen anderen Zugang zur Lektüre gefunden. So unbelastet in der Vogelkunde war mein Kopf eine mehr oder weniger weiße Leinwand für Dees Porträts – und er kann wunderbar mit Worten malen. Das geht mit raschen Pinselstrichen – They were swallows: the gast of dried-blood at their throats told me that, and the blue, metal-shiny crick crack of their sharp wings and deep-cut tails – genauso wie mit spitzer Feder: …it carries with it something of the dirt inside us all. It is old like shit is old“, schreibt er über den woodcock.
Und wer wie ein night soil bird aussieht, kann sich kaum besser anhören: …their antiquity scored with brief squeals, snores, grunts, and methane blows. Old, far-off. Unlovely things. Muss man mehr wissen? Dem woodcock mag es ein Trost sein, dass sich auch andere Arten alt und unnahbar anhören. Its song was things old and cold made into music. If a colander could sing it would sound like a mistle thrush: cold light, cold air, cold water coming through cold and hammered steel. Es bleiben viele Vogelbilder in meinem Kopf. Weil in jedem davon so viel Dee steckt, habe ich nun zum ersten Mal aber auch eine Ahnung davon, was diese Tiere für manche Menschen so unwiderstehlich macht.
Abgesehen vom ornithologischen name-dropping liest sich das Buch aber auch wie ein who´s who der Literaturgeschichte. Shakespeare, Coleridge, Rilke, Rimbaud… Wer hat nicht den Frühling besungen? Noch eindrücklicher fand ich allerdings Passagen aus Tagebüchern und Briefen, in denen beispielsweise der schwer lungenkranke D.H. Lawrence nur eines vergeblich ersehnte: einen letzten Frühling.
Spring means more to me with every year that passes and takes me deeper into my own autumn, schreibt Dee. Es ist eine Klammer, die er zum Ende des Buches schließt mit dem Bericht seiner eigenen Parkinson-Diagnose. Eine Nachricht, die er in England erhält und seiner schwangeren Frau am Telefon übermitteln muss. Spring seems to bring forth elegies for a world that is still in the process of being born. A beginning is always the beginning of an end; we are dying from the moment we hatch.
Was aber, wenn sich Organismen diesen engen Grenzen von Leben entziehen? Merlin Sheldrakes Buch Entangled Life führt ins dunkle Reich der Pilze, in die Erde, aber eben nicht nur dort: Fungi are everywhere, but they are easy to miss. They are inside you and around you. They sustain you and all that you depend on…They are eating rock, making soil, digesting pollutants, nourishing and killing plants, surviving in space, inducing visions, producing food, making medicines, manipulating animal behavior, and influencing the composition of the Earth´s atmosphere.
Pilze helfen seit Menschengedenken unter anderem beim Brotbacken und Bierbrauen. Künftig sollen sie weitere Aufgaben übernehmen, etwa Öko-Baumaterial liefern und gefährliche Abfälle von Nervengiften über radioaktiv verseuchtes Material bis zu vollen Windeln abbauen. Schließlich sind sie die geborenen Zerstörer: Using cocktails of potent enzymes and acids, fungi can break down some of the most stubborn substances on the planet, from lignin, wood´s toughest component, to rock; crude oil; polyurethane plastics; and the explosive TNT.
Doch trotz dieser langen und fruchtbaren Zusammenarbeit von Mensch und Pilz wissen wir noch erstaunlich wenig über sie, weniger als ein Zehntel aller Arten sind bislang dokumentiert. Pilze können passionierte Fürsprecher wie Sheldrake also gut gebrauchen, dessen Herangehensweise sich mit einem Satz aus dem Buch zusammenfassen lässt: I tried to imagine the scene from the truffle´s point of view. Dieser Wechsel in die Perspektive des Trüffels ist allerdings leichter gesagt als getan. Den Pilz macht das Myzel aus, ein komplexe Netzwerk aus Hyphenfäden, die verzweigen, fusionieren und so gut wie alles durchdringen können.
Mycelium is how fungi feed…The more of their surroundings that hyphae can touch, the more they can consume. The difference between animals and fungi is simple: Animals put food in their bodies, whereas fungi put their bodies in the food. Das Myzel sei Appetit in körperlicher Form. Ein Körper ohne Bauplan, eher eine Art ökologisches Bindegewebe mit kaum vorstellbarer Reichweite. In practice, it is impossible to measure the extent to which mycelium perfuses the Earth´s structures, systems, and inhabitants – its weave is too tight.
Und sein Einfluss währt lange und reicht weit. Pilze halfen wahrscheinlich vor rund 500 Millionen Jahren den ersten Pflanzen an Land, von denen noch heute mehr als neunzig Prozent von ihren unterirdischen Partnern abhängen. Eine Ausprägung ist das wood wide web, das oft als pilz- und wurzelbasiertes Kommunikationsnetzwerk der Bäume verstanden wird, die bei Bedarf auch Nährstoffe austauschen. Evolutionär lässt sich der scheinbare Altruismus der pflanzlichen Nachbarschaftshilfe aber kaum erklären.
Hier kann Sheldrakes pilzzentrierte Lesart helfen. Möglicherweise halten sich ja die Pilze ein paar Pflanzen – und erzwingen den Austausch. Müssen wir jetzt alle die Trüffelperspektive einnehmen? Es würde zumindest verhindern, dass wir charismatischen Lebewesen wie Bäumen automatisch die Rolle des Drahtziehers und nie die der Marionette zuschieben. Und wir könnten vielleicht dezentrale Organismen wie Pilze besser verstehen, denen bislang kaum Intelligenz zugeschrieben werden kann, weil diese traditionell über die Hardware – sprich: Nervensystem und Gehirn – definiert wird.
Pilze, Schleimpilze und auch andere reagieren aber auch ohne Neuron flexibel auf ihre Umwelt, lösen Problem und treffen Entscheidungen. Schwarmintelligenz ist hier ein Denkmodell, das für Sheldrake bei Pilzen aber zu kurz greift, weil sie als Geflecht nicht aus getrennten Einheiten bestehen. Es gibt also noch viel zu lernen und vielleicht kristallisieren sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede ja beim Blick auf Schwarmvarianten anderer Art heraus: A murmuration of starlings is a swarm, as is a school of sardines. Swarms are patterns of collective behavior.
Das Medium mag sich ändern, kollektives Verhalten lässt sich aber häufig schwer entschlüsseln oder auch nur nachweisen. Der Meeresbiologe Callum Roberts ging zu Beginn seiner Karriere in den 1980er Jahren einer grundlegenden Frage nach: Herrscht am Riff Chaos oder Ordnung? Wie er in Reef Life. An underwater memoir schreibt, half seine gute Vorbereitung recht wenig vor Ort, weil die Fische den Abbildungen in Lehrbüchern kaum ähnelten, ihre Farben lebhafter, ihre Muster subtiler und die Kontraste zwischen den Arten weniger klar waren.
Jegliche Ordnung kam also chaotisch herrüber: Shock blossoms into wonder. Fish throng a labyrinth of coral: fat fish, slender, spiny, smooth, bulbous-eyed, serious, striped, barred, spotted, dotted, ringed, plain, lemon peel, orange, aquamarine, black; a mind-bending confusion coming and going. Es war kaum möglich, auch nur das Kommen und Gehen einiger weniger Arten zu dokumentieren, nicht zuletzt, weil Roberts die Kommunikation per Farbe, Muster und Geräusch nicht verstand.
Offen war zu jener Zeit auch die Frage, wie robust Korallenriffe eigentlich sind. Viele Fachleute sahen sie als fast unzerstörbar an oder befürchteten nur lokale Schäden. Wie fehlgeleitet diese Einschätzung war, zeigte sich um die Jahrtausendwende mit den ersten „Massenbleichen“, bei denen Korallen im überhitzten Meer ihre symbiotischen Mikroben ausstießen. A bleached coral is a starving coral; if conditions don´t soon swing back to normal, it dies. Mittlerweile ist dies hinlänglich als globales Problem bekannt, das sich im Zuge der Klimakatastrophe rasant beschleunigt.
Was geht hier verloren? In den letzten vier Dekaden hätten drei katastrophale Erwärmungen Riffe rund um die Welt zerstört, schreibt Roberts. Dabei sind sie die reichsten aller marinen Ökosysteme, die mindestens ein Viertel aller Arten im Meer unterstützen. Er selbst kämpft als Forscher, Ausbilder und politischer Berater, wenn auch ohne viel Hoffnung, denn die Korallenriffe seien on a trajectory to collapse within a human generation. There will be remnants here and there, but the global coral reef ecosystem – with its storehouse of biodiversity and fisheries supporting millions of the world´s poor – will cease to be.
Es sei schon von Zombie-Ökosystemen die Rede, die weder tot noch in einem funktionalen Sinne wirklich am Leben seien. Und manche Fachleute hätten die Riffe schon aufgegeben, würden jede Investition in ihre Rettung als Geldverschwendung ablehnen. Muss man das lesen? Die Lektüre ist schmerzhaft, aber doch mitreißend, denn Roberts ist ein ebenso leidenschaftlicher Lobbyist der Riffe wie es Tim Dee bei den Vögeln und Merlin Sheldrake bei den Pilzen ist.
Zum anderen eröffnet auch er hier eine Welt, die den meisten Menschen notgedrungen verschlossen bleibt. Wenn die Korallenriffe aber überhaupt noch eine Überlebenschance haben sollen, darf ihr Niedergang nicht unter der Wasseroberfläche verborgen bleiben, der sich in Jahren und Jahrzehnten messen lässt. Die Zeit läuft: We are fortunate to live in the greatest period of coral reef growth in planetary history. Yet we might bring it all to an end within the space of a few human generations.
Korallenriffe sind in ihrer Komplexität schwer zu entschlüsseln sind, bleiben aber wenigstens am Platz. Die australische Autorin Rebecca Giggs fokussiert in Fathoms. The World in the Whale auf Tiere, auf denen ebenfalls ganze Ökosysteme basieren – wenn auch der mobilen Art. Hier geht es um die biologisch einzigartigen und dank ihres Charismas für die Umweltbewegung ikonischen Wale, deren Einfluss sich Ozeane erstreckt.
Neu war für mich, dass auch Wale als Organismus kaum zu fassen sind. Die immense Größe macht den Unterschied, wie Giggs erfährt, als sie mit einem Fachmann das langsame Sterben eines gestrandeten Wals diskutiert, das sich nur schwer beschleunigen lässt. Denn Herz und Hirn des Wals liegen so weit auseinander, dass die Auswirkungen eines tödlichen Bolzenschusses in eines der Organe das andere nur zeitverzögert erreichen würden. Ein Ausbluten wiederum könnte Tage dauern und würde ein Schlachtfeld hinterlassen.
Und der Green Dream, ein starkes Barbiturat würde zwar den Wal erlösen, aber als tödliches Risiko für Aasfresser und andere ins Ökosystem einsickern. Hier habe sie angefangen, über den Walkörper nachzudenken als etwas, wo Sterben an mehreren Stellen und über unterschiedliche Zeitspannen stattfindet. Der Anfang vom Ende ist dann häufig Müll des Menschen, wenn etwa Fischernetze in Walmägen landen oder Chemikalien wie Düngemittel und Pestizide im Walfett lagern, um dann über die Milch der Weibchen auch die Jungen zu vergiften.
Giggs zeichnet in ihrem Ausnahmebuch viele Verbindungen zwischen Mensch und Wal nach, dem tierischen Ökosystem, das wir seit Jahrhunderten verehren und erforschen, vor allem aber ausschlachten. People of the nineteenth century – across an array of classes, professions, and life stages – dressed in, slept, and dreamt on the stuff of whales; they cooked with, played with, desired with, and made art from, looked through, healed with, explored….In the ordinary course of life, they were almost constantly in contact with whale-gleaned products, in much the same way as most people today are never far from plastic object.
Der Verlust von Walen dezimiert aber nicht nur deren Bestände, sondern wirkt sich großflächig auf die marine Biodiversität aus. The world in a whale lautet der Untertitel des Buches und ließe sich damit ergänzen, dass mit jedem Wal auch eine Welt untergeht. Wenn zu viele Wale eines unnatürlichen Todes sterben, macht sich das sogar in der Tiefe bemerkbar. Denn hier befinden sich hunderte Arten von whalefalls. Das ist das Absinken eines Walkadavers, der auf jeder Station dieser oft wochenlangen Reise Überleben bietet, wo es sonst kaum Nahrung gibt.
Schöner als Giggs kann keiner über Verrottung schreiben und über Leben, das dem Kadaver entspringt. Am Meeresboden tunnelt der Schleimaal glitschige Gänge ins Aas und ein Teppich weißer Würmer wächst. Muscheln, Krabben und Schnecken, auch die sogenannte „Rotzblume“ Osedax, ein hochspezialisierter Wurm, der das Mark über wurzelartige Ausläufer aus den Knochen saugt. Es kann ein Jahrhundert dauern, bis der Kadaver durch Tiere zerlegt wurde, die nur auf toten Walen und manchmal nur auf einer einzigen Walart leben können.
Was bedeutet also ein toter Wal für diesen extremen Lebensraum? In undersea sites bereft of seasons (as we are wont to understand the seasons), a whalefall is tantamount to springtime – a fountain of life; spectacular, then squalid. Und warum auch nicht? Wenn wir schon vertraut eng gesteckte Definitionen von Leben aufweichen müssen, wenn maßgeschneiderte Zerstörung erwünscht ist, aber die Fragilität der Korallenriffe unerwartet jedes Maß übersteigt, kann der Frühling doch auch dunkel und kalt sein und aus der Zeit gelöst entspringen.